Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Verfahrensfehler. rechtliches Gehör. weitere Anhörungsmitteilung nach § 153 Abs 4 S 2 SGG. Einreichung eines neuen ärztlichen Befundberichts. keine wesentliche Änderung der Prozesslage. gerichtliche Würdigung zweier zuvor erstellter Gutachten
Orientierungssatz
1. Hält ein Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem grundsätzlich auch anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einholen zu müssen (vgl BSG vom 6.8.2019 - B 9 V 14/19 B).
2. Aus diesem Grund handelt es sich bei der Vorlage eines weiteren ärztlichen Befundberichts durch den Kläger (verbunden mit einer erneuten Beweisanregung auf weitere gutachterliche Bewertung) nicht ohne Weiteres um einen substanziell neuen Vortrag, der zu einer entscheidungserheblichen Änderung der bisherigen Prozesssituation führt und auf den das LSG nach § 153 Abs 4 S 2 SGG mit einer erneuten Anhörungsmitteilung reagieren muss.
Normenkette
SGG § 153 Abs. 4 Sätze 2, 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3 Hs. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3 Hs. 2, § 160a Abs. 2 S. 3, §§ 103, 118 Abs. 1 S. 1; ZPO § 412 Abs. 1; GG Art 103 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Der Antrag der Klägerin, ihr für das Verfahren der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 5. September 2019 Prozesskostenhilfe zu bewilligen und Rechtsanwalt H. A. als Prozessbevollmächtigten beizuordnen, wird abgelehnt.
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision im vorgenannten Beschluss wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.
Gründe
I. Die Klägerin macht in der Hauptsache einen Anspruch auf Opferentschädigung wegen der Folgen psychischer Traumen als Schädigungsfolgen mit einem Grad der Schädigung (GdS) von 30 nach dem Opferentschädigungsgesetz iVm mit dem Bundesversorgungsgesetz geltend. Diesen Anspruch hat das LSG nach vorheriger Anhörung der Beteiligten vom 8.5.2019 mit Beschluss vom 5.9.2019 verneint. Zwar sei zwischen den Beteiligten das Vorliegen eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs zu Recht unstreitig. Es fehle jedoch daran, dass die Klägerin einen GdS von mindestens 25 erlitten habe, der kausal auf das schädigende Ereignis zurückzuführen sei. Die Klägerin leide nach dem Ergebnis der Beweiserhebung unter einer auf die Gewalttat zurückzuführenden Minderung des sexuellen Erlebens. Diese Schädigungsfolge sei aber lediglich mit einem Einzel-GdS von 10 zu bemessen. Sowohl der vor dem SG gehörte Sachverständige Dr. S. in seinem Gutachten vom 31.8.2015 und in seiner ergänzenden Stellungnahme vom 22.2.2016 als auch der im Berufungsverfahren gehörte Sachverständige Dr. L. in seinem Gutachten vom 15.2.2019 hätten das Vorliegen einer Posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) und einen kausalen Zusammenhang zwischen der erlittenen Gewalttat und der Haarwuchsstörung der Klägerin ausgeschlossen. Der von der Klägerin eingereichte ambulante Befundbericht des Dr. K. vom 8.8.2019, in dem das Vorliegen einer PTBS bejaht werde, ergebe keinen Anlass zu einer weiteren Beweiserhebung.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Beschluss hat die Klägerin Beschwerde zum BSG eingelegt. Zugleich hat sie für dieses Verfahren Prozesskostenhilfe (PKH) unter Beiordnung von Rechtsanwalt H. A. Berlin beantragt. Das LSG habe bei seiner Entscheidung durch Beschluss dem in § 153 Abs 4 Satz 2 SGG gesondert geregelten Anhörungsgebot nicht hinreichend Rechnung getragen. Sie habe nach der Anhörungsmitteilung vom 8.5.2019 einen Befundbericht des Dr. K. vom 8.8.2019 eingereicht, der im Gegensatz zu den vorliegenden Gutachten eine durch die Gewalttat verursachte PTBS bejaht habe. Soweit das LSG dennoch den Gutachten der gehörten Sachverständigen weiterhin hätte folgen und im Beschlussverfahren hätte entscheiden wollen, hätte sie zumindest erneut angehört werden müssen. Zudem sei das von Dr. S. erstellte Gutachten "unbrauchbar". Darüber hinaus hätte auch auf ihre nochmalige Beweisanregung im Schriftsatz vom 16.8.2019, den Kausalzusammenhang zwischen ihrem Haarausfall und der Gewalttat gutachterlich bewerten zu lassen, eine erneute Anhörung erfolgen müssen. Durch die fehlende erneute Anhörung nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG habe das LSG zudem die Grundsätze eines fairen Verfahrens verletzt.
II. 1. Der Antrag der Klägerin auf PKH ist abzulehnen.
Gemäß § 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 114 Abs 1 Satz 1 ZPO kann einem bedürftigen Beteiligten für das Verfahren vor dem BSG nur dann PKH bewilligt werden, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet. Dies ist hier nicht der Fall. Aus diesem Grund kommt die Beiordnung ihres vorgenannten Prozessbevollmächtigten nicht in Betracht (§ 73a Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 121 Abs 1 ZPO).
2. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig. Ihre Begründung vom 15.11.2019 genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil die behaupteten Verfahrensmängel der Verletzung des § 153 Abs 4 Satz 2 SGG und ihres Rechts auf ein faires Verfahren nicht ordnungsgemäß bezeichnet worden sind (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG).
Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde - wie vorliegend - darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel iS von § 160 Abs 2 Nr 3 SGG vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne, müssen zur Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 Satz 3 SGG) die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Darüber hinaus ist die Darlegung erforderlich, dass und warum die Entscheidung des LSG - ausgehend von dessen materieller Rechtsansicht - auf dem Mangel beruhen kann, dass also die Möglichkeit einer Beeinflussung der Entscheidung besteht. Die Geltendmachung eines Verfahrensmangels wegen Verletzung des § 103 SGG (Amtsermittlungsprinzip) kann gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 letzter Teilsatz SGG nur darauf gestützt werden, dass das LSG einem Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist.
Die Klägerin hat den von ihr geltend gemachten Verstoß des LSG gegen § 153 Abs 4 Satz 2 SGG nicht hinreichend bezeichnet.
Gemäß § 153 Abs 4 Satz 1 SGG kann das LSG die Berufung durch Beschluss zurückweisen, wenn es sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält. Nach Satz 2 der Vorschrift sind die Beteiligten vorher zu hören. Die Anhörungspflicht nach § 153 Abs 4 Satz 2 SGG ist Ausdruck des verfassungsrechtlichen Gebots des rechtlichen Gehörs (Art 103 Abs 1 GG), das bei Anwendung des vereinfachten Verfahrens im Berufungsrechtszug nicht verkürzt werden darf (vgl BSG Beschluss vom 25.5.2011 - B 12 KR 81/10 B - juris RdNr 8 mwN).
Nach ständiger Rechtsprechung des BSG ist eine erneute Anhörung gemäß § 153 Abs 4 Satz 2 SGG erforderlich, wenn sich nach der ersten Anhörungsmitteilung die Prozesssituation entscheidungserheblich ändert (vgl zB Senatsbeschluss vom 14.6.2018 - B 9 SB 92/17 B - juris RdNr 6; BSG Beschluss vom 10.10.2017 - B 12 KR 37/17 B - juris RdNr 9; BSG Beschluss vom 20.10.2010 - B 13 R 63/10 B - SozR 4-1500 § 153 Nr 11 RdNr 13; BSG Beschluss vom 15.7.2009 - B 13 RS 46/09 B - juris RdNr 9). Eine neue Anhörung ist auch dann erforderlich, wenn ein Beteiligter nach der Anhörungsmitteilung substantiiert neue Tatsachen vorträgt, die eine weitere Sachaufklärung von Amts wegen erfordern (BSG Beschluss vom 10.10.2017 - B 12 KR 37/17 B - juris RdNr 9). Eine solche neue Prozesssituation, die eine zweite Anhörungsmitteilung des Berufungsgerichts erfordert hätte, hat die Klägerin in der Beschwerdebegründung nicht dargetan.
Sie trägt zwar vor, dass sie nach der Anhörungsmitteilung des LSG vom 8.5.2019 einen Befundbericht des Dr. K. vom 8.8.2019, der bei ihr eine PTBS diagnostiziert habe, zur Akte gereicht und weiteren Beweis angeregt habe. Die Klägerin hat aber nicht aufgezeigt, aus welchem Grund das LSG allein auf die Vorlage dieses ärztlichen Befundberichts und ihre erneute Beweisanregung auf gutachterliche Bewertung eines Kausalzusammenhangs zwischen der erlittenen Gewalttat und der bei ihr bestehenden Alopezie mit einer erneuten Anhörungsmitteilung hätte reagieren müssen. Sie hat nicht dargelegt, dass es sich hier um einen substanziell neuen Vortrag handelt, der zu einer entscheidungserheblichen Änderung der bisherigen Prozesssituation geführt hat.
Zum einen hat die Klägerin ausweislich des angefochtenen Beschlusses des LSG bereits im Verwaltungsverfahren und durchgängig im Gerichtsverfahren unter Berufung ua auf behandelnde Ärzte behauptet, dass bei ihr eine PTBS und eine Alopezie als Folgen der Gewalttat bestünden. Zum anderen hat der vor dem SG gehörte Sachverständige Dr. S. in seinem Gutachten vom 31.8.2015 und seiner ergänzenden Stellungnahme vom 22.2.2016 nach gutachterlicher Untersuchung der Klägerin und Auswertung der aktenkundigen Befunde das Vorliegen einer PTBS und einen Kausalzusammenhang zwischen der erlittenen Gewalttat und der bei der Klägerin bestehenden Alopezie verneint. Sofern die Klägerin das Gutachten des Dr. S. und dessen ergänzende gutachterliche Stellungnahme für "unbrauchbar" hält, reicht die bloße Behauptung nicht aus. Dass das Gutachten des Sachverständigen Dr. S. und dessen ergänzende Stellungnahme "ungenügend" iS des § 118 Abs 1 Satz 1 SGG iVm § 412 Abs 1 ZPO sind, erschließt sich aus der Beschwerdebegründung nicht. Dies wäre auch nur dann der Fall, wenn die Klägerin substantiiert in Auseinandersetzung mit diesem Gutachten nebst ergänzender Stellungnahme und den anderen aktenkundigen medizinischen Befunden, Berichten und Sachverständigengutachten vorgetragen hätte, dass das Gutachten des Sachverständigen Dr. S. und dessen ergänzende gutachterliche Stellungnahme grobe Mängel oder unlösbare Widersprüche enthalten oder von unzutreffenden sachlichen Voraussetzungen ausgehen oder Anlass zu Zweifeln an der Sachkunde des Gutachters geben (vgl Senatsbeschluss vom 25.7.2019 - B 9 SB 31/19 B - juris RdNr 7; Senatsbeschluss vom 21.8.2018 - B 9 V 9/18 B - juris RdNr 11; Senatsbeschluss vom 16.2.2017 - B 9 V 48/16 B - juris RdNr 13, jeweils mwN). Entsprechender qualifizierter Vortrag fehlt jedoch.
Zudem hat der vom Berufungsgericht gehörte Sachverständige Dr. L. in seinem Gutachten vom 15.2.2019, auf das sich das LSG auch nach dem Vortrag der Klägerin ausdrücklich gestützt hat, nach Auswertung der aktenkundigen medizinischen Befunde, Berichte und Gutachten sowie einer psychiatrischen Untersuchung der Klägerin festgestellt, dass diese (lediglich) an einer neurotischen Störung (ua mit histrionischen Anteilen und Fixierung auf Durchsetzung von Entschädigungsansprüchen) leide und infolge der verübten Gewalttat eine Beeinträchtigung der sexuellen Erlebnisfähigkeit mit einem GdS von 10 festzustellen sei. Schließlich zeigt die Klägerin in ihrer Beschwerdebegründung nicht auf, auf welche - neuen oder von den gehörten Sachverständigen Dr. S. und Dr. L. nicht beachteten - medizinischen Befunde, Untersuchungsergebnisse oder Gesichtspunkte sich Dr. K. - neben den Angaben der Klägerin - ausgehend von welchem medizinisch-wissenschaftlichen Erkenntnisstand in seinem Befundbericht für seine Diagnosestellung einer PTBS bezogen hat.
Im Kern wendet sich die Klägerin mit ihrem Vorbringen letztlich gegen die vom LSG in dem angefochtenen Beschluss vorgenommene Auswertung und Würdigung der aktenkundigen medizinischen Befundberichte und Sachverständigengutachten. In einem Nichtzulassungsbeschwerdeverfahren kann jedoch gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbsatz 2 SGG die Richtigkeit der Beweiswürdigung der Vorinstanz (§ 128 Abs 1 Satz 1 SGG) nicht überprüft werden. Die Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Gutachtenergebnissen und Befundberichten gehört zur Beweiswürdigung selbst und damit zu den Kernaufgaben der Tatsacheninstanz (vgl Senatsbeschluss vom 6.8.2019 - B 9 V 14/19 B - juris RdNr 13; Senatsbeschluss vom 17.1.2019 - B 9 SB 4/18 BH - juris RdNr 8; Senatsbeschluss vom 21.8.2018 - B 9 V 9/18 B - juris RdNr 18). Hält ein Gericht eines von mehreren Gutachten für überzeugend, darf es sich diesem grundsätzlich auch anschließen, ohne ein weiteres Gutachten einholen zu müssen (vgl Senatsbeschluss vom 6.8.2019, aaO).
Sofern die Klägerin einen Verstoß des LSG gegen die Grundsätze des fairen Verfahrens rügt, weil sie nicht mit einem Beschlussverfahren nach § 153 Abs 4 SGG ohne eine erneute Anhörungsmitteilung durch das LSG hätte rechnen müssen, hat sie einen solchen Verfahrensmangel nicht hinreichend bezeichnet. Sie hat - wie oben ausgeführt - nicht aufgezeigt, dass sich nach der ersten Anhörungsmitteilung des Berufungsgerichts die Prozesssituation in tatsächlicher und/oder rechtlicher Hinsicht entscheidungserheblich verändert hat.
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).
3. Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI13692179 |