Verfahrensgang

LSG Niedersachsen (Urteil vom 14.11.1989)

SG Hannover (Urteil vom 12.08.1987)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 14. November 1989 und des Sozialgerichts Hannover vom 12. August 1987 aufgehoben.

Der Beklagte wird unter Aufhebung seines Beschlusses vom 18. Juli 1985, soweit darin die Materialkosten für Gummizüge und Nackenpolster im Behandlungsfall D. … G. … in Höhe von 6,80 DM als gesondert abrechnungsfähig anerkannt worden sind, verpflichtet, unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats über die Beschwerde gegen den Beschluß des Widerspruchsausschusses vom 30. Januar 1985 erneut zu entscheiden.

Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist die gesonderte Abrechnungsfähigkeit von Materialkosten im Rahmen einer kieferorthopädischen Behandlung.

Im Quartal IV/83 gliederte der Beigeladene bei seiner Patientin D. … G. …, die bei der Klägerin familienversichert ist, einen Gesichtsbogen mit intra-extraoraler Verankerung (Headgear) ein. Hierfür rechnete er neben der Gebühren-Nr 127 b) des Einheitlichen Bewertungsmaßstabes für zahnärztliche Leistungen (Bema) die Materialkosten einschließlich der Aufwendungen für Gummizüge und Nackenpolster gesondert ab.

Auf Antrag der Klägerin setzte die Kassenzahnärztliche Vereinigung die Material- und Laborkosten des Gesichtsbogens von der Abrechnung ab, hielt jedoch Gummizüge und Nackenpolster für gesondert abrechenbar. Den hiergegen erhobenen Widerspruch der Klägerin wies der Widerspruchsausschuß zurück mit der Begründung, Gummizüge und Nackenpolster seien mit der Nr 127 Bema nicht direkt verbunden und deshalb getrennt zu vergüten. Die von der Klägerin erhobene Beschwerde blieb erfolglos (Beschluß des Beklagten vom 18. Juli 1985). Die Klage wurde abgewiesen, die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Das Landessozialgericht (LSG) ging davon aus, daß sowohl nach dem Wortlaut als auch nach der Systematik und der Entstehungsgeschichte der Gebühren-Nr 127 b) Bema von ihr Material- und Laboratoriumskosten, die nicht der Anpassung des Gesichtsbogens zuzurechnen seien, nicht erfaßt seien. Insoweit ergebe sich aus den Allgemeinen Bestimmungen des Bema (Nr 4 Satz 2) die Befugnis zur gesonderten Berechnung.

Gegen diese Rechtsauffassung wendet sich die Klägerin mit ihrer vom Senat zugelassenen Revision. Sie rügt die Auslegung des Bema durch das LSG und trägt hierzu vor, das LSG habe das Gebot der zurückhaltenden Auslegung der Gebührenordnung verletzt. Nach jahrelanger gemeinsamer Rechtsauffassung umfasse der Leistungsinhalt der Gebühren-Nrn 126 und 127 Bema auch die hier streitigen Material- und Laboratoriumskosten. Dies sei von den Vertragspartnern auch beabsichtigt gewesen. Dem Materialaufwand werde durch die Bewertungszahl des Bema Rechnung getragen. Schließlich sei im niedersächsischen Gesamtvertrag seit Jahren unverändert vereinbart worden, mit dem Punktwert alle Materialkosten abzugelten.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Niedersachen und des Sozialgerichts Hannover aufzuheben und der Klage stattzugeben.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Der Beigeladene ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist begründet. Die vorinstanzlichen Urteile waren, ebenso wie in dem zur Veröffentlichung bestimmten und gleichgelagerten Urteil des Senats vom selben Tage (6 BKa 15/90), aufzuheben. Der Beklagte hat über die Beschwerde der Klägerin in dem hier streitigen Punkt erneut zu entscheiden.

1. Bei der Auslegung von Vorschriften über die Vergütung kassenzahnärztlicher (Einzel-) Leistungen ist den Gerichten Zurückhaltung auferlegt (BSGE 58, 35, 37 f = SozR 5557 Nr 1 Nr 1). Das ergibt sich aus der rechtlichen Natur des Bewertungsmaßstabes. Dieser wird als Bestandteil des Bundesmantelvertrages von den Vertragspartnern durch die Bewertungsausschüsse vereinbart (§ 368g Abs 4 der Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫, § 87 Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Krankenversicherung – ≪SGB V≫) und ist in bestimmten Zeitabständen auch darauf zu überprüfen, ob die Leistungsbeschreibungen noch dem Stand der medizinisch-technischen Entwicklung sowie dem Erfordernis der Rationalisierung und Wirtschaftlichkeit entsprechen. Dabei soll durch die Zusammensetzung der Bewertungsausschüsse gewährleistet werden, daß die unterschiedlichen Interessen in diesem Selbstverwaltungsorgan zum Ausgleich kommen. Der dem Bewertungsausschuß erteilte Überprüfungsauftrag umfaßt auch die Aufgabe, unklare Bestimmungen klarzustellen. Überdies ist es die Aufgabe einer Technischen Kommission, den Bema verbindlich auszulegen, wenn sich aus dem BMV-Z und seinen Anlagen, zu denen der Bema gehört, Zweifelsfragen ergeben (Anlage 5 zum BMV-Z). All dies wirkt sich dahin aus, daß die Gerichte (aber auch die einzelfallentscheidende Verwaltung) bei der Auslegung von Bema-Vorschriften sich am bloßen Wortlaut orientieren.

2. Das bedeutet einmal, daß die Bema-Vorschrift von den Gerichten nicht extensiv interpretiert und auch keiner Analogie im ausweitenden oder restriktiven Sinne unterworfen werden darf, bedeutet aber auch zugleich, daß historische und die (Gesamt-) Norm übersteigende teleologische Interpretationen, auf die sonst bei nicht eindeutigem Wortlaut zurückzugreifen ist, regelmäßig zugunsten des äußeren Wortlauts zurückzutreten haben. Was die noch verbleibende systematische Auslegung anlangt, so ist diese zwar notwendig, um die streitige Vorschrift in ihrer normativen Ganzheit zu sehen, wobei also einzelne Teile der Norm in anderen Vorschriften niedergelegt sein mögen, insbesondere generelle Normbestandteile den speziellen gegenüberzustellen und nur dadurch zu einer normativen Ganzheit zu bringen sind. Aber auch eine systematische Auslegung darf das Gericht seiner Entscheidung nur zugrunde legen, soweit sich mit ihrer Hilfe ein eindeutiger Wortlaut der anzuwendenden Vorschrift ergibt.

Das Revisionsgericht kann demnach nur überprüfen, ob das Tatsachengericht sich bei der Feststellung des Inhalts der streitigen Bema-Vorschrift an die vorgenannten Normermittlungsregeln gehalten hat. Das haben die Vorinstanzen, die auf die Entstehungsgeschichte zurückgegriffen haben, nicht getan.

3. Der Beigeladene hat eine Leistung nach Nr 127 b) Bema erbracht. Der Wortlaut der Nr 127 b) Bema gibt indessen Anlaß zum Zweifel, ob – wie das LSG meint – nur die Kosten der Materialien für das Eingliedern des Bogens eingeschlossen sind oder auch die Kosten des für die Verankerung benötigten Materials. Die Leistungsbeschreibung der Nr 127 b) Bema stellt keinen vollständigen Satz dar. Wie der Teil „… intra-extraorale Verankerung (Headgear oä)” mit dem Teil „Eingliedern eines Bogens einschließlich Material- und Laboratoriumskosten …” verbunden ist, bleibt unklar. Die Leistungsbeschreibung könnte bedeuten: Eingliedern eines Bogens und (zusätzlich) dessen Verankerung. Die Leistung könnte sich aber auch stets, also in den Fällen der Nr 127 a) bis c) Bema, auf das Eingliedern des Bogens beschränken; dann würde Buchstabe b) lediglich eine besondere Gestaltung des Bogens voraussetzen, nämlich in der Weise, daß er intra/extraoral verankert werden kann. Von dieser zweiten Interpretation geht das LSG aus. Es sieht seine Auslegung bestätigt durch die Systematik des Bema. Nach seiner Meinung wird mit Nr 127 Bema dem erhöhten Arbeitsaufwand bei Verwendung eines festsitzenden orthodontischen Apparates – hier des Bogens -Rechnung getragen. Alle anderen Einzelmaßnahmen zur Kiefer- und Bißkorrektur blieben hingegen Leistungsinhalt der Nrn 119, 120 Bema. Damit hat das LSG sich indessen nicht auf die den Gerichten zugänglichen Methoden zur Auslegung des Bema beschränkt.

Es bleibt mithin zweifelhaft, ob zum Leistungsinhalt nach Nr 127 b) Bema mehr gehört als die Eingliederung eines Bogens. Der Beklagte hat nun Gelegenheit, die ihm möglichen Folgerungen aus der (für ihn verbindlich festgestellten) Zweifelhaftigkeit zu ziehen. Da seine Befugnisse bei der Auslegung der Bema-Bestimmung nicht über diejenigen des Gerichts hinausgehen, bleibt ihm nur die Möglichkeit abzuwarten, ob ein nach Anlage 5 zum BMV-Z Berechtigter eine Klärung durch die Technische Kommission beantragt, und dementsprechend zu entscheiden oder unabhängig hiervon eine gesonderte Vergütung der streitigen Materialien abzulehnen. Weil dann nicht positiv festgestellt werden kann, daß der Vergütungsanspruch besteht, dies vielmehr zweifelhaft bleibt, wäre er zu versagen.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1174294

AusR 1992, 4

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