Entscheidungsstichwort (Thema)
Zugang zur KVdR. Vorversicherungszeit. Neun-Zehntel-Belegung. Verfassungswidrigkeit. Beschluss des BVerfG vom 15.3.2000. Weiteranwendungsausspruch. Rentenantragsteller des Jahres 1993. Erstreckung auch auf Rentenantragsteller der Folgejahre
Leitsatz (amtlich)
Nach der Entscheidung des BVerfG vom 15.3.2000 (BVerfGE 102, 68 = SozR 3-2500 § 5 Nr 42) zur KVdR (§ 5 Abs 1 Nr 11 Halbs 1 SGB 5)durften die Krankenkassen diese Vorschrift trotz ihrer Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz in vollem Umfang bis zu einer gesetzlichen Neuregelung, längstens bis 31.3.2002 weiter anwenden.
Normenkette
SGB V § 5 Abs. 1 Nr. 11 Hs. 1; GRG Art. 56 Abs. 3 Hs. 1; GG Art. 3 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 19. November 2003 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten im Ausgangsverfahren um die Beitragshöhe in der freiwilligen Krankenversicherung für die Zeit von März 1995 bis März 2002.
Der 1937 geborene Kläger war bei der beklagten Krankenkasse beschäftigt, wegen Überschreitens der Jahresarbeitsentgeltgrenze nicht versicherungspflichtig, jedoch freiwilliges Mitglied der Beklagten. Als solches wurde er weitergeführt, als ihm die Bundesversicherungsanstalt für Angestellte (BfA) ab Oktober 1994 Rente bewilligt hatte, er aber die Vorversicherungszeit einer Pflichtversicherung für eine Mitgliedschaft in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) nicht erfüllte. Die Beklagte stufte den Kläger in eine Beitragsklasse ein, in der sie nach monatlichen Einnahmen von 5.499,54 DM einen Monatsbeitrag von 705 DM erhob. In den 5.499,54 DM waren 2.440,83 DM Rente, 2.635,67 DM Ruhegeldzuschuss seiner früheren Arbeitgeberin und ein Zwölftel einer jährlichen Sonderzuwendung enthalten. Widerspruch und Klage, mit denen der Kläger hauptsächlich eine Benachteiligung gegenüber versicherungspflichtigen Rentnern geltend machte, sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫vom 29. Juli 1997). Das Berufungsverfahren vor dem Landessozialgericht (LSG) hat zunächst geruht, ist aber nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur KVdR vom 15. März 2000 (BVerfGE 102, 68 = SozR 3-2500 § 5 Nr 42) wieder aufgenommen worden. Vor dem LSG hat der Kläger zuletzt beantragt, das Urteil des SG aufzuheben, die Bescheide zu ändern und die Beklagte zu verurteilen, ihm zu Unrecht erhobene Beiträge im Zeitraum vom 3. März 1995 bis 31. März 2002 in Höhe von 8.295,48 € (16.495,73 DM) zu erstatten. Das LSG hat die Berufung mit Urteil vom 19. November 2003 zurückgewiesen. Es hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen richtet sich die Beschwerde des Klägers.
Entscheidungsgründe
II
Die Beschwerde ist, ihre Zulässigkeit unterstellt, jedenfalls unbegründet.
- Die Beschwerde macht von den Revisionszulassungsgründen des § 160 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) allein denjenigen der Nr 1, nämlich die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache geltend. Eine solche Bedeutung misst der Senat dem vorliegenden Verfahren, in dem es um Beiträge für die Zeit von März 1995 bis März 2002 geht nicht zu. Er hält für diesen Zeitraum die Rechtsfragen über den Zugang zur KVdR und zur unterschiedlichen Beitragsbelastung von pflichtversicherten und freiwillig versicherten Rentnern für geklärt. Denn dazu sind die Entscheidung des BVerfG vom 15. März 2000 (BVerfGE 102, 68 = SozR 3-2500 § 5 Nr 42) und das Urteil des Senats vom 7. Dezember 2000 (SozR 3-2500 § 5 Nr 44) ergangen. Weiteren Klärungsbedarf sieht der Senat aus Anlass des vorliegenden Verfahrens nicht.
- Die Beschwerde geht davon aus, dass dem BVerfG bei seiner Entscheidung der Fall eines Rentenantragstellers des Jahres 1994 (wie beim Kläger des vorliegenden Verfahrens) nicht vorgelegen habe, sondern das BVerfG nur für Rentenantragsteller des Jahres 1993 (sog Überleitungsfälle) befunden habe. Dieses trifft nicht zu. Hätte das BVerfG nur für Rentenantragsteller des Jahres 1993 entscheiden wollen, so hätte es sich auf die Nichtigerklärung des Art 56 Abs 3 Halbsatz 1 des Gesundheits-Reformgesetzes idF des Gesundheitsstrukturgesetzes (GSG; Nr 3 der Entscheidungsformel in BVerfGE 102, 68, 69) beschränkt. Die darüber hinausgehende Unvereinbarkeitserklärung des § 5 Abs 1 Nr 11 Halbsatz 1 des Fünften Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung (SGB V) mit dem Weiteranwendungsausspruch (Nrn 1 und 2 der Entscheidungsformel aaO) ergibt vielmehr, dass das BVerfG seine Entscheidung auch auf Rentenantragsteller der Folgejahre erstreckt hat. Dieses wird durch den im Urteil des Senats vom 7. Dezember 2000 (SozR 3-2500 § 5 Nr 44 S 195) dargestellten Hergang jenes Verfahrens bestätigt. Beim BVerfG ist demnach eine Vorlage des Senats zu einem Rentenantragsteller des Jahres 1994 anhängig gewesen, und das BVerfG hat darüber in seiner Entscheidung vom 15. März 2000 (BVerfGE 102, 68 = SozR 3-2500 § 5 Nr 42) inhaltlich mitentschieden, ohne diese Vorlage allerdings förmlich in seine Entscheidung einzubeziehen. Aus dem Urteil des Senats vom 7. Dezember 2000 (SozR 3-2500 § 5 Nr 44) ergibt sich sodann, dass die Rentenantragsteller dieses Jahres (1994) die beitragsrechtlichen Nachteile einer freiwilligen Versicherung bis zu einer gesetzlichen Neuregelung, längstens bis zum 31. März 2002 hinzunehmen hatten. Hierzu wirft die Beschwerde eine anhand des vorliegenden Verfahrens neue oder erneut in einem Revisionsverfahren klärungsbedürftige Rechtsfrage nicht auf.
- Etwas anderes ergibt sich nicht aus dem Vorbringen der Beschwerde, der Kläger habe am 7. August 2000 mit dem zuständigen Senat des BVerfG telefoniert, und man habe die Ansicht geäußert, dass auf den Kläger nicht weiterhin § 5 Abs 1 Nr 11 SGB V idF des GSG angewandt werden könne. Abgesehen davon, dass dieses vom LSG nicht festgestellt worden ist, kann der Senat sich nur an die veröffentlichte Entscheidung des BVerfG vom 15. März 2000 (BVerfGE 102, 68 = SozR 3-2500 § 5 Nr 42) halten. Danach konnte § 5 Abs 1 Nr 11 Halbsatz 1 SGB V idF des GSG längstens bis zum 31. März 2002 weiter angewendet werden. Eine Unterscheidung zwischen Rentnern, die geklagt hatten und solchen, die nicht geklagt hatten, vermag der Senat der Entscheidung des BVerfG für den Personenkreis, zu dem der Kläger gehört (Rentenantragsteller ab 1994), nicht zu entnehmen (vgl BVerfGE 102, 68, 97/99 = SozR 3-2500 § 5 Nr 42 S 192/193 unter C.I. der Gründe).
- Die Beschwerde wirft weiter folgende Rechtsfrage auf: “Sind Sozialleistungsträger nach § 2 Abs 2 SGB I sowie aus Treu und Glauben heraus von sich aus verpflichtet, im Rahmen ihrer Gestaltungshoheit und ihrer Gestaltungsfreiheit die nachteiligen Folgen einer verfassungswidrigen, aber nicht nichtigen Norm zugunsten der Versicherten unverzüglich für die Zukunft zu beseitigen und auch für die Vergangenheit, soweit die Bescheide nicht bestandskräftig sind, auch wenn das BVerfG eine weitere Anwendung ausnahmsweise erlaubt?” Diese Frage ist zu verneinen, ohne dass dieses der Klärung in einem Revisionsverfahren bedarf. Die Krankenkassen durften nach der Weitergeltungsklausel in der Entscheidung des BVerfG das bisherige Recht in vollem Umfang einstweilen weiterhin anwenden. Trotz der Unvereinbarerklärung blieb die beanstandete Regelung für eine Übergangszeit nicht nur formell, sondern auch materiell mit allen Konsequenzen in Kraft. Die Beschwerdebegründung legt auch nicht im Einzelnen dar und der Senat vermag nicht zu erkennen, wie dieses durch Satzungsrecht oder – ohne Verletzung von Gesetzes- oder Satzungsrecht – beim Kläger hätte geschehen können. Die von der Beschwerde beanstandete Ungleichbehandlung zwischen versicherungspflichtigen und freiwillig versicherten Rentnern im Beitragsrecht beruhte auf gesetzlichen Regelungen zum Zugang zur KVdR (Vorversicherungszeit), zur Art der beitragspflichtigen Einnahmen (§ 237 SGB V im Vergleich zu § 240, 243, 247, 248 SGB V) und zu unterschiedlichen Beitragssätzen (§§ 241, 243, 247, 248 SGB V). Diese hatte die Beklagte zu beachten, solange sie noch anwendbar, nicht geändert waren und die vom BVerfG gesetzte Frist (31. März 2002) noch nicht abgelaufen war.
- Soweit die Beschwerde die grundsätzliche Bedeutung mit einer Verletzung des Art 14 des Grundgesetzes (GG) begründet, der in den Entscheidungen des BVerfG und des Senats (BVerfGE 102, 68 = SozR 3-2500 § 5 Nr 42 und SozR 3-2500 § 5 Nr 44) nicht behandelt sei, kommt der Sache ebenfalls keine grundsätzliche Bedeutung zu. Die Heranziehung von Alterseinkünften wie beim Kläger zu Beiträgen in der gesetzlichen Krankenversicherung verletzt die Eigentumsgarantie nicht. Wenn die Beschwerdebegründung hierzu in den erwähnten Entscheidungen des BVerfG und des Senats Ausführungen vermisst, so beruht dieses darauf, dass eine Verletzung des Art 14 Abs 1 GG nicht ernsthaft in Betracht kam. Mit der Rechtsprechung des BVerfG dazu, dass Abgabepflichten im allgemeinen mit dem GG vereinbar sind, befasst sich die Beschwerde nicht.
- Von einer weiteren Begründung wird nach § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG abgesehen. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 1176598 |
Breith. 2004, 849 |
www.judicialis.de 2004 |