Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensfehler. Erforderlichkeit einer mündlichen Verhandlung
Orientierungssatz
Im sozialgerichtlichen Verfahren ist eine mündliche Verhandlung nicht lediglich dann "erforderlich", wenn nach Ansicht des Gerichts Aussicht auf Erfolg der Klage oder des Rechtsmittels besteht. Ob von einer mündlichen Verhandlung abgesehen und nach § 153 Abs 4 S 1 SGG verfahren werden kann, ist anhand aller zu berücksichtigen Umstände des Falls zu beurteilen. Dabei sind insbesondere die Schwierigkeit des Falles und die Bedeutung von Tatsachenfragen relevant (vgl BSG vom 2.5.2001 - B 2 U 29/00 R = SozR 3-1500 § 153 Nr 13 S 38 und vom 27.12.2011 - B 13 R 253/11 B = juris RdNr 13). Nur wenn bei Abwägung aller zu berücksichtigenden Umstände die Wahl des vereinfachten Verfahrens ohne mündliche Verhandlung unter keinen Umständen zu rechtfertigen ist, liegt ein Verstoß gegen § 153 Abs 4 S 1 SGG vor (vgl BSG vom 18.6.2019 - B 9 V 38/18 B = juris RdNr 10).
Normenkette
SGG § 124 Abs. 1, § 153 Abs. 4 S. 1, § 160 Abs. 2 Nrn. 1, 3, § 160a Abs. 2 S. 3
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 5. Oktober 2022 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.
Gründe
I. Der Kläger begehrt die Leistung einer Altersrente für langjährig Versicherte.
Der 1952 geborene Kläger war in der Zeit ab dem 1.10.1970 als Beamter im Polizeidienst des Landes Nordrhein-Westfalen tätig, bis er aufgrund von Dienstunfähigkeit mit Ablauf des 31.8.1988 in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde. Mit Urteil vom 5.8.2013 verurteilte ihn das Landgericht A zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zwei Jahren und elf Monaten. In der Folge stellte das Landesamt für Besoldung und Versorgung die Zahlung der Versorgungsbezüge ab dem Eintritt der Rechtskraft des Urteils am 9.10.2013 ein. Für die aktive Dienstzeit vom 1.10.1970 bis zum 31.8.1988 wurde der Kläger in der gesetzlichen Rentenversicherung nachversichert.
Einen im Dezember 2015 gestellten Antrag auf Gewährung einer Altersrente für besonders langjährig Versicherte lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, der Kläger habe die Wartezeit nicht erfüllt. Im Versicherungskonto seien anstatt der dafür erforderlichen 540 nur 245 Kalendermonate gespeichert (Bescheid vom 4.3.2016; Widerspruchsbescheid vom 24.2.2017).
Mit seinem Vorbringen, seine Zeit als Ruhestandsbeamter müsse als Wartezeit für eine Altersrente für besonders langjährig Versicherte berücksichtigt werden, ist der Kläger auch im Klageverfahren ohne Erfolg geblieben (Urteil vom 1.3.2018). Das LSG hat ebenfalls einen Anspruch auf Gewährung einer Altersrente für besonders langjährig Versicherte verneint und die Berufung zurückgewiesen. Der Kläger sei lediglich für die Zeit seiner Tätigkeit als Polizeibeamter in der gesetzlichen Rentenversicherung nachversichert worden. Entsprechende Pflichtbeiträge seien im Versicherungsverlauf gespeichert. Für die Zeit nach Versetzung in den Ruhestand wegen Dienstunfähigkeit sei keine Nachversicherung erfolgt. Eine Berücksichtigung dieser Zeit sei zur Erfüllung der Wartezeit für eine Altersente für besonders langjährig Versicherte nach dem SGB VI nicht vorgesehen (Beschluss vom 5.10.2022).
Gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des LSG hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er macht Zulassungsgründe iS von § 160 Abs 2 Nr 1 und 3 SGG geltend.
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig, weil sie nicht in der nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG gebotenen Form begründet ist. Die Beschwerde ist daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 iVm § 169 SGG zu verwerfen.
1. Eine Rechtssache hat nur dann iS des § 160 Abs 2 Nr 1 SGG grundsätzliche Bedeutung, wenn sie eine Rechtsfrage zu revisiblem Recht (§ 162 SGG) aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Zur ordnungsgemäßen Bezeichnung des Revisionszulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung muss der Beschwerdeführer daher eine Rechtsfrage benennen und zudem deren (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (stRspr; zB BSG Beschluss vom 31.7.2017 - B 1 KR 47/16 B - SozR 4-1500 § 160 Nr 30 RdNr 4 mwN). Die Beschwerdebegründung erfüllt diese Anforderungen nicht.
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Der Kläger formuliert als Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, |
"ob Zeiten der Dienstunfähigkeit eines Beamten, während der er Versorgungsleistungen wegen seiner Dienstunfähigkeit erhalten hat, auf die Wartezeit gemäß §§ 38, 236b Abs. 2 S. 1 SGB VI anzurechnen sind, wenn der Beamte zu einem späteren Zeitpunkt vor dem Rentenantrag seine Rechte als Ruhestandsbeamter wegen Straffälligkeit verliert." |
Es kann dahingestellt bleiben, ob der Kläger damit eine abstrakte Rechtsfrage zur Auslegung, zur Anwendbarkeit oder zur Vereinbarkeit konkret bezeichneter revisibler (Bundes-)Normen mit höherrangigem Recht formuliert, an der das Beschwerdegericht die weiteren Voraussetzungen der Grundsatzrüge prüfen könnte (vgl BSG Beschluss vom 22.4.2020 - B 5 R 266/19 B - juris RdNr 5 mwN). Das erscheint zweifelhaft, weil die konkret genannte Vorschrift in § 236b Abs 2 Satz 1 SGB VI sich mit der Wartezeit überhaupt nicht befasst und § 38 SGB VI ebenso wie § 236b Abs 1 Nr 2 SGB VI keinerlei Regelungen dazu enthält, welche Zeiten auf die Wartezeit von 45 Jahren anzurechnen sind.
Soweit es dem Kläger in der Sache darum geht, ob Zeiten des Bezugs beamtenrechtlicher Versorgungsleistungen wegen Dienstunfähigkeit in entsprechender Anwendung von § 51 Abs 3a Satz 1 Nr 3 SGB VI auf die Wartezeit von 45 Jahren für einen Anspruch auf Altersrente für besonders langjährig Versicherte (vgl § 50 Abs 5 SGB VI) anrechenbar sind, hat er jedenfalls die Klärungsbedürftigkeit dieser von ihm sinngemäß aufgeworfenen Rechtsfrage nicht hinreichend dargetan. Der Kläger selbst führt eingehend aus, dass § 51 Abs 3a Satz 1 SGB VI eine Anrechnung von Ruhestandszeiten wegen Dienstunfähigkeit auf die Wartezeit für den Fall eines späteren Ausscheidens aus dem Beamtenverhältnis nicht vorsieht. Von den in der Vorschrift aufgeführten rentenrechtlichen Zeiten seien sie nicht erfasst. Es handele sich um keine Pflichtbeitragszeiten nach § 51 Abs 3a Satz 1 Nr 1 SGB VI, auch lägen keine solchen Zeiten aufgrund von Nachversicherung vor (§ 55 Abs 1 Satz 2 iVm § 185 Abs 2 Satz 1 SGB VI). Der Kläger stellt zudem fest, auch andere gesetzliche Bestimmungen, aus denen sich die Anrechnung von Ruhestandszeiten auf die Wartezeit ergeben könnten, "bestehen ersichtlich nicht". Aus welchen rechtlichen Gründen sich die Frage nach einer die gesetzlichen Regelungen (vgl § 2 Abs 1 Satz 2 SGB I) überschreitenden analogen Anwendung der Bestimmung zur Anrechnung von Zeiten des Bezugs von "Entgeltersatzleistungen der Arbeitsförderung" ernsthaft stellen könnte, erörtert der Kläger im Rahmen seiner Ausführungen zur Klärungsbedürftigkeit nicht. Zwar führt er im Kontext seiner Verfahrensrüge aus, das LSG hätte "Erwägungen zu den rentenrechtlichen Grundsätzen und dem verfassungsgemäßen Gleichheitsgrundsatz" berücksichtigen müssen. Darlegungen, die in substanzieller Argumentation und unter Auswertung vorhandener Rechtsprechung des BVerfG und des BSG zu Art 3 Abs 1 GG (s zu diesen Anforderungen zB BSG Beschluss vom 22.12.2022 - B 5 R 119/22 B - juris RdNr 7, zur Veröffentlichung in SozR 4-1500 § 160a Nr 42 vorgesehen) die Verfassungswidrigkeit der Nichtberücksichtigung von Zeiten des Bezugs von beamtenrechtlichen Versorgungsbezügen bei Dienstunfähigkeit bei der Wartezeit für eine besondere Art der Altersrente aufzeigen würden (vgl auch BSG Beschluss vom 29.4.2020 - B 5 R 281/19 B - juris RdNr 10 mwN), enthalten auch diese Begründungselemente indes nicht. Ebenso wenig untersucht der Kläger näher, inwiefern die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen für die von ihm geforderte Rechtsfortbildung durch die Gerichte im Wege einer Analogie vorliegen (vgl zB BVerfG Beschluss vom 3.4.1990 - 1 BvR 1186/89 - BVerfGE 82, 6, 11 f; s auch BVerfG Beschluss vom 30.3.1993 - 1 BvR 1045/89 ua - BVerfGE 88, 145, 166 f, zur Notwendigkeit einer sorgfältigen Begründung für eine Rechtsfortbildung "praeter legem" sowie allgemein zu den Grenzen vertretbarer Auslegung und zulässiger richterlicher Rechtsfortbildung BVerfG Beschluss vom 25.1.2011 - 1 BvR 918/10 - BVerfGE 128, 193, 209 f).
2. Der Kläger hat auch einen Verfahrensfehler iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nicht den Anforderungen des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG entsprechend bezeichnet. Aus der Beschwerdebegründung geht nicht hervor, dass die Entscheidung des Berufungsgerichts, nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG vorzugehen, ermessensfehlerhaft war. Nach dieser Vorschrift kann das LSG, außer in den Fällen des § 105 Abs 2 Satz 1 SGG, die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Ein solches Vorgehen steht in dessen pflichtgemäßem Ermessen ("kann"). Der Kläger hat nicht hinreichend vorgetragen, dass das Berufungsgericht von seinem Ermessen fehlerhaft Gebrauch gemacht hat, weil seiner Beurteilung sachfremde Erwägungen oder eine grobe Fehleinschätzung zugrunde liegen (stRspr; vgl BSG Beschluss vom 21.10.2021 - B 5 R 51/21 B - juris RdNr 4; BSG Beschluss vom 14.3.2019 - B 5 R 22/18 B - juris RdNr 45; BSG Beschluss vom 23.3.2018 - B 1 KR 80/17 B - juris RdNr 8).
Zu Recht hebt der Kläger allerdings die Bedeutung der mündlichen Verhandlung hervor, aufgrund der die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit regelmäßig entscheiden (§ 124 Abs 1 SGG). Sie bildet gleichsam das "Kernstück" des gerichtlichen Verfahrens und verfolgt den Zweck, dem Anspruch der Beteiligten auf rechtliches Gehör zu genügen und mit ihnen den Streitstoff erschöpfend zu erörtern. Eine mündliche Verhandlung ist nach dieser Konzeption des Gesetzes nicht lediglich dann "erforderlich", wenn nach Ansicht des Gerichts Aussicht auf Erfolg der Klage oder des Rechtsmittels besteht. Ob von einer mündlichen Verhandlung abgesehen und nach § 153 Abs 4 Satz 1 SGG verfahren werden kann, ist anhand aller zu berücksichtigenden Umstände des Falles zu beurteilen. Dabei sind insbesondere die Schwierigkeit des Falles und die Bedeutung von Tatsachenfragen relevant (vgl bereits BSG Urteil vom 2.5.2001 - B 2 U 29/00 R - SozR 3-1500 § 153 Nr 13 S 38; BSG Beschluss vom 27.12.2011 - B 13 R 253/11 B - juris RdNr 13). Nur wenn bei Abwägung aller zu berücksichtigenden Umstände die Wahl des vereinfachten Verfahrens ohne mündliche Verhandlung unter keinen Umständen zu rechtfertigen war, liegt ein Verstoß gegen § 153 Abs 4 Satz 1 SGG vor (vgl auch BSG Beschluss vom 18.6.2019 - B 9 V 38/18 B - juris RdNr 10). Dass dies hier der Fall war, hat der Kläger nicht aufgezeigt.
Der Kläger macht geltend, das LSG habe die Schwierigkeit des Falles und die Komplexität der zu treffenden Entscheidung falsch eingeschätzt. Er gibt die wesentlichen Entscheidungsgründe des Berufungsgerichts wieder, wonach Zeiten der Dienstunfähigkeit für die Erfüllung der Wartezeit nicht berücksichtigt werden könnten. Außerdem trägt er vor, das LSG habe eine "Lücke" im System des gesetzlich normierten Rentenversicherungsrechts und "die damit eventuell erforderlich werdende richterliche Rechtsfortentwicklung" verkannt, weil ein später ausgeschiedener Beamte während der Dienstunfähigkeit Leistungen erhalten habe, die auch im Hinblick auf Art 3 Abs 1 GG wie Entgeltersatzleistungen rentenbegründend berücksichtigt werden müssten, um eine "systemwidrige Versorgungslücke" zu vermeiden. Damit wiederholt er die im Berufungsverfahren von seinem Prozessbevollmächtigten bereits schriftlich vorgetragene Rechtsauffassung, zeigt aber nicht auf, inwiefern im Hinblick darauf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zwingend geboten war. Soweit der Kläger zudem anführt, das LSG habe seine Rechtsauffassung geändert und entgegen früherer Aussagen nicht nur auf die fehlende Nachversicherung, sondern zusätzlich auf weitere "Gerechtigkeitserwägungen" abgestellt, ergibt sich daraus ebenfalls keine grobe Fehleinschätzung des LSG bei der Entscheidung, das Verfahren ohne mündliche Verhandlung abzuschließen.
Schließlich wird auch nicht ausreichend erläutert, inwiefern die Verfahrensdauer und die "soziale Bedeutung" der beantragten Rente für den Verbleib des Klägers in seinem Lebenskreis sowie für den Erhalt seines Lebensstandards eine mündliche Verhandlung als zwingend geboten erscheinen lassen musste. Allerdings kann es angesichts einer besonders langen Verfahrensdauer nahe liegen, die Sach- und Rechtslage mit den Beteiligten im Rahmen einer mündlichen Verhandlung abschließend zu erörtern (zu einer Verfahrensdauer in der Berufungsinstanz von mehr als sechs Jahren vgl BSG Beschluss vom 10.11.2022 - B 5 R 110/22 B - juris RdNr 14). Dass hier nach dem konkreten Verlauf des Berufungsverfahrens eine vergleichbare Situation vorlag, hat der Kläger nicht aufgezeigt. Er behauptet lediglich pauschal eine "außergewöhnlich lange Dauer des Verfahrens" und führt aus, die Aufhebung des vom LSG für den 2.8.2022 bereits anberaumten Erörterungstermins wegen eines bis dahin unbekannten Wohnsitzwechsels des Klägers sei unbeachtlich, zumal wegen der Beschränkung auf zu klärende Rechtsfragen auch dessen Anwesenheit bei einer mündlichen Verhandlung nicht erforderlich gewesen wäre. Daraus wird nicht erkennbar, dass eine mündliche Verhandlung zwingend geboten war, weil noch weitere Tatsachen hätten ermittelt bzw erörtert werden müssen oder weil bis dahin noch keine ausreichende Gelegenheit bestand, sich im Berufungsverfahren zu den rechtlichen Gesichtspunkten zu äußern (vgl hierzu auch BSG Beschluss vom 21.10.2021 - B 5 R 51/21 B - juris RdNr 6).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
Fundstellen
Dokument-Index HI15796713 |