Entscheidungsstichwort (Thema)

Sozialgerichtliches Verfahren. Nichtzulassungsbeschwerde. Versäumung der Begründungsfrist. Beweiswirkung des (elektronischen) Empfangsbekenntnisses des Rechtsanwalts. Gegenbeweis der Unrichtigkeit des angegebenen Zustellungsdatums

 

Orientierungssatz

1. Das datierte und unterschriebene Empfangsbekenntnis erbringt als öffentliche Urkunde Beweis für die Entgegennahme des darin bezeichneten Schriftstücks als zugestellt und für den Zeitpunkt dieser Entgegennahme. Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit der im Empfangsbekenntnis enthaltenen Angaben ist nur geführt, wenn die von dem Empfangsbekenntnis ausgehende Beweiswirkung vollständig entkräftet und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Angaben des Empfangsbekenntnisses richtig sind (vgl zur Beweiswirkung des Empfangsbekenntnisses nur BSG vom 21.12.2009 - B 14 AS 63/08 R = FEVS 61, 513 = juris RdNr 12 mwN aus der Rspr der obersten Gerichtshöfe des Bundes).

2. Wie das herkömmliche papiergebundene Empfangsbekenntnis erbringt auch das von einem Rechtsanwalt elektronisch abgegebene Empfangsbekenntnis gegenüber dem Gericht den vollen Beweis für die Entgegennahme des Dokuments als zugestellt und für den Zeitpunkt dieser Entgegennahme.

 

Normenkette

SGG § 160a Abs. 2 S. 1, § 63 Abs. 1 S. 1, Abs. 2; ZPO § 173 Abs. 3

 

Verfahrensgang

SG Reutlingen (Urteil vom 02.08.2022; Aktenzeichen S 10 AS 1163/20)

LSG Baden-Württemberg (Beschluss vom 09.01.2023; Aktenzeichen L 2 AS 2563/22)

 

Tenor

Der Antrag des Klägers auf Wiedereinsetzung in die Frist zur Begründung der Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision im Beschluss des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 9. Januar 2023 wird abgelehnt.

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im vorgenannten Beschluss wird als unzulässig verworfen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Gründe

I. Der Kläger hat gegen die Nichtzulassung der Revision in der vorgenannten Entscheidung beim BSG mit Schreiben seines Prozessbevollmächtigten (§ 73 Abs 4 SGG) vom 24.2.2023, das am selben Tag beim BSG eingegangen ist, Beschwerde eingelegt. Der Prozessbevollmächtigte des Klägers hat durch (elektronisches) Empfangsbekenntnis bestätigt, den angegriffenen Beschluss am 24.1.2023 als elektronisches Dokument erhalten zu haben. In der Beschwerdeschrift heißt es dementsprechend, die Zustellung sei am 24.1.2023 erfolgt.

Mit Schreiben vom 27.3.2023 (Montag) hat der Prozessbevollmächtigte Fristverlängerung für die Begründung der Beschwerde bis zum 27.4.2023 beantragt. Das Zustellungsdatum im Empfangsbekenntnis sei falsch. Er sei bis 24.1.2023 im Urlaub gewesen. Die Zustellung sei erst am 25.1.2023 erfolgt. Er habe fälschlicherweise das Datum 24.1.2023 angegeben.

Mit Vorsitzendenschreiben vom 31.3.2023 hat das BSG den Kläger darauf hingewiesen, dass eine Fristverlängerung nicht in Betracht komme. Die Beschwerdebegründungfrist sei am 24.3.2023 abgelaufen.

Mit Schreiben vom 14.4.2023 und 27.4.2023 hat der Kläger erklärt, das Beschwerdeverfahren fortführen zu wollen, die Beschwerde begründet und hilfsweise einen Antrag auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gestellt. Beigefügt war ein Auszug aus dem Fristenkalender seines Prozessbevollmächtigten, in dem als Rechtsmittelfrist das Datum "27.02.23" und als (verlängerte) Beschwerdebegründungsfrist das Datum "27.04.23" eingetragen sind.

II. Die Beschwerde ist als unzulässig zu verwerfen, weil sie von dem Prozessbevollmächtigten nicht innerhalb der bis zum 24.3.2023 laufenden Frist begründet worden ist (§ 160a Abs 2 SGG) und die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) nicht erfüllt sind.

Durch das vorliegende Empfangsbekenntnis ist bewiesen, dass der Prozessbevollmächtigte des Klägers den Beschluss des LSG am 24.1.2023 entgegengenommen hat. Das datierte und unterschriebene Empfangsbekenntnis erbringt als öffentliche Urkunde Beweis für die Entgegennahme des darin bezeichneten Schriftstücks als zugestellt und für den Zeitpunkt dieser Entgegennahme. Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit der im Empfangsbekenntnis enthaltenen Angaben ist nur geführt, wenn die von dem Empfangsbekenntnis ausgehende Beweiswirkung vollständig entkräftet und jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Angaben des Empfangsbekenntnisses richtig sind (vgl zur Beweiswirkung des Empfangsbekenntnisses nur BSG vom 21.12.2009 - B 14 AS 63/08 R - RdNr 12 mwN aus der Rspr der obersten Gerichtshöfe des Bundes). Die Zustellung der angegriffenen Entscheidung erfolgte vorliegend gegen (elektronisches) Empfangsbekenntnis (§ 63 Abs 1 Satz 1, Abs 2 SGG iVm § 173 Abs 3 ZPO). Wie das herkömmliche papiergebundene Empfangsbekenntnis erbringt auch das von einem Rechtsanwalt elektronisch abgegebene Empfangsbekenntnis gegenüber dem Gericht den vollen Beweis für die Entgegennahme des Dokuments als zugestellt und für den Zeitpunkt dieser Entgegennahme (§ 63 Abs 2 Satz 2 SGG iVm § 173 Abs 3 Satz 1 ZPO; vgl zum elektronischen Empfangsbekenntnis BVerwG vom 19.9.2022 - 9 B 2.22 - NJW 2023, 703; H. Müller in Ory/Weth, jurisPK-ERV, 2. Aufl 2022, § 160a SGG RdNr 111 ff).

Der Gegenbeweis der Unrichtigkeit des im Empfangsbekenntnis enthaltenen Datums ist nicht erbracht. Es kann dahinstehen, wie der Vortrag des Prozessbevollmächtigten des Klägers, er habe versehentlich ein falsches Datum "angegeben", vor dem Hintergrund der technischen Grundlagen eines elektronische Empfangsbekenntnisses (hierzu H. Müller in Ory/Weth, jurisPK-ERV, 2. Aufl 2022, § 160a SGG RdNr 109 f) zu verstehen ist. Allein durch die Angabe, der Prozessbevollmächtigte habe die Entscheidung erst "einen Tag nach seiner Urlaubsrückkehr" am 25.1.2023 zur Kenntnis genommen und durch die Bezugnahme auf den Fristenkalender, in dem Beschwerde- und Beschwerdebegründungsfrist ausgehend vom Zustelldatum 25.1.2023 eingetragen waren, hat der Kläger die von dem Empfangsbekenntnis ausgehende Beweiswirkung nicht entkräftet, weil nicht jede Möglichkeit ausgeschlossen ist, dass die Angaben des Empfangsbekenntnisses richtig sind.

Soweit der Kläger hilfsweise für den Fall, dass seinem Prozessbevollmächtigten die angegriffene Entscheidung am 24.1.2023 zugestellt worden ist, Wiedereinsetzung in den vorigen Stand wegen Versäumung der Frist zur Begründung der Beschwerde beantragt hat, ist dieser Antrag abzulehnen. Die Voraussetzungen einer Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 67 SGG) sind nicht erfüllt. Anhaltspunkte für eine schuldlose Versäumung der Frist zur Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde sind nicht ersichtlich. Das Verschulden des Bevollmächtigten des Klägers ist dem Kläger als eigenes Verschulden zuzurechnen (§ 73 Abs 6 Satz 7 SGG iVm § 85 Abs 2 ZPO).

Da die Nichtzulassungsbeschwerde nicht innerhalb der gesetzlichen Frist begründet worden und Wiedereinsetzung nicht zu gewähren ist, ist die Beschwerde als unzulässig zu verwerfen. Die Wahrung der Begründungsfrist ist Voraussetzung für eine Sachentscheidung des BSG (§ 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 Satz 2 SGG). Die Verwerfung der Beschwerde erfolgt in entsprechender Anwendung des § 169 Satz 3 SGG ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter.

Die Kostenentscheidung beruht auf einer entsprechenden Anwendung der §§ 183, 193 SGG.

S. Knickrehm

Siefert

Harich

 

Fundstellen

Dokument-Index HI15825252

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