Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. Untätigkeitsklage. Antragsunabhängigen Leistungen. Sozialhilfe. Zulässigkeit. Vorheriger Antrag. Nicht erschienener Prozessbeteiligter. Entscheidung nach Aktenlage entscheiden. Anspruch auf rechtliches Gehör. Anordnung des persönlichen Erscheinens. Sachverhaltsaufklärung. Undurchführbares Erscheinen auf eigene Kosten
Leitsatz (redaktionell)
1. Auch bei antragsunabhängigen Leistungen, um die es sich bei Leistungen der Sozialhilfe im Grundsatz handelt, ist eine Untätigkeitsklage nur zulässig, wenn zuvor die Vornahme des Verwaltungsakts bei der Behörde beantragt worden ist.
2. Ist einem Beteiligten das Erscheinen zur mündlichen Verhandlung freigestellt worden, kann das Gericht die mündliche Verhandlung auch ohne den ordnungsgemäß geladenen, aber nicht erschienenen Prozessbeteiligten durchführen oder nach Aktenlage entscheiden, ohne dass dessen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt würde.
3. Die Anordnung des persönlichen Erscheinens kann nur im Ausnahmefall geboten sein, etwa wenn der schriftliche Vortrag eines Beteiligten wegen Unbeholfenheit oder Sprachunkenntnis keine Sachverhaltsaufklärung gewährleistet und ein Erscheinen auf eigene Kosten sich als undurchführbar erweist.
Normenkette
SGG §§ 62, 73 Abs. 4, § 73a Abs. 1 S. 1, §§ 88, 111 Abs. 1, §§ 126, 153 Abs. 5, § 160 Abs. 2; ZPO §§ 114, 121; SGB XII § 18; GG Art. 103 Abs. 1
Verfahrensgang
SG Darmstadt (Entscheidung vom 09.01.2019; Aktenzeichen S 28 SO 151/15) |
Hessisches LSG (Urteil vom 01.07.2020; Aktenzeichen L 4 SO 9/19) |
Tenor
Der Antrag der Klägerin, ihr zur Durchführung des Verfahrens der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 1. Juli 2020 - L 4 SO 9/19 - Prozesskostenhilfe zu bewilligen und einen Rechtsanwalt beizuordnen, wird abgelehnt.
Gründe
I
Im Streit steht noch die Verbescheidung eines Antrags.
Die Klägerin bezieht eine Rente wegen Erwerbsunfähigkeit und erhält vom Beklagten ergänzend Leistungen der Grundsicherung bei Erwerbsminderung nach dem Sozialgesetzbuch Zwölftes Buch - Sozialhilfe - (SGB XII). Sie war seit ca 2003 im Besitz eines Kraftfahrzeugs (Kfz) und erhielt vom Beklagten bis 2012 Kfz-Hilfe als Eingliederungshilfeleistung. Danach lehnte der Beklagte weitere Kfz-Hilfe unter Hinweis auf die zumutbare Nutzung des barrierefreien öffentlichen Personennahverkehrs (ÖPNV) ab. Das vorhandene Kfz wurde Anfang 2013 stillgelegt, die Klägerin erwarb umgehend ein neues Kfz.
Die Klägerin hat im August 2015 Untätigkeitsklage beim Sozialgericht (SG) Darmstadt erhoben, gerichtet auf die Verbescheidung mehrerer Anträge auf Eingliederungshilfe in Form der Kfz-Hilfe, ua Kostenübernahme für eine Kfz-Versicherung, Übernahme laufender Betriebskosten (der Haltung, Inspektion und etwaiger Reparaturen, falls diese anfielen); Kostenübernahme für eine Begleitperson sowie auf "Finanzierung eines Kfz". Nach Erlass mehrerer Bescheide durch den Beklagten hat die Klägerin die Untätigkeitsklage teilweise für erledigt erklärt; noch offen sei ihr Antrag auf "Finanzierung eines Kfz". Die Klage ist erfolgslos geblieben (Gerichtsbescheid des SG vom 9.1.2019; Urteil des Hessischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 1.7.2020). Das LSG hat ausgeführt, es sei nicht nachgewiesen, dass die Klägerin einen Antrag auf Übernahme der Anschaffungskosten für das neue Kfz gestellt habe, weshalb die Untätigkeitsklage unzulässig sei. Insbesondere erbringe ein von der Klägerin im Berufungsverfahren vorgelegter Screenshot, auf dem ein auf den 22.1.2013 datiertes Schreiben teilweise abgebildet sei, den Beweis nicht.
Die Klägerin hat beim Bundessozialgericht (BSG) am 20.7.2020 beantragt, ihr für die Durchführung des Verfahrens der Nichtzulassungsbeschwerde Prozesskostenhilfe (PKH) zu bewilligen und einen Rechtsanwalt beizuordnen.
II
Der Antrag auf Bewilligung von PKH ist nicht begründet. PKH ist nur zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet und nicht mutwillig erscheint (§ 73a Abs 1 Satz 1 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫ iVm § 114 Zivilprozessordnung ≪ZPO≫); daran fehlt es hier. Hinreichende Aussicht auf Erfolg wäre nur zu bejahen, wenn einer der drei in § 160 Abs 2 SGG abschließend aufgeführten Zulassungsgründe durch einen zugelassenen Prozessbevollmächtigten (§ 73 Abs 4 SGG) mit Erfolg geltend gemacht werden könnte; denn nur diese Gründe können zur Zulassung der Revision führen. Dies ist vorliegend nicht der Fall.
Der Rechtssache kommt nach Aktenlage keine grundsätzliche Bedeutung zu (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Es stellen sich keine Fragen grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit den Voraussetzungen einer Untätigkeitsklage (§ 88 SGG, vgl dazu etwa BSG vom 10.3.1993 - 14b/4 REg 1/91 - BSGE 72, 118 = SozR 3-7833 § 6 Nr 2; BSG vom 15.12.1994 - 4 RA 67/93 - BSGE 75, 262 = SozR 3-8560 § 26 Nr 2, juris RdNr 23); insbesondere ist auch bei antragsunabhängigen Leistungen, um die es sich bei Leistungen der Sozialhilfe im Grundsatz handelt (vgl § 18 SGB XII), eine Untätigkeitsklage nur zulässig, wenn zuvor die Vornahme des Verwaltungsakts bei der Behörde beantragt worden ist (vgl zuletzt BSG vom 23.3.2021 - B 8 SO 10/19 R unter Hinweis auf Bundesverwaltungsgericht ≪BVerwG≫ vom 31.8.1995 - 5 C 11/94 - BVerwGE 99, 158 = FEVS 46, 133). Anhaltspunkte dafür, dass eine Divergenzrüge (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) Aussicht auf Erfolg versprechen könnte, bestehen nach dem Vorstehenden ebenso wenig.
Es ist schließlich nach Aktenlage auch nicht erkennbar, dass ein Verfahrensmangel (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 1 SGG) mit Aussicht auf Erfolg geltend gemacht werden könnte. Insbesondere hat das LSG die Klägerin vor der Übertragung der Berufung auf die Berichterstatterin (§ 153 Abs 5 SGG) angehört (zur Notwendigkeit vgl BSG vom 5.2.2019 - B 8 SO 20/18 BH - juris RdNr 6).
Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Klägerin den Verfahrensmangel "Prozessurteil statt Sachurteil" (vgl nur BSG vom 30.10.2007 - B 2 U 272/07 B - SozR 4-1500 § 160a Nr 19 RdNr 6 mwN) geltend machen könnte, weil die Feststellung, die Klägerin habe keinen Antrag gestellt, das Ergebnis der Beweiswürdigung des Berufungsgerichts gewesen ist, deren Fehlerhaftigkeit selbst bei einem Verstoß gegen Denkgesetze bzw die Grenzen freier Beweiswürdigung - wie von der Klägerin in ihrem Schriftsatz vom 17.4.2021 sinngemäß geltend gemacht - der Beschwerde nicht zum Erfolg verhelfen kann. Nach § 160a Abs 2 Satz 3 SGG kann ein Verfahrensmangel nämlich nicht auf eine Verletzung des § 128 Abs 1 Satz 1 SGG gestützt werden (BSG Beschluss vom 26.8.2019 - B 9 V 6/19 B - juris RdNr 10). Ein Beschwerdeführer kann diese gesetzliche Beschränkung der Verfahrensrüge in § 160 Abs 2 Nr 3 SGG auch nicht erfolgreich dadurch umgehen, dass er die Rüge in einen anderen Verfahrensfehler kleidet - hier, dass das LSG zu Unrecht ein Prozessurteil erlassen habe (vgl nur BSG vom 17.3.2021 - B 1 KR 101/20 B - juris RdNr 7; BSG vom 8.5.2017 - B 9 V 78/16 B - juris RdNr 12).
Ebenso wenig liegt ein Verfahrensmangel darin, dass das LSG in Abwesenheit der Klägerin über ihre Berufung mündlich verhandelt und entschieden hat. Ist einem Beteiligten - wie vorliegend der Klägerin - das Erscheinen zur mündlichen Verhandlung freigestellt worden, kann das Gericht die mündliche Verhandlung auch ohne den ordnungsgemäß geladenen, aber nicht erschienenen Prozessbeteiligten durchführen oder nach § 126 SGG nach Aktenlage entscheiden, ohne dass dessen Anspruch auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG; Art 103 Abs 1 Grundgesetz ≪GG≫) verletzt würde (BSG vom 21.6.1983 - 4 RJ 3/83 - juris RdNr 12; BSG vom 30.8.2018 - B 2 U 230/17 B - juris RdNr 5; BSG vom 25.2.2020 - B 13 R 320/18 B - juris RdNr 8). Auf diese Möglichkeit ist die Klägerin in der Ladung auch hingewiesen worden. Es sind keine Umstände ersichtlich, angesichts derer sich das LSG ausnahmsweise zur Vertagung hätte gedrängt fühlen müssen.
Dass das LSG von der Anordnung des persönlichen Erscheinens der Klägerin (§ 111 Abs 1 SGG) abgesehen hat, war ebenfalls nicht verfahrensfehlerhaft. Die Anordnung steht grundsätzlich im Ermessen des Gerichts und lässt ihm einen großen Entscheidungsspielraum (stRspr; vgl BSG vom 15.7.1992 - 9a RV 3/91 - juris RdNr 11; BSG vom 4.5.2017 - B 3 KR 5/17 B - juris RdNr 11; BSG vom 13.11.2017 - B 13 R 152/17 B - juris RdNr 11). Weder Art 103 Abs 1 GG noch § 62 SGG verlangen, dass das Gericht dafür Sorge zu tragen hat, dass jeder Beteiligte auch persönlich vor Gericht auftreten kann. Die Anordnung des persönlichen Erscheinens kann nur im Ausnahmefall geboten sein, etwa wenn der schriftliche Vortrag eines Beteiligten wegen Unbeholfenheit oder Sprachunkenntnis keine Sachverhaltsaufklärung gewährleistet und ein Erscheinen auf eigene Kosten sich als undurchführbar erweist (vgl BSG vom 15.7.1992 - 9a RV 3/91 - juris RdNr 11; BSG vom 13.11.2017 - B 13 R 152/17 B - juris RdNr 11). Ein derartiger Ausnahmefall ist hier nicht ersichtlich. Die Klägerin ist trotz einer gewissen Unbeholfenheit zu schriftlichem Vortrag in der Lage gewesen; sie hat von dieser Möglichkeit, sich Gehör zu verschaffen, auch in jedem Verfahrensstadium ausführlich Gebrauch gemacht, und es spricht nichts dafür, dass ihr schriftsätzliches Vorbringen im konkreten Fall zur Sachaufklärung nicht ausgereicht haben könnte.
Mit der Ablehnung der Bewilligung von PKH entfällt zugleich die Beiordnung eines Rechtsanwalts im Rahmen der PKH (§ 73a Abs 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO).
Fundstellen
Dokument-Index HI14492653 |