Entscheidungsstichwort (Thema)
Abrechenbarkeit. Auslegung. Beidseitigkeit. Gebührenansatz. Honorarberichtigung. Leistungsbewertung. Operation. Vergütung. zweifacher Ansatz
Leitsatz (amtlich)
Bei beidseitiger Ausräumung der Siebbeinzellen darf die Gebühr nach Nr 1460 bzw 1461 BMÄ/E-GO zweimal berechnet werden.
Normenkette
SGB V § 87; BMÄ Nrn. 1460-1461
Verfahrensgang
LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 28.04.1993; Aktenzeichen L 5 Ka 1477/92) |
SG Reutlingen (Urteil vom 08.07.1992; Aktenzeichen S 1 Ka 1630/91) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. April 1993 abgeändert und das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 8. Juli 1992 aufgehoben.
Der Bescheid der Beklagten vom 29. Juli 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 1991 sowie die Bescheide vom 16. Oktober 1991, 12. Dezember 1991 und 2. April 1992 werden insoweit aufgehoben, als darin der zweimalige Ansatz der Gebühren-Nummern 1460 bzw 1461 BMÄ/E-GO für beidseitige Siebbeinzellenausräumungen abgelehnt worden ist. Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die in den Quartalen I und III bis IV/91 gestrichenen Ansätze der Nrn 1460 und 1461 BMÄ/E-GO zu vergüten.
Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.
Tatbestand
I
Der als HNO-Arzt zur kassen- und vertragsärztlichen (seit 1. Januar 1993: vertragsärztlichen) Versorgung der Versicherten zugelassene Kläger führte als Belegarzt an einem Krankenhaus ua die in der Nr 1460 (Keilbeinhöhlenoperation oder Ausräumung der Siebbeinzellen von der Nase aus) bzw 1461 BMÄ/E-GO (Keilbeinhöhlenoperation oder Ausräumung der Siebbeinzellen von der Nase aus, einschließlich teilweiser oder vollständiger Abtragung einer Nasenmuschel) beschriebenen Operationen aus. Bei beidseitigen Ausräumungen der Siebbeinzellen rechnete er die Leistung Nr 1460 bzw Nr 1461 BMÄ/E-GO zweimal ab.
Die Beklagte berichtigte die Honoraranforderung der Klägers für die Quartale I/91 und III/91 bis I/92 dahin, daß sie jeweils den zweiten Ansatz der genannten Leistungen strich; die Leistung könne auch bei beidseitiger Ausräumung der Siebbeinzellen nur einmal angesetzt werden.
Widerspruch, Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteile des Sozialgerichts ≪SG≫ Reutlingen vom 8. Juli 1992 und des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Baden-Württemberg vom 28. April 1993). Zur Begründung hat das LSG im wesentlichen ausgeführt, in Anwendung der von der höchstrichterlichen Rechtsprechung entwickelten Grundsätze zur Auslegung von Vorschriften über vertragsärztliche Einzelleistungen, die sich maßgeblich am Wortlaut zu orientieren haben, ergebe sich nicht, daß die Leistung Nr 1460 oder Nr 1461 BMÄ/E-GO bei beidseitiger Ausräumung der Siebbeinzellen zweimal angesetzt werden könne. In allen Fällen, in denen in dem Abschnitt L I BMÄ/E-GO die beidseitige Behandlung oder die Behandlung mehrerer Regionen eine zusätzliche Vergütung auslöse, werde dies aus dem Wortlaut deutlich. Bei den Nrn 1460/1461 BMÄ/E-GO sei dies nicht der Fall. Aufschlußreich seien dagegen Nrn 1457 und 1465 BMÄ/E-GO, in denen zwischen der Operation einer Stirn- oder Kieferhöhle und/oder der Siebbeinzellen unterschieden werde. Dieser Auslegung stehe nicht entgegen, daß es sich bei der beidseitigen Ausräumung der Siebbeinzellen um zwei Operationen handele. Es sei nicht zu erkennen, daß der Bewertungsausschuß bei der Bestimmung der abrechenbaren Leistungen und der Festlegung ihres wertmäßigen Verhältnisses zueinander den ihm zustehenden Gestaltungsspielraum überschritten habe.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung formellen und materiellen Rechts. Das angefochtene Urteil verstoße gegen § 136 Abs 1 Nr 5 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG), weil das von ihm, dem Kläger, durchgeführte operative Verfahren nicht im Tatbestand des Berufungsurteils wiedergegeben worden sei. In der Sache habe sich das LSG rechtsfehlerhaft am bloßen Wortlaut der Vergütungsvorschriften orientiert. Die Auslegung dieser Normen müsse aber vom Sinn und Zweck der Vergütungsvorschrift unter Berücksichtigung der medizinischen Gegebenheiten ausgehen. Die Verwendung des Plurals bei dem Begriff Siebbeinzellen, mit dem die mehreren Siebbeinzellen auf jeder Seite beschrieben würden, sei aufgrund der gegebenen anatomischen Besonderheiten kein Unterscheidungsmerkmal. Ebenso wie bei den Operationen der Kieferhöhlen oder der Stirnhöhlen jeder Seite müsse auch bei den Ausräumungen der Siebbeinzellen beiderseits jeweils die in Betracht kommende Leistung zweifach abgerechnet werden können.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. April 1993 abzuändern und das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 8. Juli 1992 aufzuheben sowie die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 29. Juli 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6. Dezember 1991 und der Bescheide vom 16. Oktober 1991, 12. Dezember 1991 und 2. April 1992 zu Verurteilen, ihm die in den Quartalen I und III bis IV/91 gestrichenen Ansätze der Nrn 1460 und 1461 BMÄ/E-GO zu vergüten, hilfsweise,
das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 28. April 1993 aufzuheben und die Streitsache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die angefochtenen Urteile für zutreffend.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 SGG) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers, die sich nur noch auf die für die Quartale I/91 und III bis IV/91 ergangenen Bescheide der Beklagten bezieht und sich nach dem Revisionsantrag nicht auf den Bescheid vom 9. September 1992 (Quartal I/92) erstreckt, ist begründet. Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen hat der Kläger einen Anspruch auf Vergütung des zweiten Ansatzes der Leistungen Nr 1460 bzw 1461 BMÄ/E-GO in den Fällen, in denen er beidseitig Siebbeinzellenausräumungen vorgenommen hat. Dies ergibt sich aus den Leistungsbeschreibungen der Nrn 1460/1461 BMÄ/E-GO.
Den Gerichten ist zwar, wie der Senat in ständiger Rechtsprechung entschieden hat, bei der Auslegung von Vorschriften über die Bewertung ärztlicher Leistungen in den Bewertungsmaßstäben bzw Gebührenordnungen für ärztliche Leistungen Zurückhaltung auferlegt. Eine ausweitende Interpretation der Leistungsbewertungen etwa im Wege analoger Anwendung auf davon nicht erfaßte Sachverhalte ist danach nicht zulässig. Dies beruht auf dem vertraglichen Charakter der Bewertungsmaßstäbe und Gebührenordnungen und dem damit einhergehenden Vorrang der Vertragspartner der vertragsärztlichen Versorgung bei der Festlegung des Inhalts und des Umfangs der vertragsärztlichen Leistungen (s zuletzt Senatsurteil in BSG SozR 3-2500 § 87 Nr 5 mwN und Urteil vom 4. Mai 1994 – 6 RKa 2/93). Daran ist festzuhalten. Gleichwohl sind die Gerichte im Streitfall befugt und verpflichtet, in dem aufgezeigten Rahmen Inhalt und Umfang der jeweiligen Leistung zu bestimmen. Das ist auch vom LSG nicht verkannt worden. Der von ihm getroffenen Auslegung der Leistungs-Nrn 1460 und 1461 BMÄ/E-GO, die vorrangig auf einem Vergleich mit der Regelung anderer Leistungen im Abschnitt L I BMÄ/E-GO beruht, kann jedoch nicht gefolgt werden. Sie läßt den inneren Sachzusammenhang der in den Gebühren-Nrn 1457 – 1465 BMÄ/E-GO erfaßten Leistungen außer Betracht. Danach ist bei den Ausräumungen der Siebbeinzellen beiderseits der zweifache Ansatz der Leistung Nr 1460 bzw 1461 BMÄ/E-GO gerechtfertigt.
Die Anführung des Plurals “Siebbeinzellen” in den Leistungsbeschreibungen der Nrn 1457, 1460, 1461 und 1465 BMÄ/E-GO scheint allerdings zunächst darauf hinzudeuten, daß die Leistungen auch bei Ausräumungen aller Siebbeinzellen nur jeweils einmal abrechenbar sind. Der Verwendung der Pluralform ist jedoch kein Anhalt für die Auslegung in der einen oder anderen Richtung zu entnehmen; denn bei den Siebbeinzellen, die das Siebbeinlabyrinth bilden, handelt es sich um zwei voneinander getrennte Systeme der Nasennebenhöhlen der einen bzw der anderen Gesichtshälfte. Die Verwendung der Pluralform “Siebbeinzellen” ist mithin auch dann erforderlich, wenn sie sich nur auf das Siebbeinlabyrinth einer Gesichtshälfte bezieht (vgl hierzu die Erläuterung bei Heinzerling/Hess/Moewes, in Brück, Komm zum Einheitlichen Bewertungsmaßstab ≪E-BMÄ≫ 1978, Stand: 1.4.1986, Anm 11 zu den Nrn 1465 bis 1488).
Hinweise darauf, daß es sich bei der in den Nrn 1460/1461 BMÄ/E-GO erfaßten Ausräumung der Siebbeinzellen nicht um eine einheitliche Leistung handelt, wenn die Siebbeinzellen beider Seiten operativ behandelt werden, ergeben sich zusätzlich aus folgendem: Nach den tatsächlichen Feststellungen des LSG stellen sich die beidseitigen Ausräumungen der Siebbeinzellen als zwei operative Eingriffe dar, nämlich als rechts- und linksseitige Ausräumung. Schon die Tatsache des zweifachen operativen Eingriffs spricht für die Berechtigung einer zweifachen Vergütung. Diese Auffassung wird durch Aufbau und Inhalt der einzelnen Leistungsdefinitionen bestätigt. Die Leistung Nr 1457 BMÄ/E-GO (Operative Eröffnung einer Stirnhöhle und ggf der Siebbeinzellen vom Naseninneren aus) erweist sich im Verhältnis zu den Nrn 1460 und 1461 BMÄ/E-GO als die umfassendere Leistung. Sie erfaßt neben der operativen Eröffnung einer Stirnhöhle und der Siebbeinzellen vom Naseninneren aus auch die Ausräumung der Siebbeinzellen (vgl Moewes/Effer/Hess, Kölner Komm zum EBM, Stand: April 1993, Anm zu Nr 1457). Da die Leistung bereits bei der operativen Eröffnung nur einer Stirnhöhle erbracht ist, kann in diesem Zusammenhang nur die operative Öffnung der dieser Seite zugehörigen Siebbeinzellen gemeint sein.
Entsprechend verhält es sich mit den Leistungsbeschreibungen der Nrn 1460, 1461 und 1465 BMÄ/E-GO. Die Gebührennummern haben jeweils mehrere unterschiedliche operative Leistungen zum Inhalt, wobei sich erstere Leistung immer nur auf die Operation einer von jeweils zwei der genannten Nasennebenhöhlen, nämlich die Keilbeinhöhlenoperation bzw die operative Eröffnung und Ausräumung einer Stirn- und Kieferhöhle, bezieht. Diesen Operationen gleichgestellt wird jeweils die Ausräumung der Siebbeinzellen. Der Anschluß der Siebbeinzellenoperation an die Operation einer Nasennebenhöhle verdeutlicht, daß mit der in den Nrn 1460, 1461 BMÄ/E-GO genannten Siebbeinzellenausräumung auch nur die Operation der Siebbeinzellen einer Seite erfaßt wird.
Bei beidseitiger Ausräumung der Siebbeinzellen können daher die Leistungen Nrn 1460 bzw 1461 BMÄ/E-GO doppelt berechnet werden (ebenso für die gleichlautenden Bestimmungen der Nrn 1469, 1470 BMÄ 1978: Heinzerling/Hess/Moewes in Brück, aaO, Anm 11 zu den Leistungen Nrn 1465 bis 1488; für die gleichlautenden Bestimmungen der Nrn 1469 und 1470 GOÄ ebenso: Krimmel/Hess, Komm zur GOÄ, 2. Aufl, Anm zu Nr 1469; Hoffmann, GOÄ, 2. Aufl, Anm zu Nrn 1469, 1470).
Nach allem hatte die Revision des Klägers Erfolg.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen