Beteiligte
Kläger und Revisionsbeklagter |
Beklagter und Revisionskläger |
Tatbestand
I
Das beklagte Versorgungsamt unterließ es, von Amts wegen die Grundrente um den Alterszuschlag ab Vollendung des 65. Lebensjahres (§ 31 Abs. 1 Satz 2 Bundesversorgungsgesetz [BVG]) zu erhöhen. Der Fehler wurde nach 17 Jahren festgestellt. Der Beklagte hat den Nachzahlungsbetrag auf vier Jahre begrenzt und sich für den Zeitraum vom 1. September 1971 bis zum 31. Dezember 1984 auf Verjährung berufen. Hiergegen richtet sich die Klage, die in zweiter Instanz Erfolg hatte. Das Landessozialgericht (LSG) hält die Erhebung der Verjährungseinrede für schlechthin unzulässig, wenn das rechtswidrige Unterlassen allein von der Verwaltung zu verantworten ist. In der Hilfsbegründung wird darauf hingewiesen, daß der Beklagte bei Erhebung der Verjährungseinrede kein Ermessen ausgeübt habe (Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 14. Februar 1992).
Mit der vom LSG zugelassenen Revision macht der Beklagte geltend, der angefochtene Bescheid, der nur für vier Jahre die Leistung zuspreche, beruhe nicht auf § 48 des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X), sondern auf § 44 SGB X. Die Alterszulage sei nach § 60 Abs. 3 BVG als höhere Leistung von Amts wegen zu gewähren, so daß ab der Vollendung des 65. Lebensjahres rechtswidrige Rentenanpassungsbescheide ergangen seien. § 44 SGB X beschränke die Rückwirkung auf vier Jahre. Sofern § 48 SGB X anwendbar sei, müsse bei einer Rückwirkung hinter die Fristen des § 44 Abs. 4 SGB X von einem atypischen Fall ausgegangen werden, so daß kein Ermessen auszuüben sei. Die Ausschlußfrist sei analog anzuwenden. Jedenfalls verstoße die Berufung auf die Verjährungseinrede nicht gegen Treu und Glauben, denn beim Berechtigten sei nicht der Eindruck erweckt worden, daß alles in Ordnung sei. Es müsse ein über das reine Nichttätigwerden hinausgehendes Fehlverhalten der Verwaltung vorliegen, um von einem Verstoß gegen Treu und Glauben sprechen zu können. Der vorliegende Fall sei der typische Fall der Verjährung, wenn es wegen Unkenntnis der Beteiligten zum Fristablauf komme. An einer fehlenden Ermessensausübung scheitere die Entscheidung nicht, weil das Ermessen auf Null geschrumpft sei.
Der Beklagte beantragt,
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das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen. |
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Der Kläger beantragt,
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die Revision des Beklagten zurückzuweisen. |
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Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision des Beklagten ist im wesentlichen ohne Erfolg.
Zwar teilt der Senat nicht die Auffassung des Berufungsgerichts, daß die Erhebung der Verjährungseinrede schlechthin unzulässig ist, so daß eine Verurteilung des Beklagten zur Leistung ausscheidet. Der angefochtene Bescheid läßt jedoch Ermessenserwägungen vermissen, so daß er schon aus diesem Grund rechtswidrig ist und nach den §§ 35 Abs. 1 Satz 3, 41 Abs. 1 Nr. 2, 41 Abs. 2, 42 Satz 1 SGB X aufgehoben werden muß.
Ob und für welchen Zeitraum der Beklagte die Verjährungseinrede erheben will, steht in seinem Ermessen nach §§ 45, 39 SGB I (ständige Rechtsprechung seit BSG Breithaupt 1969, 813). Dieser Verpflichtung der Verwaltung, die Erhebung der Verjährungseinrede nach pflichtgemäßem Ermessen zu prüfen, ist weder mit dem Gedanken der Atypik aus § 48 SGB X zu begegnen, wie der Beklagte meint, noch schließt § 44 Abs. 4 SGB X die rückwirkende Leistungsgewährung aus.
Die Vorschrift des § 44 SGB X ist direkt nicht anwendbar. Ein rechtswidriger Grundlagenbescheid ist zu keiner Zeit ergangen. Die jährlichen Anpassungsbescheide treffen keine neue Regelung dem Grunde nach (ständige Rechtsprechung des Senats, vgl. zuletzt Urteil des Senats vom 10. Februar 1993 - 9/9a RV 43/91 - zur Veröffentlichung vorgesehen, unter Bezugnahme auf SozR 3-1300 § 48 Nr. 11; BSGE 63, 266 = SozR 3642 § 9 Nr. 3). Der Fehler im Verwaltungshandeln liegt im Unterlassen eines Änderungsbescheides nach § 48 SGB X; ohne den Änderungsbescheid sind aber die Anpassungsbescheide, die auf dem bindenden alten Verwaltungsakt aufbauen, rechtmäßig.
Ergeht der Änderungsbescheid, wenn auch verspätet, hat er bei einer Zugunstenregelung grundsätzlich unbeschränkte Rückwirkung nach § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB X. § 44 Abs. 4 SGB X ist auch nicht analog anwendbar. Der erkennende Senat schließt sich dem 4. Senat (BSGE 62, 10 = SozR 2200 § 1254 Nr. 7) an. Es bestehen zwar keine Bedenken dagegen, Herstellungsansprüche in gleicher Weise zu begrenzen wie die auf § 44 SGB X gestützte Leistungsgewährung nach Aufhebung eines rechtswidrigen bestandskräftigen belastenden Verwaltungsakt. Die Wirkung der Änderungsbescheide nach § 48 SGB X wird aber nicht durch eine derartige Ausschlußfrist begrenzt. Die mögliche Leistungsbegrenzung ergibt sich allein aus den Verjährungsvorschriften, wobei § 45 SGB I über Art 2 § 17 SGB I auch Altfälle erfaßt (BSG SozR 3100 § 10 Nr. 7).
Unterläßt die Verwaltung über Jahre die von Amts wegen vorzunehmende Leistungserhöhung, ist sie regelmäßig verpflichtet, die Leistung für den gesamten Zeitraum rückwirkend zu erbringen. Sie soll dies tun (§ 48 Abs. 1 Satz 2 SGB X), weil der Anspruch für die gesamte zurückliegende Zeit besteht. Will die Verwaltung den Nachzahlungsbetrag begrenzen, muß sie ihre Gründe für eine Verkürzung des bestehenden Anspruchs gegen die Gründe auf volle Erfüllung gesetzlicher Ansprüche gegeneinander abwägen. Dies geschieht bei Erhebung der Verjährungseinrede. Der Zeitablauf allein ersetzt eine solche Ermessenserwägung nicht; er ist vielmehr nach § 45 SGB I Voraussetzung für die Betätigung des Ermessens.
Der Beklagte hat die Leistung verweigert, ohne hierfür Ermessensgründe anzuführen. Er hat sich allein auf den Zeitablauf berufen, also nur dargetan, daß die gesetzlichen Voraussetzungen für die Erhebung der Einrede erfüllt sind. Bei einem derartigen Ermessensfehlgebrauch (vgl. BSG SozR 1200 § 66 Nr. 10) ist der Bescheid aufzuheben (vgl. hierzu auch BSG SozR 1300 § 45 Nrn 32 und 39; SozR 4100 § 186a Nr. 18).
Von der pflichtgemäßen Ausübung des Ermessens war der Beklagte nicht deshalb entbunden, weil es sich nicht um einen atypischen Fall i.S. von § 48 SGB X handelt. Denn die Notwendigkeit der Ermessensausübung folgt aus § 45 SGB I und nicht aus § 48 SGB X, so daß die Rechtsprechung zum atypischen Fall (vgl. BSGE 59, 111 = SozR 1300 § 48 Nr. 19 und SozR 1300 § 48 Nr. 44) nicht einschlägig ist.
Das Ermessen war auch nicht zu Lasten des Berechtigten, der das fehlerhafte Verwaltungshandeln in keiner Weise verursacht hat, auf Null reduziert. Der vom Beklagten insoweit aufgestellte Rechtssatz, daß bei einem Zusammenwirken von leichtem Amtsverschulden und Zeitablauf das Ermessen grundsätzlich auf Null schrumpfe, besteht nicht. Andererseits kann hier auch nicht festgestellt werden, daß es rechtsmißbräuchlich und somit schlechthin ausgeschlossen wäre, daß sich der Beklagte auf Verjährung beruft. Anders als in der Entscheidung des 4. Senats (BSGE 62, 10 = SozR 2200 § 1254 Nr. 7), in dem die Umwandlung der BU-Rente in das Altersruhegeld unterblieben war, handelt es sich hier nicht um ein Unterlassen mit weitreichenden Rechtsfolgen für den Status des Betroffenen.
Zur Begründung der Ermessensentscheidung hätte der Beklagte die wesentlichen tatsächlichen und rechtlichen Gründe sowie die Gesichtspunkte mitteilen müssen, von denen er bei Ausübung des Ermessens ausgegangen ist (§ 35 Abs. 1 Sätze 2 und 3 SGB X). Dies wird er bei seiner erneuten Entscheidung nachzuholen haben.
In die Ermessenserwägung können einerseits die Gesichtspunkte eingehen, die die Verwaltung besonders belasten, insbesondere sehr hohe Nachzahlungssummen. Dagegen stehen die wirtschaftlichen Verhältnisse beim Berechtigten, die Frage, ob ihm der Nachzahlungsbetrag zugute kommt oder bei Überleitung auf andere öffentliche Träger übergeht und von welcher wirtschaftlichen Bedeutung der Nachzahlungsbetrag für ihn ist. Zu dieser Abwägung gehören nicht zuletzt Kausalitäts-und Verschuldensfragen dahingehend, wem in erster Linie Versäumnisse anzulasten sind. Dabei ist einerseits zu bedenken, daß die Verjährung von Ansprüchen nur noch im Rahmen der von Amts wegen festzusetzenden Leistungen von Bedeutung ist, weil die Antragstellung die Verjährung unterbricht (§ 45 Abs. 3 SGB I).
Daneben ist von Bedeutung, daß selbst bei den von Amts wegen festzustellenden Leistungen die Verwaltung häufig auf die Mitwirkung des Berechtigten angewiesen ist, wenn ihr eine Änderung des Familienstandes, die Zahl der zu berücksichtigenden Kinder usw (vgl. § 60 Abs. 3 BVG) nicht auf sonstige Weise bekannt wird. Hat sie aber alle notwendigen Kenntnisse, was insbesondere bei der Erreichung von bestimmten Altersgrenzen immer der Fall ist, liegt die unterlassene Zahlung praktisch ausschließlich in ihrem Verantwortungsbereich. Auch im vorliegenden Fall ist völlig unerheblich, daß der Beklagte den Altersruhegeldbescheid des Rentenversicherungsträgers nicht beachtet hat, nachdem er zu den Akten gelangt war. Dieser Bescheid hat dem Beklagten keine zusätzliche Information vermittelt; das Alter des Klägers ergibt sich schon aus dem Aktendeckel des Verwaltungsvorgangs. Weshalb die unrichtige Datenerfassung einen Fall minderen Verschuldens darstellen soll, ist nicht ersichtlich. Es hat über den Zeitraum von 17 Jahre an jeder Kontrolle gefehlt. Dem könnte allenfalls ein Mitverschulden des Berechtigten entgegengehalten werden, soweit er sich um seine Angelegenheiten nicht ausreichend kümmert. Das wird bei solchen Leistungen der Fall sein, die in der Bevölkerung allgemein bekannt sind und deren Erfüllung Berechtigte entgegensehen. Die Erhöhung der Grundrente bei Vollendung des 65. Lebensjahres zählt allerdings schwerlich zu dieser Art von Leistungen.
Diese Einzelabwägung hat jedoch der Beklagte vorzunehmen und nach seinem Ermessen darüber zu entscheiden, in welchem Umfang er die an sich geschuldete Nachzahlung mit Hilfe der Einrede der Verjährung verweigern will. Als offenbar rechtsmißbräuchlich kann die Berücksichtigung des Zeitablaufs vorliegend nicht gewertet werden. Ob dies der Fall ist, hängt stets von den Umständen des Einzelfalles ab. Abweichendes ist auch der Entscheidung des 4. Senats (BSGE 62, 10 = SozR 2200 § 1254 Nr. 7) nicht zu entnehmen, wie die Berufsrichter des Senats auf Anfrage mitgeteilt haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Auch wenn die angefochtenen Bescheide lediglich aufzuheben waren und die Leistungsklage nur deshalb keinen Erfolg hatte, weil eine Ermessensentscheidung zu treffen ist, hat kostenrechtlich die Klage Erfolg gehabt.9/9a RV 12/92
BUNDESSOZIALGERICHT
Fundstellen