Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren: Nichtzulassungsbeschwerde bei Rüge eines Verstoßes gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht
Orientierungssatz
1. Will die Beschwerde einen Verstoß gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht rügen (§ 103 SGG), so muss sie einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen, dem das LSG ohne hinreichenden Grund nicht gefolgt ist.
2. Die Wendung "ohne hinreichende Begründung" in § 160 Abs. 2 Nr. 3 SGG ist nicht formell, sondern materiell im Sinne von "ohne hinreichenden Grund" zu verstehen (BSG, 31. Juli 1975, 5 BJ 28/75). Es kommt darauf an, ob das Gericht objektiv gehalten gewesen ist, den Sachverhalt weiter aufzuklären und den beantragten Beweis zu erheben (BSG, 29. April 2010, B 9 SB 47/09 B).
3. Eine Ablehnung eines Beweisantrags wegen Wahrunterstellung der unter Beweis gestellten Tatsache ist prozessual grundsätzlich zulässig (vgl. BSG, 25. August 2015, B 5 R 206/15 B).
Normenkette
SGG §§ 103, 160 Abs. 2 Nr. 3
Verfahrensgang
LSG Niedersachsen-Bremen (Urteil vom 27.10.2016; Aktenzeichen L 10 VE 21/14) |
SG Stade (Aktenzeichen S 21 VE 25/11) |
Tenor
Der Antrag der Klägerin, ihr für das Beschwerdeverfahren gegen die Nichtzulassung der Revision im Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 27. Oktober 2016 Prozesskostenhilfe zu gewähren und Rechtsanwälte H., beizuordnen, wird abgelehnt.
Die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision in dem genannten Urteil wird als unzulässig verworfen.
Kosten des Beschwerdeverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Die Klägerin begehrt die Gewährung einer Beschädigtenrente nach dem Opferentschädigungsgesetz (OEG) iVm den Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes.
Im Dezember 2009 beantragte die Klägerin die Gewährung von Beschädigtenversorgung nach dem OEG. Ihr Stiefvater habe sie im Alter von 8 bis 14 Jahren wiederholt geschlagen und sexuell missbraucht. Sie leide deshalb unter psychischen Schädigungsfolgen wie Depressionen, Angstzuständen und Essstörungen.
Der Beklagte lehnte den Antrag ab, weil das Vorliegen eines Angriffs iS von § 1 Abs 1 S 1 OEG nicht nachgewiesen sei. Der Beschuldigte habe die Taten im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren bestritten, die als Zeugen vernommenen Familienmitglieder hätten die Tatvorgänge nicht aufgrund eigener Wahrnehmung bestätigen können (Bescheid vom 31.8.2010).
Den Widerspruch der Klägerin wies der Beklagte nach Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens zurück. Mit psychologischen Mitteln könne die Glaubhaftigkeit ihrer Aussage nicht belegt werden (Widerspruchsbescheid vom 14.9.2011). Klage und Berufung der Klägerin sind ohne Erfolg geblieben (Urteile vom 17.3.2014 - SG - und vom 27.10.2016 - LSG).
Mit ihrer Nichtzulassungsbeschwerde, für die sie zugleich die Gewährung von PKH beantragt, macht die Klägerin geltend, das LSG habe § 103 SGG verletzt. Es sei ihrem in der mündlichen Verhandlung gestellten Beweisantrag auf Vernehmung ihrer Hausärztin, der sie von den Misshandlungen berichtet habe, ohne hinreichenden Grund nicht gefolgt.
II
Der PKH-Antrag der Klägerin ist unbegründet. PKH ist nur zu bewilligen, wenn die beabsichtigte Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 73a Abs 1 S 1 SGG iVm § 114 ZPO). An der erforderlichen Erfolgsaussicht fehlt es hier. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin ist unzulässig.
1. Die Begründung der Nichtzulassungsbeschwerde genügt nicht den gesetzlichen Anforderungen, weil der geltend gemachte Verfahrensmangel nicht ordnungsgemäß dargetan worden ist (vgl § 160a Abs 2 S 3 SGG). Wird eine Nichtzulassungsbeschwerde wie die der Klägerin darauf gestützt, dass ein Verfahrensmangel vorliege, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen könne (§ 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 1 SGG), so müssen bei der Bezeichnung des Verfahrensmangels (§ 160a Abs 2 S 3 SGG) zunächst die den Verfahrensmangel (vermeintlich) begründenden Tatsachen substantiiert dargetan werden. Gemäß § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG kann der geltend gemachte Verfahrensmangel dabei auf eine Verletzung des § 103 SGG nur gestützt werden, wenn er sich auf einen Beweisantrag bezieht, dem das LSG ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt ist. Will die Beschwerde demnach einen Verstoß gegen die tatrichterliche Sachaufklärungspflicht rügen (§ 103 SGG), so muss sie einen für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrag bezeichnen, dem das LSG ohne hinreichenden Grund nicht gefolgt ist. Hierzu muss die Beschwerdebegründung jeweils folgende Punkte enthalten: (1) Bezeichnung eines für das Revisionsgericht ohne Weiteres auffindbaren Beweisantrags, dem das LSG nicht gefolgt ist, (2) Wiedergabe der Rechtsauffassung des LSG, aufgrund derer bestimmte Tatfragen als klärungsbedürftig hätten erscheinen müssen, (3) Darlegung der von dem betreffenden Beweisantrag berührten Tatumstände, die zu weiterer Sachaufklärung Anlass gegeben hätten, (4) Angabe des voraussichtlichen Ergebnisses der unterbliebenen Beweisaufnahme und (5) Schilderung, dass und warum die Entscheidung des LSG auf der angeblich fehlerhaft unterlassenen Beweisaufnahme beruhen kann, das LSG mithin bei Kenntnis des behaupteten Ergebnisses der unterlassenen Beweisaufnahme von seinem Rechtsstandpunkt aus zu einem anderen, dem Beschwerdeführer günstigeren Ergebnis hätte gelangen können (BSG SozR 4-1500 § 160a Nr 3 RdNr 5 mwN). Diesen Erfordernissen wird die Beschwerdebegründung nicht gerecht.
Zum einen gibt die Beschwerde schon die vom LSG festgestellten Tatumstände, die den zitierten Beweisantrag betrafen und die eine weitere Sachaufklärung erfordert hätten, nicht lückenlos und aus sich heraus verständlich wieder. Vielmehr beschränkt sich die Beschwerde auf ausgewählte Zitate ihr günstig erscheinender Tatsachen.
Zudem legt die Beschwerde nicht dar, warum das LSG dem von ihr zitierten Beweisantrag ohne hinreichende Begründung nicht gefolgt sein sollte. Die Beschwerde kritisiert, das LSG habe zu ihrem Antrag nur wenige Worte verloren. Indes ist die Wendung "ohne hinreichende Begründung" in § 160 Abs 2 Nr 3 SGG nicht - wie die Beschwerde offenbar meint - formell, sondern materiell im Sinne von "ohne hinreichenden Grund" zu verstehen (BSG SozR 1500 § 160 Nr 5). Es kommt darauf an, ob das Gericht objektiv gehalten gewesen ist, den Sachverhalt weiter aufzuklären und den beantragten Beweis zu erheben (BSG Beschluss vom 29.4.2010 - B 9 SB 47/09 B - Juris).
Dies hat die Beschwerde nicht hinreichend substantiiert dargelegt. Das LSG hat in seinem Urteil ausgeführt, für die Klägerin ergebe sich auch dann kein günstigeres Ergebnis, wenn zu ihren Gunsten als richtig unterstellt werde, dass sie der benannten Zeugin bereits in den 1990er Jahren von den behaupteten Taten berichtet habe. Eine solche Ablehnung eines Beweisantrags wegen Wahrunterstellung der unter Beweis gestellten Tatsache ist prozessual grundsätzlich zulässig (vgl BSG Beschluss vom 25.8.2015 - B 5 R 206/15 B - Juris RdNr 9 mwN). Die Beschwerde zeigt nicht auf, warum das LSG im Fall der Klägerin die zulässigen Grenzen einer derartigen Wahrunterstellung überschritten haben sollte. Vielmehr zielt ihre Kritik, das LSG habe die Angaben der Großmutter der Klägerin sowie ihrer Adoptivmutter falsch gewürdigt, allein auf die Beweiswürdigung des LSG. Diese entzieht § 160 Abs 2 Nr 3 Halbs 2 SGG indes vollständig der Beurteilung durch das Revisionsgericht. Danach kann die Beweiswürdigung des Berufungsgerichts mit der Nichtzulassungsbeschwerde weder unmittelbar noch mittelbar angegriffen werden (Karmanski in Roos/Wahrendorf, SGG, § 160 RdNr 58 mwN).
Die Beschwerde ist somit ohne Zuziehung der ehrenamtlichen Richter zu verwerfen (§ 160a Abs 4 S 1 Halbs 2, § 169 SGG).
Von einer weiteren Begründung sieht der Senat ab (vgl § 160a Abs 4 S 2 Halbs 2 SGG).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf der entsprechenden Anwendung des § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen
Dokument-Index HI10448764 |