Entscheidungsstichwort (Thema)
Nichtzulassungsbeschwerde. grundsätzliche Bedeutung einer Rechtssache. soziales Entschädigungsrecht. Gewaltopferentschädigung. Versagungsgrund. Verfolgung des Täters einer Straftat. leichtfertige Eingehung einer Gefahr. Leichtfertigkeit. subjektiver Maßstab. tatsachengerichtliche Würdigung. Bindung des Revisionsgerichts. Darlegungsanforderungen
Orientierungssatz
1. Leichtfertigkeit ist im Opferentschädigungsrecht durch einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit gekennzeichnet, der etwa der groben Fahrlässigkeit des Bürgerlichen Rechts entspricht. Im Gegensatz zum Bürgerlichen Recht gilt aber nicht der auf die allgemeinen Verkehrsbedürfnisse ausgerichtete objektiv-abstrakte Sorgfaltsmaßstab des § 276 Abs 2 BGB, sondern ein individueller (subjektiver) Maßstab, der auf die persönlichen Fähigkeiten des Opfers abstellt (vgl BSG vom 21.10.1998 - B 9 VG 6/97 R = BSGE 83, 62 = SozR 3-3800 § 2 Nr 9).
2. Danach ist zu prüfen, ob sich das Opfer auch anders hätte verhalten können oder müssen, weiter, ob es sich der erkannten oder grob fahrlässig nicht erkannten Gefahr nicht entzogen hat, obwohl ihm dies zumutbar gewesen wäre. Dafür ist die gesamte tatnahe Situation, wie sie sich nach natürlicher Betrachtungsweise darstellt, zu würdigen. Ergänzend sind die individuellen Beziehungen zwischen Täter und Opfer zu berücksichtigen (vgl BSG vom 18.4.2001 - B 9 VG 3/00 R = BSGE 88, 96 = SozR 3-3800 § 2 Nr 10 und vom 20.10.1999 - B 9 VG 2/98 R).
3. Die Frage des Vorliegens grober Fahrlässigkeit anhand eines subjektiven Maßstabs (hier im Zusammenhang mit der Verfolgung des Täters einer Straftat durch das spätere Opfer) stellt sich aber als eine der revisionsgerichtlichen Überprüfung weitgehend entzogene tatrichterliche Würdigung dar (vgl stRspr, zB BSG vom 18.4.2001 - B 9 VG 3/00 R aaO und vom 24.10.2011 - B 14 AS 45/11 B).
Normenkette
OEG § 2 Abs. 1 S. 1, § 1; BGB § 276 Abs. 2; StPO § 127 Abs. 1 S. 1; SGG §§ 128, 163, 160a Abs. 2 S. 3, § 160 Abs. 2 Nr. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Berlin-Brandenburg vom 10. Oktober 2017 wird als unzulässig verworfen.
Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Gründe
Der Kläger beansprucht im Rahmen eines Überprüfungsverfahrens eine Rente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) in Verbindung mit dem Bundesversorgungsgesetz nach einem Grad der Schädigungsfolgen von mindestens 30. Das LSG hat einen Anspruch des Klägers verneint (Beschluss vom 10.10.2017). Es sei bereits zweifelhaft, ob der Kläger überhaupt Opfer eines gegen ihn gerichteten vorsätzlichen rechtswidrigen tätlichen Angriffs geworden sei. Dies könne jedoch offenbleiben, weil ein Anspruch schon nach § 2 OEG ausgeschlossen sei. Der Kläger habe sich nämlich grob fahrlässig selbst der Gefahr einer Gewalttat ausgesetzt.
Gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Beschluss hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er beruft sich auf die grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache.
Die Beschwerde des Klägers ist unzulässig. Seine Begründung vom 12.1.2018 genügt nicht der gesetzlich vorgeschriebenen Form, weil der allein geltend gemachte Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG) nicht in der hierfür erforderlichen Weise dargelegt worden ist (§ 160a Abs 2 S 3 SGG).
1. Eine Rechtssache hat nur dann grundsätzliche Bedeutung iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG, wenn sie eine Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts einer Klärung durch das Revisionsgericht bedürftig und fähig ist. Der Beschwerdeführer muss daher anhand des anwendbaren Rechts und unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung angeben, welche Fragen sich stellen, dass diese noch nicht geklärt sind, weshalb eine Klärung dieser Rechtsfragen aus Gründen der Rechtseinheit oder der Fortbildung des Rechts erforderlich ist und dass das angestrebte Revisionsverfahren eine Klärung erwarten lässt. Ein Beschwerdeführer muss daher, um seiner Darlegungspflicht zu genügen, eine Rechtsfrage, ihre (abstrakte) Klärungsbedürftigkeit, ihre (konkrete) Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) sowie die über den Einzelfall hinausgehende Bedeutung der von ihm angestrebten Entscheidung (sog Breitenwirkung) darlegen (zum Ganzen vgl Senatsbeschluss vom 30.11.2017 - B 9 V 35/17 B - Juris RdNr 4; BSG Beschluss vom 2.5.2017 - B 5 R 401/16 B - Juris RdNr 6 mwN). Diesen Anforderungen wird die vorliegende Beschwerdebegründung nicht gerecht.
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Der Kläger meint, dass der Rechtsstreit folgende Rechtsfrage aufwerfe: |
"Ist § 2 Abs. 1 OEG, wonach Leistungen zu versagen sind, wenn der Geschädigte die Schädigung verursacht hat oder wenn es aus sonstigen, insbesondere in dem eigenen Verhalten des Anspruchstellers liegenden Gründen unbillig wäre, Entschädigung zu gewähren, dahingehend auszulegen, dass |
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1) |
allein die Anwesenheit von Polizeibeamten im Rahmen einer politischen Demonstration dazu führt, dass die Aufforderung zum Unterlassen einer fortdauernden Straftat als ein im Verhalten des Antragsstellers liegender Grund zu qualifizieren ist, der eine Leistungsgewährung nach dem OEG ausschließt, wenn dieser anschließend für ihn erkennbar allein aus diesem Grund Opfer einer Körperverletzung wird? |
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2) |
die Verfolgung des Täters durch das Opfer einer vorangegangenen Straftat als ein im Verhalten des Opfers liegender Grund zu qualifizieren ist, der eine Leistungsgewährung nach dem OEG ausschließt, wenn die Verfolgung der Identitätsfeststellung des Täters dient und die Handlung daher als Wahrnehmung des Festnahmerechts nach § 127 Abs. 1 StPO zu bewerten wäre?" |
Der Kläger hat jedoch nicht ausreichend dargelegt, dass die von ihm gestellte jeweilige Rechtsfrage grundsätzliche Bedeutung im oben dargestellten Sinne hat. Er weist selbst auf die zu § 2 Abs 1 OEG ergangene Rechtsprechung des Senats hin, nach der bei einer Selbstgefährdung eine Entschädigung ausgeschlossen ist, wenn das Opfer bei Eingehung der Gefahr "leichtfertig" gehandelt hat; das Opfer sich also einer konkret erkannten Gefahr "leichtfertig" nicht entzogen hat, obwohl es ihm zumutbar und möglich gewesen wäre (vgl Senatsurteil vom 29.3.2007 - B 9a VG 2/05 R - BSGE 98, 178 = SozR 4-3800 § 2 Nr 2 = Juris RdNr 16; Senatsurteil vom 18.4.2001 - B 9 VG 3/00 R - BSGE 88, 96, 99 = SozR 3-3800 § 2 Nr 10 S 46 = Juris RdNr 18; Senatsurteil vom 20.10.1999 - B 9 VG 2/98 R - Juris RdNr 13; Senatsurteil vom 21.10.1998 - B 9 VG 6/97 R - BSGE 83, 62, 67 = SozR 3-3800 § 2 Nr 9 S 41 = Juris RdNr 23). Der Kläger versäumt es jedoch sich ausgehend von den den Senat bindenden Feststellungen des LSG (vgl § 163 SGG) mit dem Begriff der "Leichtfertigkeit" auseinanderzusetzen und daran anknüpfend zu prüfen, ob die von ihm formulierte Rechtsfrage in dem angestrebten Revisionsverfahren überhaupt entscheidungserheblich sein könnte. Leichtfertigkeit ist im Opferentschädigungsrecht durch einen erhöhten Grad von Fahrlässigkeit gekennzeichnet, der etwa der groben Fahrlässigkeit des Bürgerlichen Rechts entspricht. Im Gegensatz zum Bürgerlichen Recht gilt aber nicht der auf die allgemeinen Verkehrsbedürfnisse ausgerichtete objektiv-abstrakte Sorgfaltsmaßstab des § 276 Abs 2 BGB (s hierzu Grüneberg in Palandt, BGB, 77. Aufl 2018, § 276 RdNr 15 mwN), sondern ein individueller (subjektiver) Maßstab, der auf die persönlichen Fähigkeiten des Opfers abstellt (Senatsurteil vom 21.10.1998 - B 9 VG 6/97 R - BSGE 83, 62, 67 = SozR 3-3800 § 2 Nr 9 S 41= Juris RdNr 23). Danach ist zu prüfen, ob sich das Opfer auch anders hätte verhalten können oder müssen, weiter, ob es sich der erkannten oder grob fahrlässig nicht erkannten Gefahr nicht entzogen hat, obwohl ihm dies zumutbar gewesen wäre. Dafür ist die gesamte tatnahe Situation, wie sie sich nach natürlicher Betrachtungsweise darstellt, zu würdigen. Ergänzend sind die individuellen Beziehungen zwischen Täter und Opfer zu berücksichtigen (vgl Senatsurteil vom 18.4.2001 - B 9 VG 3/00 R - BSGE 88, 96, 99 f = SozR 3-3800 § 2 Nr 10 S 46 f = Juris RdNr 18; Senatsurteil vom 20.10.1999 - B 9 VG 2/98 R - Juris RdNr 13). Die Frage des Vorliegens grober Fahrlässigkeit anhand eines subjektiven Maßstabs stellt sich aber als eine der revisionsgerichtlichen Überprüfung weitgehend entzogene tatrichterliche Würdigung dar (vgl stRspr, zB Senatsurteil vom 18.4.2001 - B 9 VG 3/00 R - BSGE 88, 96, 100 = SozR 3-3800 § 2 Nr 10 S 47 = Juris RdNr 20; BSG Beschluss vom 24.10.2011 - B 14 AS 45/11 B - Juris RdNr 6, jeweils mwN). Insofern hätte es eingehender Ausführungen des Klägers dazu bedurft, welche weiteren Rechtsfragen sich hinsichtlich des anzuwendenden Sorgfaltsmaßstabs bei einer Selbstgefährdung im Rahmen des § 2 Abs 1 OEG überhaupt noch stellen könnten. Soweit die aufgeworfene Fragestellung und die weitere Beschwerdebegründung auf die vom Kläger genannten Motive verweisen und die von ihm geschilderten Umstände abstellen, die zu den behaupteten Faustschlägen geführt haben sollen und die sich seiner Ansicht nach auf die Beurteilung seines Verhaltens auswirken müssten, betrifft dies im Kern die tatrichterliche Würdigung im Einzelfall und damit die Richtigkeit der angefochtenen LSG-Entscheidung. Die Frage der Richtigkeit des Beschlusses des Berufungsgerichts eröffnet indes die Zulassung der Revision nicht und ist nicht Gegenstand der Nichtzulassungsbeschwerde (stRspr, zB Senatsbeschluss vom 13.7.2017 - B 9 SB 29/17 B - Juris RdNr 8; BSG Beschluss vom 24.10.2011 - B 14 AS 45/11 B - Juris RdNr 6).
2. Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (§ 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
3. Die Verwerfung der danach nicht formgerecht begründeten und somit unzulässigen Beschwerde erfolgt gemäß § 160a Abs 4 S 1 Halbs 2 iVm § 169 S 2 und 3 SGG durch Beschluss ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung von § 193 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI11773880 |