Verfahrensgang

SG Reutlingen (Urteil vom 10.06.1992)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 10. Juni 1992 wird verworfen.

Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob der Kläger als niedergelassener Anästhesist zur Schmerztherapie und in deren Rahmen zur Führung der Zusatzbezeichnung „Chirotherapie” und Abrechnung der entsprechenden Leistungen in der vertragsärztlichen Versorgung berechtigt ist.

Der Kläger ist seit Juli 1990 im Bereich der Beklagten als Arzt für Anästhesie niedergelassen und zur kassenärztlichen (jetzt vertragsärztlichen) Versorgung zugelassen. Seine Tätigkeit umfaßt neben ambulanten Anästhesien überwiegend schmerztherapeutische Leistungen.

Seinen Antrag vom September 1990, die Abrechnung chirotherapeutischer Leistungen zu bewilligen, lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 9. Oktober 1990 ab. Nach § 38 Abs 1 des Kammergesetzes dürfe ein Arzt, der eine Gebietsbezeichnung führe, grundsätzlich nur in diesem Gebiet tätig werden. Chirotherapeutische Leistungen seien jedoch nach den einschlägigen Weiterbildungsvorschriften nicht Gegenstand der anästhesiologischen Weiterbildung und stellten für den Kläger fachfremde Leistungen dar. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Bescheid vom 23. April 1991).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage mit Urteil vom 10. Juni 1992 abgewiesen und zur Begründung ebenfalls darauf abgestellt, daß chirotherapeutische Leistungen für den Kläger fachfremd seien. Der Umstand, daß die Bezirksärztekammer Südwürttemberg dem Kläger die Genehmigung zur Führung der Zusatzbezeichnung „Chirotherapie” erteilt habe, führe zu keinem anderen Ergebnis; damit sei der Kläger lediglich grundsätzlich, nicht aber auch für den konkreten Fall berechtigt worden, die Zusatzbezeichnung „Chirotherapie” zu führen. Das Urteil ist den Prozeßbevollmächtigten des Klägers am 6. August 1992 zugestellt worden.

Mit der vom SG im Urteil zugelassenen Sprungrevision rügt der Kläger, es liege eine Einschränkung nicht nur der Berufsausübung, sondern auch der Berufswahl vor, die mit den bestehenden Bestimmungen der Weiterbildungsordnung der Landesärztekammer Baden-Württemberg nicht ausreichend legitimiert sei. Zudem habe sich das SG nicht mit der Möglichkeit der Behandlung in Randbereichen auseinandergesetzt, deren Fachfremdheit nicht mehr allein nach dem Inhalt der Weiterbildungsordnung bestimmt werden könne. Aus dem Wortlaut der Weiterbildungsordnung ergebe sich nicht, daß manuelle Methoden auf jeden Fall nicht unter den Begriff der lokalen Anästhesie definiert werden könnten. Dies hätte der Aufklärung bedurft. Das angefochtene Urteil weiche schließlich auch von der Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) vom 13. März 1991 – 6 RKa 20/89 -ab.

Der Kläger hat seiner am 4. September 1992 beim BSG eingegangenen Revisionsschrift die Fotokopie der Niederschrift über die mündliche Verhandlung vor dem SG am 10. Juni 1992 beigefügt. In dem Protokoll ist vermerkt: „Klägervertreter und Beklagtenvertreter erklären ausdrücklich, daß sie der Einlegung der Sprungrevision des Prozeßgegners zustimmen”. Auf S 2 der Fotokopie befindet sich ein Beglaubigungsvermerk eines der Prozeßbevollmächtigten des Klägers. Eine weitere Beglaubigung – insbesondere durch den Urkundsbeamten der Geschäftsstelle des SG – ist auf der Kopie nicht angebracht. Die am 7. September 1992 beim SG angeforderten erstinstanzlichen Akten gingen am 9. September 1992 beim BSG ein.

Der Kläger beantragt,

das Urteil des Sozialgerichts Reutlingen vom 10. Juni 1992 und den Bescheid der Beklagten vom 9. Oktober 1990 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 23. April 1991 aufzuheben und festzustellen, daß er (Kläger) im Rahmen seiner Zulassung als Anästhesist im Bereich der schmerztherapeutischen Behandlung zur Führung der Zusatzbezeichnung Chirotherapie sowie zur Erbringung und Abrechnung chirotherapeutischer Leistungen berechtigt ist.

Die Beklagte hat sich weder zur Sache geäußert noch einen Antrag gestellt.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Sprungrevision ist unzulässig und zu verwerfen, § 169 Satz 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Der Kläger hat unterlassen, die Zustimmung des Rechtsmittelgegners zur Einlegung der Revision in der gesetzlich vorgeschriebenen Form nachzuweisen.

Nach § 161 Abs 1 Satz 1 und 3 SGG ist zur Zulässigkeit einer Sprungrevision erforderlich, daß der Rechtsmittelgegner der Einlegung des Rechtsmittels schriftlich zugestimmt hat und, wenn die Revision im Urteil zugelassen ist, diese Zustimmungserklärung der Revisionsschrift beigefügt wird. Der Kläger hat mit seiner Revisionsschrift innerhalb der für die Einlegung der Revision maßgebenden Frist lediglich eine mit einer anwaltlichen Beglaubigung versehene Fotokopie der Verhandlungsniederschrift vorgelegt, in der das Einverständnis der Parteien mit der Einlegung des Rechtsmittels durch den jeweiligen Prozeßgegner bekundet ist. Ein solches Schriftstück genügt den gesetzlichen Anforderungen nicht. Das in den Akten des Berufungsgerichtes befindliche Original der Verhandlungsniederschrift ist zusammen mit den Akten erst nach Ablauf der Revisionsfrist beim BSG eingegangen und infolge dieser Verspätung für die Zulässigkeit der Sprungrevision unerheblich.

Zwar wird allgemein anerkannt, daß die in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll eines Gerichts erklärte Zustimmung zur Einlegung der Sprungrevision dem Begriff der schriftlichen Zustimmungserklärung iS des § 161 Abs 1 Satz 1 SGG genügt (s zB BSG SozR 1500 § 161 Nr 8 und 2200 § 1268 Nr 33; BVerwG BVerwGE 14, 259, 260; 39, 314, 315). Nicht in gleicher Weise einheitlich beantwortet wird aber die Frage, unter welchen Voraussetzungen auch die Einreichung einer Fotokopie der Zustimmungserklärung – sei diese privatschriftlich oder in Form der gerichtlichen Protokollierung niedergelegt – die vorgeschriebenen Merkmale erfüllt, dh eine bloße Fotokopie des Erklärungsoriginals ausreicht oder die Fotokopie noch einen Beglaubigungsvermerk über ihre Übereinstimmung mit dem Original tragen muß. Eine schlichte Fotokopie haben der 3. Senat des BSG (BSGE 20, 154 = SozR Nr 17 zu § 161 SGG) und im Anschluß daran der 5b-Senat des BSG (insoweit in SozR 6050 Anhang VI Nr 3 nicht abgedruckt) für ausreichend gehalten. Andere Senate des BSG haben es dagegen für notwendig erachtet, daß das Sitzungsprotokoll in einer beglaubigten Abschrift, die hinsichtlich der Beglaubigung den Erfordernissen einer öffentlichen Urkunde gemäß § 435 Satz 1 der Zivilprozeßordnung ≪ZPO≫ genügt, vorgelegt wird (Großer Senat BSGE 12, 230 = SozR Nr 14 zu § 161 SGG; 1. Senat SozSich 1987, 190 = USK 8777; 4.(4a) Senat SozR Nr 12 zu § 161 SGG; USK 8582; SozR 3-1500 § 161 Nr 2; Entscheidungen vom 30. April 1991, 4 REg 14/90, vom 13. November 1991, 4/1 RA 81/90, vom 4. März 1993, 4 RA 11/92, 4 RA 28/92 und vom 8. März 1993, 4 RA 12/92, sämtlich nicht veröffentlicht; 6. Senat BSGE 58, 18, 19 = SozR 1500 § 161 Nr 32, SozR 3-1500 § 161 Nr 3; 7. Senat SozR 4100 § 117 Nr 25; 12. Senat SozR 1500 § 161 Nr 5). Ausdrücklich offengelassen wurde die Frage vom 4. Senat (SozR 3-2200 § 1304a Nr 1); in der Formulierung unentschieden, allerdings auch nicht für die Entscheidung tragend, blieb sie beim 11. Senat (SozR 1500 § 161 Nr 2).

Die Unzulässigkeit der Sprungrevision nahm ebenfalls der 2. Senat des Bundesarbeitsgerichts (BAG) an, wenn lediglich eine unbeglaubigte Fotokopie der Zustimmungserklärung der Revisionsschrift beigefügt war (Urteil vom 19. September 1985, 2 AZR 533/84, nicht veröffentlicht); nicht abschließend Stellung nahm der 3. Senat des BAG (EzA § 76 ArbGG 1979 Nr 5). Das Bundesverfassungsgericht ≪BVerfG≫ erklärte (SozR 3-1500 § 161 Nr 5), es stelle keine Verletzung des Anspruchs auf ein faires Verfahren dar, daß nach Auffassung des BSG die Vorlage einer unbeglaubigten Fotokopie der Sitzungsniederschrift des SG, in der die Zustimmung des Rechtsmittelgegners zur Einlegung der Sprungrevision beurkundet ist, dem Erfordernis des § 161 Abs 1 SGG nicht genügt.

Der erkennende Senat tritt der Auffassung bei, daß nur eine formgerecht beglaubigte Abschrift oder Fotokopie der Zustimmungserklärung den Anforderungen genügt, die in § 161 Abs 1 Satz 1 SGG mit dem Begriff der „schriftlichen” Zustimmung aufgestellt sind. Zwar genügen für die Schriftlichkeit als solche sowohl die Form der Erklärung, wie sie § 126 Abs 1 BGB allgemein für die gesetzlich vorgeschriebene Schriftform anordnet, als auch die Niederlegung der Erklärung in einer gerichtlich aufgenommenen Verhandlungsniederschrift, wie sie von der Rechtsprechung als gleichstehend anerkannt wird. Sollen aber an die Stelle der Originalschriftstücke Vervielfältigungen der Originale treten, muß durch einen zusätzlichen Akt eine Sicherheit dafür gegeben werden, daß Original und Vervielfältigung wenn auch nicht unbedingt optisch (wie bei einer Fotokopie), so aber jedenfalls inhaltlich (wie bei einer Abschrift) übereinstimmen und tatsächlich über ein und dieselbe Erklärung Beweis erbringen. Eine solche Identitätsgarantie ist nur gegeben, wenn von einer zur Gewährleistung der Übereinstimmung ermächtigten Stelle die Identität im bezeichneten Sinn bestätigt wird. Die bloß fotomechanische Wiedergabe eines Schriftstückes weist keine gleichwertige Sicherheit für die Übereinstimmung der Vervielfältigung mit dem Original auf und kann daher für den Begriff der Schriftlichkeit nach § 161 Abs 1 Satz 1 SGG nicht mit der ordnungsgemäßen Beglaubigung gleichgesetzt werden.

Die Frage, ob die vorgelegte Fotokopie der Sitzungsniederschrift vom 10. Juni 1992 in der hiernach erforderlichen Weise beglaubigt ist, verliert ihre Bedeutung für die Sprungrevision des Klägers nicht dadurch, daß einer der Prozeßbevollmächtigten des Klägers auf der Fotokopie einen Beglaubigungsvermerk angebracht hat. Wie bereits der Bundesgerichtshof ≪BGH≫ entschieden hat (BGHZ 92, 76 ff), genügt die Beglaubigung durch einen Rechtsanwalt nicht, um die vorausgesetzte Qualität einer öffentlichen Urkunde iS des § 435 ZPO zu erreichen. Ein Rechtsanwalt übt keine allgemeine öffentliche Beglaubigungs- oder Beurkundungsfunktion aus, sondern ist nach § 170 Abs 2 ZPO lediglich zur Beglaubigung aus Anlaß der Zustellung von Abschriften im Verfahren nach der ZPO befugt. Inhaltlich in dieselbe Richtung weist das zitierte Urteil des 7. Senats des BSG. Zwar läßt der Senat zunächst dahinstehen, ob eine Beglaubigung gemäß den Erfordernissen einer öffentlichen Urkunde vorliegt, wenn sie von dem bevollmächtigten Rechtsanwalt des Revisionsklägers vorgenommen wird; die Vorlegung einer vom Prozeßbevollmächtigten beglaubigten Abschrift der einfachen Abschrift des Sitzungsprotokolls reiche aber jedenfalls nicht aus. Der erkennende Senat schließt sich der vom BGH vertretenen Ansicht an. Nach § 202 SGG ist § 170 Abs 2 ZPO auch für das sozialgerichtliche Verfahren von Bedeutung. Anwaltliche Beglaubigungen haben hier keine weiterreichende Wirkung als im Zivilprozeß. Die Fotokopie einer schriftlich niedergelegten Zustimmung zur Revisionseinlegung wird durch sie nicht zu einer öffentlichen Urkunde iS des § 435 ZPO.

Eine andere Beglaubigung der Übereinstimmung der vorgelegten Fotokopie der Verhandlungsniederschrift mit deren Original als durch den Prozeßbevollmächtigten des Klägers ist nicht erfolgt. Damit genügt das eingereichte Schriftstück nicht den in § 161 Abs 1 Sätze 1 und 3 SGG aufgestellten formalen Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Sprungrevision. Das Rechtsmittel des Klägers mußte demgemäß als unzulässig verworfen werden (§ 169 Satz 2 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dabei ist nach der Rechtsprechung des BSG (BSGE 72, 148, 156 ff) die Vorschrift des § 193 Abs 4 SGG in der durch Art 15 Nr 2 des Gesundheitsstrukturgesetzes vom 21. Dezember 1992 (BGBl I S 2266) geänderten Fassung nicht in Verfahren anzuwenden, in denen das Rechtsmittel vor dem 1. Januar 1993 eingelegt worden ist.

 

Fundstellen

NJW 1996, 678

NVwZ 1996, 104

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