Entscheidungsstichwort (Thema)

Nichtzulassungsbeschwerde. Grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache. Divergenz. Klärungsbedürftigkeit. Abweichung. Erwerbsminderung erst nach Erfüllung der Wartezeit

 

Leitsatz (redaktionell)

1. Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage, wenn die Antwort nicht außer Zweifel steht, sich z.B. nicht unmittelbar und ohne Weiteres aus dem Gesetz beantworten lässt oder nicht bereits höchstrichterlich entschieden ist.

2. In der Beschwerdebegründung muss deshalb unter Auswertung der Rechtsprechung des BSG bzw. des BVerfG zu dem Problemkreis substantiiert vorgebracht werden, dass zu diesem Fragenbereich noch keine Entscheidung getroffen wurde oder durch die schon vorliegenden Urteile und Beschlüsse die nunmehr maßgebende Frage von grundsätzlicher Bedeutung noch nicht beantwortet worden ist.

3. Eine Abweichung liegt nicht schon dann vor, wenn die Entscheidung des LSG nicht den Kriterien entspricht, die das BSG aufgestellt hat, sondern erst, wenn das LSG diesen Kriterien widersprochen, also eigene rechtliche Maßstäbe entwickelt hat.

4. Bezogen auf die Darlegungspflicht bedeutet dies, dass die Beschwerdebegründung erkennen lassen muss, welcher abstrakte Rechtssatz in der höchstrichterlichen Entscheidung enthalten ist und welcher im Urteil des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht.

5. Das Geltendmachen allein einer Fehlerhaftigkeit der LSG-Entscheidung vermag eine Zulassung der Revision nicht zu begründen.

 

Normenkette

SGG § 160 Abs. 2 Nrn. 1-2, § 160a Abs. 2 S. 3, Abs. 4 Sätze 1-2, §§ 162, 169; SGB VI § 43 Abs. 1-2, 6, § 50; RVO § 1247

 

Verfahrensgang

LSG Sachsen-Anhalt (Urteil vom 05.04.2023; Aktenzeichen L 3 R 239/21)

SG Magdeburg (Gerichtsbescheid vom 20.07.2021; Aktenzeichen S 6 R 457/19)

 

Tenor

Die Beschwerde des Klägers gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Sachsen-Anhalt vom 5. April 2023 wird als unzulässig verworfen.

Die Beteiligten haben einander für das Beschwerdeverfahren keine Kosten zu erstatten.

 

Gründe

I

Streitig ist ein Anspruch auf Gewährung einer Erwerbsminderungsrente.

Der 1988 geborene Kläger besuchte eine Schule für Lernbehinderte und absolvierte im Anschluss ein Berufsvorbereitungsjahr, ohne einen Schulabschluss zu erreichen. Von Mai 2011 bis April 2016 - unterbrochen durch einen Arbeitsunfall am 29.8.2014 und anschließender Arbeitsunfähigkeit bis zum 15.3.2015 - übte er eine versicherungspflichtige Vollzeittätigkeit als Bauhelfer aus. Nach Bezug von Arbeitslosengeld und Arbeitslosengeld II bezieht er seit 2019 Leistungen nach dem SGB XII. Die Beklagte lehnte den im Februar 2018 gestellten Antrag des Klägers auf Gewährung einer Rente wegen Erwerbsminderung ab (Bescheid vom 19.3.2018). Der Kläger sei bereits seit seiner Geburt dauerhaft voll erwerbsgemindert, sodass eine Wartezeit von 240 Monaten erforderlich sei. Das Versicherungskonto enthalte jedoch lediglich 87 Wartezeitmonate. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 4.6.2019).

Nach Durchführung eines Erörterungstermins hat das SG den Kläger betreffende medizinische Unterlagen sowie eine Auskunft des ehemaligen Arbeitgebers des Klägers beigezogen und mit Gerichtsbescheid vom 20.7.2021 die Klage abgewiesen. Das LSG hat weitere Unterlagen zum schulischen und beruflichen Werdegang sowie zum sonderpädagogischen Förderbedarf des Klägers eingeholt und mit Urteil vom 5.4.2023 die Berufung des Klägers zurückgewiesen. Nach dem Ergebnis der Ermittlungen im Verwaltungs- und Gerichtsverfahren sei der Kläger zu keinem Zeitpunkt in der Lage gewesen, mindestens drei Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Aus der vom Kläger von Mai 2011 bis April 2016 ausgeübten versicherungspflichtigen Vollzeittätigkeit folge nichts anderes. Diese sei ihm nur möglich gewesen, weil er seine Tätigkeit unter ständiger Beaufsichtigung insbesondere durch seinen Vater, der im selben Betrieb tätig gewesen sei, habe durchführen können. Ein eigenständiges unbeaufsichtigtes Arbeiten sei ihm nicht möglich gewesen.

Gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des LSG hat der Kläger Beschwerde beim BSG eingelegt. Er macht eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtsache sowie eine Rechtsprechungsabweichung geltend.

II

Die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers ist unzulässig, weil sie nicht formgerecht begründet ist. Die geltend gemachten Gründe für die Zulassung der Revision werden nicht nach Maßgabe der Erfordernisse des § 160a Abs 2 Satz 3 SGG dargetan. Die Beschwerde ist daher gemäß § 160a Abs 4 Satz 1 Halbsatz 2 iVm § 169 SGG zu verwerfen.

1. Der Kläger legt eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache iS von § 160 Abs 2 Nr 1 SGG nicht anforderungsgerecht dar. Grundsätzliche Bedeutung hat eine Rechtssache nur dann, wenn sie eine abstrakt-generelle Rechtsfrage aufwirft, die über den Einzelfall hinaus allgemeine Bedeutung hat und aus Gründen der Rechtseinheit oder der Rechtsfortbildung einer Klärung durch das Revisionsgericht bedarf (Klärungsbedürftigkeit) und fähig (Klärungsfähigkeit) ist. In der Beschwerdebegründung ist daher zunächst aufzuzeigen, welche rechtliche Frage sich zu einer bestimmten revisiblen Norm iS des § 162 SGG stellt. Sodann ist anhand des anwendbaren Rechts sowie unter Berücksichtigung der höchstrichterlichen Rechtsprechung darzutun, weshalb deren Klärung erforderlich und im angestrebten Revisionsverfahren zu erwarten ist. Schließlich ist aufzuzeigen, dass der angestrebten Entscheidung eine über den Einzelfall hinausgehende Breitenwirkung zukommt (s etwa Beschluss vom 4.5.2023 - B 5 R 30/23 B - juris RdNr 6 mwN).

Der Kläger formuliert als Frage von grundsätzlicher Bedeutung:

"Ist die Ausnahmeregelung des § 43 Abs. 6 SGB VI auf Versicherte anwendbar, auch wenn diese gemäß § 43 Abs. 1 bzw. 2 SGB VI tatsächlich in den letzten fünf Jahren vor Feststellung der Erwerbsminderung durch Vollzeittätigkeit unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes mehr als drei Jahre Pflichtbeiträge für eine versicherte Beschäftigung haben?"

Es kann offen bleiben, ob der Kläger damit den Anforderungen an die Formulierung einer aus sich heraus verständlichen abstrakt-generellen Rechtsfrage zur Auslegung, zum Anwendungsbereich oder zur Vereinbarkeit einer konkreten revisiblen Norm des Bundesrechts (vgl § 162 SGG) mit höherrangigem Recht genügt. Zweifel bestehen deshalb, weil Voraussetzung des § 43 Abs 6 SGB VI ist, dass der Leistungsfall der vollen Erwerbsminderung bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit (§ 50 SGB VI) eingetreten ist und die volle Erwerbsminderung seitdem ununterbrochen vorliegt. Inwiefern somit ein Anwendungsbereich bestehen sollte, wenn die Erwerbsminderung erst nach Erfüllung der Wartezeit eintritt, legt der Kläger nicht dar. Nicht nachvollziehbar ist auch, wieso er auf die Voraussetzungen einer teilweisen Erwerbsminderungsrente gemäß § 43 Abs 1 SGB VI Bezug nimmt, obwohl § 43 Abs 6 SGB VI allein auf eine volle Erwerbsminderung abstellt.

Sollte die Frage so zu verstehen sein, ob auch Versicherte unter den Anwendungsbereich des § 43 Abs 6 SGB VI fallen, die bereits vor Erfüllung der allgemeinen Wartezeit voll erwerbsgemindert waren und seitdem ununterbrochen erwerbsgemindert sind, die jedoch in den letzten fünf Jahren vor Beantragung einer Erwerbsminderungsrente tatsächlich mindestens drei Jahre vollschichtig unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts tätig waren und hierfür Pflichtbeiträge geleistet wurden, hat der Kläger einen bestehenden (abstrakten) Klärungsbedarf nicht hinreichend aufgezeigt. Klärungsbedürftig ist eine Rechtsfrage, wenn die Antwort nicht außer Zweifel steht, sich zB nicht unmittelbar und ohne Weiteres aus dem Gesetz beantworten lässt oder nicht bereits höchstrichterlich entschieden ist (BSG Beschluss vom 21.1.1993 - 13 BJ 207/92 - SozR 3-1500 § 160 Nr 8 S 17). In der Beschwerdebegründung muss deshalb unter Auswertung der Rechtsprechung des BSG bzw des BVerfG zu dem Problemkreis substantiiert vorgebracht werden, dass zu diesem Fragenbereich noch keine Entscheidung getroffen wurde oder durch die schon vorliegenden Urteile und Beschlüsse die nunmehr maßgebende Frage von grundsätzlicher Bedeutung noch nicht beantwortet worden ist (aus jüngerer Zeit zB BSG Beschluss vom 6.4.2021 - B 5 RE 16/20 B - juris RdNr 6 mwN).

Daran richtet der Kläger sein Vorbringen nicht aus. Er führt selbst zwei Entscheidungen des BSG zu § 1247 RVO an, in denen das Gericht ausgeführt habe, dass die Frage nach der Erwerbsfähigkeit nicht allein aus medizinischer Perspektive zu beantworten sei, sondern es sich vorrangig um eine Rechtsfrage handele. Dabei misst das BSG der tatsächlichen Berufsausübung regelmäßig einen höheren Beweiswert bei als den medizinischen Befunden, die nicht isoliert betrachtet werden dürfen (vgl BSG Urteil vom 26.9.1975 - 12 RJ 208/74 - SozR 2200 § 1247 Nr 12 S 22 = juris RdNr 14; BSG Urteil vom 29.9.1980 - 4 RJ 121/79 - SozR 2200 § 1247 Nr 30 S 58 = juris RdNr 18). Warum angesichts dieser Urteile weiterer Klärungsbedarf bestehe, legt der Kläger nicht dar.

Ungeachtet dessen hat der Kläger jedenfalls auch die Klärungsfähigkeit (Entscheidungserheblichkeit) der von ihm formulierten Rechtsfrage in dem erstrebten Revisionsverfahren nicht nachvollziehbar erläutert. Er setzt sich nicht damit auseinander, dass das LSG davon ausgegangen ist, dass die von ihm mit Unterbrechungen in der Zeit von Mai 2011 bis April 2016 ausgeübte Tätigkeit gerade nicht unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts erfolgte und das LSG im Rahmen seiner Beweiswürdigung zu dem Ergebnis gekommen ist, dass er zu keinem Zeitpunkt in der Lage gewesen sei, mindestens drei Stunden täglich unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarkts einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.

2. Ebenso wenig wird insoweit der Zulassungsgrund der Divergenz (§ 160 Abs 2 Nr 2 SGG) anforderungsgerecht dargelegt.

Divergenz iS von § 160 Abs 2 Nr 2 SGG liegt vor, wenn die tragenden abstrakten Rechtssätze, die zwei Entscheidungen zugrunde gelegt worden sind, nicht übereinstimmen. Sie kommt nur dann in Betracht, wenn das LSG einen tragenden abstrakten Rechtssatz in Abweichung von einem vorhandenen abstrakten Rechtssatz des BSG, des GmSOGB oder des BVerfG aufgestellt hat. Eine Abweichung liegt folglich nicht schon dann vor, wenn die Entscheidung des LSG nicht den Kriterien entspricht, die das BSG aufgestellt hat, sondern erst, wenn das LSG diesen Kriterien widersprochen, also eigene rechtliche Maßstäbe entwickelt hat. Bezogen auf die Darlegungspflicht bedeutet dies, dass die Beschwerdebegründung erkennen lassen muss, welcher abstrakte Rechtssatz in der höchstrichterlichen Entscheidung enthalten ist und welcher im Urteil des LSG enthaltene Rechtssatz dazu im Widerspruch steht (vgl BSG Beschluss vom 11.3.2021 - B 5 R 296/20 B - juris RdNr 9 mwN; BSG Beschluss vom 12.5.2022 - B 5 R 3/22 B - juris RdNr 6).

Diesen Darlegungserfordernissen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht. Der Kläger macht geltend, das LSG sei von den Urteilen des BSG vom 26.9.1975 (12 RJ 208/74 - SozR 2200 § 1247 Nr 12) und vom 29.9.1980 (4 RJ 121/79 - SozR 2200 § 1247 Nr 30) abgewichen. Das LSG habe im Rahmen seiner Entscheidungsfindung die Tatsache außer Acht gelassen, dass der Kläger faktisch vollschichtig auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt erwerbstätig gewesen sei. Dies stehe im Widerspruch zu den beiden Entscheidungen des BSG, wonach die Frage nach dem Eintritt der Berufs- und Erwerbsunfähigkeit nicht eine medizinische, sondern vorrangig eine Rechtsfrage sei. Er zitiert eine Passage aus dem Urteil des BSG vom 29.9.1980 (4 RJ 121/79 - SozR 2200 § 1247 Nr 30 = juris RdNr 18) und kommt zu dem Schluss, dass das LSG bei Beachtung der Rechtsprechung des BSG zu einem anderen Ergebnis hätte kommen müssen. Damit hat der Kläger bereits nicht dargelegt, dass das LSG eine von höchstrichterlicher Rechtsprechung abweichende allgemeine Regel aufgestellt hat, die über den konkreten Einzelfall hinaus auch für weitere Sachverhalte gelten soll (vgl BSG Beschluss vom 5.6.2023 - B 5 R 26/23 B - juris RdNr 20 mwN). Vielmehr macht er allein eine Fehlerhaftigkeit der LSG-Entscheidung geltend, die eine Zulassung der Revision nicht zu begründen vermag (stRspr; zB BSG Beschluss vom 11.3.2021 - B 5 R 296/20 B - juris RdNr 11 mwN). Dies gilt auch für die weiteren Ausführungen des Klägers in Bezug darauf, dass das LSG die vom Kläger ausgeübte Tätigkeit lediglich als eine "vergönnungsweise Tätigkeit" angesehen habe, dies im Widerspruch zur Entscheidung des BSG vom 29.9.1980 (4 RJ 121/79 - SozR 2200 § 1247 Nr 30 = juris RdNr 21) stehe und der Kläger gerade nicht "lediglich vergönnungsweise" beschäftigt gewesen sei.

Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 Satz 2 Halbsatz 2 SGG).

3. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 SGG.

Düring

Hannes

Hahn

 

Fundstellen

Dokument-Index HI16186726

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