Entscheidungsstichwort (Thema)
Auslegung eines Berichtigungsbegehrens als Berufung
Leitsatz (amtlich)
Zur Auslegung eines ein Berichtigungsbegehren enthaltenden Schriftsatzes als Berufung.
Normenkette
SGG §§ 151, 160 Abs. 2 Nr. 3
Verfahrensgang
LSG Rheinland-Pfalz (Beschluss vom 02.02.2007; Aktenzeichen L 1 AL 87/06) |
SG Speyer (Urteil vom 28.11.2002; Aktenzeichen S 4 AL 83/01) |
Tatbestand
Die Klägerin begehrt höheres Arbeitslosengeld (Alg).
Das Sozialgericht (SG) hat die auf höheres Alg ab 1. November 2000 gerichtete Klage mit Urteil vom 28. November 2002, den Bevollmächtigten der Klägerin zugestellt am 23. Dezember 2002, abgewiesen.
Mit Schreiben vom 30. Dezember 2002, eingegangen beim SG am 3. Januar 2003, machte die Klägerin selbst geltend, das Urteil enthalte mehrere unzutreffende Angaben. Innerhalb dieses Schreibens führte die Klägerin auch aus, sie bitte um Zusendung des Urteils in berichtigter Form, "falls ich in Berufung gehe". Der zuständige Richter des SG antwortete der Klägerin mit Schreiben vom 8. Januar 2003, eine Berichtigung des Urteils komme nicht in Frage; er stelle anheim, die Rechtsmittelbelehrung zu beachten.
Mit Schriftsatz vom 14. Januar 2003, eingegangen beim SG am 15. Januar 2003, erklärten die Prozessbevollmächtigten der Klägerin, es werde auf Wunsch der Mandantin um "Berichtigung der Arbeitszeit auf Seite 5 des Urteils" gebeten, "soweit dies notwendig ist". Der Richter antwortete mit Schreiben vom 16. Januar 2003, das Urteil enthalte ausdrücklich zutreffende Angaben und er halte daher eine "Berichtigung" nicht für erforderlich.
Eine Kopie des gerichtlichen Schreibens vom 16. Januar 2003 reichte die Klägerin am 4. März 2003 versehen mit handschriftlichen Einwendungen ihrerseits beim SG ein. Der Richter wandte sich daraufhin mit Schreiben vom 5. März 2003 an die Prozessbevollmächtigten der Klägerin mit der Bitte "um definitive Mitteilung", ob die "Berichtigungsanträge" eine Berufung gegen das Urteil darstellen sollen. Mit Schriftsatz vom 18. März 2003 teilten die Bevollmächtigten der Klägerin bezugnehmend auf die gerichtliche Anfrage vom 5. März 2003 mit, der Schriftsatz der Klägerin vom 16. Januar 2003, welchen diese als Berichtigungsanträge bezeichnet habe, sei als Berufung zu werten. Das SG leitete sodann die Akten dem Landessozialgericht (LSG) "aufgrund hier eingelegter Berufung" zu.
Nachdem vom LSG mit den Beteiligten Schriftverkehr zum Gegenstand des Verfahrens (höheres Alg) geführt worden, zwischenzeitlich das Ruhen des Verfahrens wegen einer ausstehenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) angeordnet und am 28. März 2006 eine Entscheidung des BVerfG ergangen war, beantragten die Bevollmächtigten der Klägerin im Mai 2006, das Verfahren wieder aufzunehmen. Nach weiterem Vortrag der Beteiligten zur Sache teilte der mittlerweile zuständige Berichterstatter den Bevollmächtigten der Klägerin mit Schreiben vom 24. November 2006 mit, er weise darauf hin, dass die Berufung wegen Versäumung der Berufungsfrist unzulässig sei; es sei beabsichtigt, die Berufung als unzulässig zu verwerfen und es werde Gelegenheit zur Stellungnahme gegeben. Innerhalb der gesetzten Äußerungsfrist trugen die Bevollmächtigten der Klägerin vor, diese habe bereits mit ihrem Schreiben vom 30. Dezember 2002 Unrichtigkeiten sowohl im Tatbestand als auch in der rechtlichen Bewertung geltend gemacht; soweit die Eingaben lediglich als Berichtigungsanträge bezeichnet gewesen seien, hätte es eines richterlichen Hinweises bedurft. Der Vorsitzende des erstinstanzlichen Gerichts habe jedoch erst mit Schreiben vom 5. März 2003 einen Hinweis gegeben, ob der Berichtigungsantrag als Berufung zu werten sei. Hilfsweise werde beantragt, der Klägerin Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
Ohne weiteren Schriftverkehr mit den Bevollmächtigten der Klägerin hat sodann das LSG mit dem angefochtenen Beschluss vom 2. Februar 2007 die Berufung verworfen. Es hat ausgeführt, die erst am 20. März 2003 (Schriftsatz des Prozessbevollmächtigten vom 18. März 2003) beim SG eingegangene Berufung sei verspätet. Vor diesem Zeitpunkt habe die Klägerin keine Berufung eingelegt. Die Schreiben der Klägerin vom 30. Dezember 2002 und der Prozessbevollmächtigten vom 14. Januar 2003 könnten nach ihrem objektiven Erklärungswert nicht als Berufung ausgelegt werden. Es handele sich dabei nur um Berichtigungsbegehren und eine Umdeutung in eine Berufung sei grundsätzlich nicht möglich. Auch Gründe für die hilfsweise beantragte Wiedereinsetzung in den vorigen Stand seien nicht gegeben.
Mit der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision macht die Klägerin Verfahrensmängel geltend. Sie rügt Verletzungen der Amtsermittlungs- bzw Aufklärungspflicht und der Hinweispflicht durch das SG und durch das LSG. Die Entscheidung des LSG widerspreche auch dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes. Aus dem mehr als drei Jahre dauernden Verfahren sei zweifelsfrei erkennbar, dass sie nach dem objektiven Erklärungswert ihrer Erklärungen nicht lediglich eine tatsächliche Berichtigung, sondern eine Überprüfung des Urteils in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht habe erreichen wollen.
Entscheidungsgründe
Die Beschwerde ist zulässig und begründet und führt gemäß § 160a Abs 5 Sozialgerichtsgesetz (SGG) zur Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und zur Zurückverweisung an das LSG.
1. Die Beschwerde ist zulässig. Der Beschwerdebegründung kann sinngemäß die Rüge entnommen werden, das LSG habe zu Unrecht statt durch Sachurteil durch Prozessurteil entschieden. Insoweit hat die Beschwerdeführerin den Verfahrensgang nachgezeichnet und geltend gemacht, der Klägerin sei es von Anfang an nicht nur - wie vom LSG angenommen - um Berichtigung, sondern um Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht gegangen. Die den behaupteten Verfahrensmangel ergebenden Tatsachen sind somit hinreichend iS des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG bezeichnet.
2. Die Beschwerde ist auch begründet. Der behauptete Verfahrensmangel liegt vor.
Das LSG ist zu Unrecht davon ausgegangen, die Klägerin habe gegen das ihrem Prozessbevollmächtigten am 23. Dezember 2002 zugestellte Urteil nicht fristgerecht Berufung eingelegt. Denn das als Berufung zu wertende Schreiben der Klägerin vom 30. Dezember 2002 ist noch innerhalb der am 23. Januar 2003 endenden Rechtsmittelfrist eingegangen.
Entgegen der Ansicht des LSG ist das an das SG gerichtete Schreiben der Klägerin vom 30. Dezember 2002 als Berufung iS des § 151 SGG zu werten. Ob eine Berufung eingelegt ist, ist im Wege der Auslegung des entsprechenden Schriftsatzes und der sonst vorliegenden Unterlagen zu entscheiden. Dabei sind, wie auch sonst bei der Auslegung von Prozesserklärungen, alle Umstände des jeweiligen Einzelfalles zu berücksichtigen, die dem Gericht bis zum Ablauf der Rechtsmittelfrist bekannt geworden sind. Als Prozesserklärung muss ein Rechtsmittel sinnvoll und unter Beachtung des Willens des Erklärenden ausgelegt werden, wie er den äußerlich in Erscheinung getretenen Umständen üblicherweise zu entnehmen ist (vgl BSG SozR 4-1500 § 151 Nr 2 RdNr 7; BGH NJW 2002, 1352; Meyer-Ladewig, SGG, 8. Aufl, § 151 RdNr 11 mwN). Ausreichend für die Annahme eines Rechtsmittels ist in der Regel, dass der Kläger seine Unzufriedenheit mit dem Urteil zum Ausdruck bringt (BSG aaO). Bei der Auslegung ist zudem zu beachten, dass das Rechtsstaatsprinzip eine Anwendung des Verfahrensrechts verbietet, das den Beteiligten den Zugang zu den in den Verfahrensordnungen eingeräumten Rechtsmittelinstanzen in unzumutbarer, aus Sachgründen nicht mehr zu rechtfertigender Weise erschwert (BVerfGE 77, 275, 284 mwN; BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 2).
Unter Beachtung dieser Grundsätze hat die Klägerin wirksam Berufung eingelegt. Denn sie hat in ihrem Schreiben vom 30. Dezember 2002 nicht nur Fehler im Tatbestand, nämlich eine Beschäftigung bei der Firma G.-M."seit 17.09.1990" anstatt wie im SG-Urteil festgestellt "18.09.2000" (S 2 und S 5 im Urteilsumdruck) geltend gemacht. Vielmehr hat sie auch (angebliche) inhaltliche Fehler gerügt, nämlich eine Falschberechnung nach Leistungsgruppe "D", die später durch beigefügten Änderungsbescheid vom 20. Februar 2001 durch die Leistungsgruppe "A" zum 1. Januar 2001 korrigiert worden sei. Der Auslegung ihres Schreibens vom 30. Dezember 2002 als Berufung steht auch nicht entgegen, dass sie abschließend um Zusendung des Urteils in berichtigter Form gebeten hat, "falls ich in Berufung gehe". Denn diese Formulierung kann unter Berücksichtigung der sonstigen Umstände auch in dem Sinne zu verstehen sein, die Klägerin wolle dann, wenn die Abhilfe (seitens des SG) nicht zu ihrer Zufriedenheit ausfallen würde ("falls"), zum LSG gehen, dh das Berufungsverfahren beim übergeordneten Gericht auch tatsächlich durchführen. Dies erklärt auch, weshalb das Schreiben der Klägerin an die auch in der Anrede angesprochene Justizangestellte beim SG adressiert war, die die Zustellung des Urteils veranlasst hatte (Schreiben vom 18. Dezember 2002) und nun die "Zusendung des Urteils in berichtigter Form" veranlassen sollte. Insgesamt lässt sich somit unter Berücksichtigung aller Einzelumstände und unter Beachtung der in der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze dem Schreiben vom 30. Dezember 2002 noch der Wille der Klägerin entnehmen, eine Überprüfung der erstinstanzlichen Entscheidung in der Rechtsmittelinstanz zu erreichen.
In Anbetracht der Tatsache, dass - wie in der Rechtsmittelbelehrung ausgeführt - die Berufungsfrist auch dann gewahrt war, wenn die Berufung innerhalb der Monatsfrist beim SG eingelegt worden ist, konnte sich deshalb das SG in seinem direkt an die Klägerin gerichteten Schreiben vom 8. Januar 2003 nicht auf den Hinweis beschränken, eine inhaltliche Berichtigung des Urteils komme nicht in Betracht und es werde anheim gestellt, die Rechtsmittelbelehrung zu beachten. Vielmehr hätte das SG in einem an die Prozessbevollmächtigten gerichteten Schreiben (die in erster Instanz vorgelegte Prozessvollmacht umfasste alle Instanzen) auf eine Klärung hinwirken müssen, ob das Schreiben vom 30. Dezember 2002 eine Berufung gegen das Urteil darstellen solle oder ob es als ausschließliches Berichtigungsbegehren und zusätzlich als bloße Unmutsäußerung zu werten sei. Dies trägt dem Gebot des effektiven Rechtsschutzes Rechnung (vgl BSG SozR 4-1500 § 158 Nr 2) und entspricht im Übrigen auch dem in der Rechtsprechung des BGH, wonach mit Rücksicht auf die schwerwiegenden Folgen eine bedingte und damit unzulässige Berufung nur bei einer jeden vernünftigen Zweifel ausschließenden Deutlichkeit in Betracht kommt (ua Beschlüsse vom 20. Juli 2005 - XII ZB 31/05 - FamRZ 2005, 1537 und vom 18. Juli 2007 - XII ZB 31/07 -, FamRZ 2007, 1726)
Der Auslegung des Schreibens der Klägerin vom 30. Dezember 2002 als Berufung steht auch nicht entgegen, dass die Prozessbevollmächtigten mit Schriftsatz vom 14. Januar 2003 ausdrücklich "auf Wunsch" der Klägerin "um Berichtigung der Arbeitszeit auf S 5 des Urteils" gebeten haben, "soweit dies notwendig ist". Denn dieses Schreiben ist zwar vom SG umgehend mit einem an die Prozessbevollmächtigten gerichteten Schreiben vom 16. Januar 2003 dahingehend beantwortet worden, dass eine "Berichtigung" des Urteils nicht für erforderlich gehalten werde. Doch mit dem Berichtigungsbegehren der Prozessbevollmächtigten und dessen Beantwortung mit Schreiben vom 16. Januar 2003, das am 20. Januar 2003 - also kurz vor Ablauf der Berufungsfrist - bei den Prozessbevollmächtigten der Klägerin eingegangen ist, hat sich das Schreiben der Klägerin vom 30. Dezember 2002 nicht erledigt. Dies gilt umso mehr, als dieses Schreiben und das gerichtliche Antwortschreiben vom 8. Januar 2003 nicht an die Prozessbevollmächtigten der Klägerin zur Kenntnis übersandt worden sind, sodass entgegen der Rechtsansicht des LSG nicht davon ausgegangen werden kann, dass sich das Begehren der Klägerin gemäß Schreiben vom 30. Dezember 2002 unter Berücksichtigung des späteren Schreibens ihrer Prozessbevollmächtigten vom 14. Januar 2003 nur auf ein Berichtigungsbegehren bezogen habe.
Da somit von einer die Berufungsfrist und die übrigen formellen Voraussetzungen (ua Unterschrift der Klägerin) wahrenden Rechtsmitteleinlegung auszugehen ist, kann offen bleiben, ob bei anderer Auslegung des Schreibens vom 30. Dezember 2002 eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht gekommen wäre (vgl zum Gebot des fairen Verfahrens BVerfG NJW 2004, 2149; BSG AP Nr 1 zu § 57 ArbGG 1979). Im Hinblick auf die Zulässigkeit der Berufung erübrigen sich ferner Ausführungen dazu, dass anderenfalls, dh bei Bestätigung der Entscheidung des LSG, auf Grund der langen Dauer des Berufungsverfahrens und der späten Prüfung der Zulässigkeit der Berufung der Klägerin auch der Weg über eine Neuüberprüfung nach § 44 Abs 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) wegen Ablaufs der Vierjahresfrist des § 44 Abs 4 SGB X erschwert wäre.
Bei der erneuten Verhandlung wird das LSG auch zu prüfen haben, ob - wovon es in seiner Entscheidung ausgeht - nur ein Anspruch der Klägerin auf höheres Alg für den Zeitraum vom 1. November 2000 bis 7. Januar 2001 Streitgegenstand ist oder ob es der Klägerin - wie vom SG ohne zeitliche Begrenzung des Anspruchs entschieden und im Schriftsatz vom 18. März 2003 von der Klägerin beantragt - um höhere Leistungen ab 1. November 2000 bis 7. Juli 2002 auf der Grundlage eines höheren Bemessungsentgelts geht (vgl zur Einbeziehung weiterer Leistungsbescheide: BSG SozR 4-1500 § 96 Nr 4).
3. Die Kostenentscheidung unter Einbeziehung der Kosten des Beschwerdeverfahrens bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG im Berufungsverfahren vorbehalten.
Fundstellen
Haufe-Index 1875564 |
SGb 2008, 675 |