Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung der Sachaufklärungspflicht. Osteuropäer. Anspruch auf persönliche Untersuchung bzw Begutachtung durch einen deutschen Arzt
Orientierungssatz
Zur Zulassung der Revision durch das BSG bei begründeter Rüger der Verletzung der Sachaufklärungspflicht durch eine nicht hinreichend begründete Ablehnung eines schriftlich gestellten Antrages eines in Osteuropa lebenden Bürgers mit Anspruch nach dem BVG, ihn durch einen deutschen Arzt persönlich untersuchen und begutachten zu lassen.
Normenkette
SGG § 103; BVG §§ 64, § 64ff, § 1
Verfahrensgang
LSG Nordrhein-Westfalen (Entscheidung vom 25.10.1990; Aktenzeichen L 7 V 61/90) |
Gründe
Der 1927 geborene Kläger begehrt aufgrund eines Antrages vom Juli 1985 Versorgung nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) wegen der Folgen einer als Soldat im Zweiten Weltkrieg erlittenen Kopfverletzung. Der Antrag wurde abgelehnt (Bescheid vom 13. November 1986, Widerspruchsbescheid vom 8. Dezember 1987), die Klage abgewiesen (Urteil des Sozialgerichts (SG) vom 28. November 1989). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen, soweit sie diese Versorgung betrifft (Urteil vom 25. November 1990). Das Gericht ist zwar von der glaubhaften Angabe des Klägers ausgegangen, daß er am 29. April 1945 in der Nähe von Potsdam durch einen sowjetischen Granatsplitter am Kopf verletzt wurde. Aber Folgen dieser Schädigung, die eine Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um wenigstens 25 vH bedingten, hat es nicht festgestellt. Das ergebe sich aus den versorgungsärztlichen Gutachten, in denen Befunde aus Polen verwertet wurden. Auch aus einem polnischen Rentenversicherungsgutachten vom 22. Mai 1985 sei nichts über fortdauernde Auswirkungen einer Schädelverletzung zu erkennen. Vielmehr erklärten die Hirngefäßsklerose und Kreislaufinsuffizienz, die darin beschrieben werden, die Kopfschmerzen und Schwindelerscheinungen des Klägers.
Der Kläger rügt mit seiner Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision eine Verletzung der Sachaufklärungspflicht. Seinem schriftlichen Antrag, ein Gutachten aufgrund einer Untersuchung durch einen deutschen Arzt einzuholen, sei ohne hinreichende Begründung nicht stattgegeben worden.
Die Beschwerde ist begründet. Die Revision ist zuzulassen.
Das LSG hat, wie der Kläger formgerecht gerügt hat, seinen zweimal schriftlich gestellten Antrag, ihn durch einen deutschen Arzt untersuchen und begutachten zu lassen, ohne hinreichende Begründung übergangen (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 iVm § 103, § 160a Abs 2 Satz 3 Sozialgerichtsgesetz -SGG-). Ein Gericht der Tatsacheninstanz darf sich unter Umständen mit der Verwertung versorgungsärztlicher Gutachten begnügen und auf eine gerichtliche Sachaufklärung verzichten. Eine solche Tatsachengrundlage war aber bei den in diesem Fall gegebenen Verhältnissen nicht ausreichend. Das Revisionsgericht ist an der Prüfung der Voraussetzung dieses Verfahrensmangels nicht dadurch gehindert, daß die Beschwerde nicht auf ein Überschreiten der Grenzen des freien richterlichen Beweiswürdigungsrechts gestützt werden kann (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 iVm § 128 Abs 1 Satz 1; BSG SozR 1500 § 160 Nr 49).
Dem LSG hätte sich aufdrängen müssen, den Kläger antragsgemäß durch einen deutschen Arzt persönlich untersuchen und begutachten zu lassen. Dies wäre auch in diesem Fall ebenso wie in vielen anderen möglich gewesen, da Bürger aus Polen seit langem ins Bundesgebiet ausreisen dürfen. Abweichend von manchen anderen Fällen hätte ein Psychiater und Neurologe, eventuell gemeinsam mit einem Chirurgen und Röntgenologen, selbst untersuchen müssen, welche Gesundheitsstörungen im Kopfbereich, insbesondere im Gehirn, beim Kläger bestehen. Nur aufgrund umfassender und sehr genauer einschlägiger Untersuchungen könnte er selbst beurteilen, ob die festgestellten Gesundheitsstörungen wahrscheinlich durch die als nachgewiesen angenommene Schädelverletzung verursacht worden sind. Die gutachtliche Auswertung der in Polen entstandenen Befundbeschreibungen durch Versorgungsärzte genügte nicht. Das gilt in der Regel beim Streit um Auswirkungen einer Kopfverletzung. In diesem Fall war ein solches Gutachtenverfahren zudem aus besonderen Gründen erforderlich. Von den beiden beteiligt gewesenen Ärzten der Versorgungsverwaltung ist einer Röntgenologe und der andere Chirurg; sie sind also von Fachgebieten mindestens nicht allein zuständig für die Beurteilung der umstrittenen Anspruchsvoraussetzung (§ 1 Abs 1 und 3 Satz 1, § 30 Abs 1, § 31 Abs 1 und 2, §§ 64 ff BVG). Außerdem ist die Abgrenzung der erst 1985 im Rentenversicherungsverfahren festgestellten Sklerose und Kreislaufinsuffizienz, die Schwindelerscheinungen und Kopfschmerzen erklären sollen, von umstrittenen Hirnverletzungsfolgen, die gleiche Beschwerden verursachen können, selbst für Psychiater und Neurologen sehr schwierig und ohne eine persönliche Untersuchung nicht hinreichend zu klären. Das ist dem Senat aus einer Vielzahl von Rechtsstreitigkeiten bekannt (vgl auch Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz, herausgegeben vom Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, 1983, S 14 f).
Es ist nicht ausgeschlossen, daß eine zureichende Begutachtung aufgrund fachärztlicher Untersuchungen durch einen Sachverständigen in Deutschland Schädigungsfolgen in einem Ausmaß ergibt, das eine MdE um mindestens 25 vH bedingt.
Fundstellen