Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird der Beschluß des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 17. Januar 1996 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt Arbeitslosenhilfe (Alhi) über den 31. März 1994 hinaus.
Er ist 1952 geboren und erhielt aufgrund beitragspflichtiger Beschäftigung vom 1. Mai bis 31. Oktober 1987 (Arbeitsbescheinigung vom 12. November 1987) ab 13. November 1987 (mit Unterbrechung) originäre Alhi. Zuletzt wurde ihm Alhi für die Zeit vom 1. November 1993 bis 31. Oktober 1994 bewilligt (Bescheid vom 11. November 1993). Im Februar 1994 wurde ihm mitgeteilt, die Alhi werde bis zum 31. März 1994 befristet, weil aufgrund des § 135a iVm § 242q Abs 10 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) eine Änderung in den rechtlichen Verhältnissen eingetreten sei (Bescheid vom 8. Februar 1994; Widerspruchsbescheid vom 13. April 1994). Das Sozialgericht (SG) hat die Klage, mit der der Kläger die Aufhebung des Bescheides vom 8. Februar 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. April 1994 begehrte, abgewiesen (Urteil vom 10. März 1995). Das Landessozialgericht (LSG) teilte den Beteiligten unter dem 20. Dezember 1995 mit, es erwäge eine Entscheidung nach § 153 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG); es werde Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 15. Januar 1996 gegeben. Der Bevollmächtigte des Klägers bat unter dem 15. Januar 1996 (Eingang am selben Tag) um Verlängerung der mit Verfügung vom 20. Dezember 1995 gesetzten Frist zur Stellungnahme bis 15. Februar 1996. Er müsse vor Abgabe einer entsprechenden Stellungnahme mit dem Kläger persönlich noch ein Sachverhaltsdetail klären. Dabei gehe es um die Frage, ob die Angabe des ehemaligen Arbeitgebers auf der Arbeitsbescheinigung (vom 12. November 1987) zutreffe, wonach der Kläger vom 1. Oktober 1986 bis 30. April 1987 beitragsfrei beschäftigt gewesen sei. Sollte diese Angabe unzutreffend sein, hätte er, der Kläger, im Zeitpunkt der Antragstellung (2. November 1987) Anspruch auf Arbeitslosengeld (Alg) gehabt, so daß sämtliche nachfolgenden Leistungen – ggf im Wege des sozialrechtlichen Herstellungsanspruchs – als abgeleitete und nicht als originäre Alhi-Ansprüche zu behandeln seien. Das LSG hat der Beklagten (unter dem 16. Januar 1996) eine Kopie des Schreibens des Klägerbevollmächtigten vom 15. Januar 1996 zugeleitet und durch Beschluß vom 17. Januar 1996 gemäß § 153 Abs 4 SGG die Berufung des Klägers zurückgewiesen.
Zur Begründung seiner Entscheidung hat das LSG ausgeführt: Die Aufhebung des Anspruchs auf originäre Alhi ab 1. April 1994 rechtfertige sich aus § 48 Abs 1 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren –. Die Neuregelung der §§ 135a, 242q Abs 10 AFG habe eine wesentliche Änderung in den rechtlichen Verhältnissen mit sich gebracht. Sie sei verfassungskonform. Die Eigentumsgarantie (Art 14 Abs 1 Grundgesetz ≪GG≫) sei nicht verletzt, weil die Alhi nicht aus Beiträgen, sondern aus Steuermitteln finanziert werde. Gegen den im Rechtsstaatsprinzip (Art 20 Abs 3 GG) wurzelnden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit sei nicht verstoßen worden, weil die Interessen des Klägers aufgrund der dramatischen Haushaltsentwicklung hinter den Belangen der Allgemeinheit zurückzutreten hätten. Schließlich sei kein Verstoß gegen den allgemeinen Gleichheitssatz (Art 3 Abs 1 GG) erkennbar; die unterschiedliche Behandlung der Empfänger von originärer Alhi und Anschluß-Alhi rechtfertige sich daraus, daß der Anspruch auf Anschluß-Alhi einen engen Bezug zur eigentumsgeschützten Position des Alg aufweise.
Der Kläger rügt mit der Revision eine Verletzung von § 62 SGG iVm Art 103 Abs 1 GG, §§ 103, 128 Abs 2, 136 Abs 1 Nr 6 SGG, § 202 SGG iVm § 227 Abs 1, Abs 2 Satz 3 Zivilprozeßordnung sowie Art 19 Abs 4 GG. Das LSG habe gegen die Sachaufklärungspflicht verstoßen, ihn, den Kläger, in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, den Antrag vom 15. Januar 1996, mit dem erhebliche Gründe für eine Vertagung vorgebracht worden seien, zu Unrecht nicht beschieden und hierfür keine entsprechende Begründung abgegeben, die Entscheidung auch nicht mit entsprechenden Gründen versehen und das Prinzip der Effektivität des Rechtsschutzes sowie die verfassungsrechtlichen Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des fairen Verfahrens mißachtet. Diese Verfahrensfehler seien für die zweitinstanzliche Entscheidung ursächlich geworden. Im Fall der Vertagung und Anhörung hätte er, der Kläger, unter Beweis gestellt, daß er nicht nur vom 1. Mai bis 31. Oktober 1987, sondern auch vom 1. Oktober 1986 bis 30. April 1987 in einem die Beitragspflicht begründenden Beschäftigungsverhältnis gestanden habe. Unter Berücksichtigung beider Zeiten hätte er ab 13. November 1987 einen Anspruch auf Alg und nach dessen Erschöpfung nicht einen Anspruch auf originäre Alhi, sondern auf Anschluß-Alhi gehabt. Ohne die aufgezeigten Verfahrensfehler wäre das LSG zu dem Ergebnis gelangt, daß ihm, dem Kläger, über den 31. März 1994 hinaus Anspruch auf Alhi zugestanden hätte.
Der Kläger beantragt,
den Beschluß des LSG und das Urteil des SG aufzuheben und die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 8. Februar 1994 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 13. April 1994 zu verurteilen, ihm Alhi über den 31. März 1994 hinaus zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das zweitinstanzliche Urteil in der Sache für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist iS der Aufhebung des zweitinstanzlichen Beschlusses und der Zurückverweisung an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Der Beschluß beruht auf einem vom Kläger ordnungsgemäß gerügten Verfahrensmangel (§§ 162, 164 Abs 2 Satz 3 SGG).
Die Rüge des Klägers, das LSG habe ihn in seinem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art 103 Abs 1 GG; §§ 62, 128 Abs 2 SGG) verletzt und damit zugleich gegen den Grundsatz des fairen Verfahrens (Art 19 Abs 4 GG) verstoßen, indem es ihm auf seinen Antrag vom 15. Januar 1996 hin keine Gelegenheit gegeben habe, darzutun und ggf unter Beweis zu stellen, daß er nicht nur vom 1. Mai bis 31. Oktober 1987, sondern auch schon vom 1. Oktober 1986 bis 30. April 1987 in einem die Beitragspflicht begründenden Beschäftigungsverhältnis gestanden und dadurch ab 13. November 1987 einen Anspruch auf Alg und nach dessen Erschöpfung nicht einen Anspruch auf originäre Alhi, sondern auf Anschluß-Alhi erworben habe, greift durch.
Wie der erkennende Senat zuletzt in seinem Urteil vom 28. November 1996 – 7 RAr 118/95 – (zur Veröffentlichung vorgesehen) unter Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) herausgestellt hat, ist es unzulässig, durch übermäßig strenge Handhabung verfahrensrechtlicher Schranken den Anspruch auf gerichtliche Durchsetzung des materiellen Rechts unzumutbar zu verkürzen (vgl zum Zivilprozeß: BVerfGE 84, 366, 369 f; Jarras/Pieroth, GG, 3. Aufl 1995, Art 20 Rz 66 mwN); formale Strenge darf im Prozeß nicht ohne erkennbar schutzwürdigen Zweck praktiziert werden (BSG SozR 3-1750 § 227 Nr 1). Der Anspruch auf effektiven Rechtsschutz nach Art 19 Abs 4 GG (vgl zum Verhältnis dieser Norm zum Rechtsstaatsprinzip des Art 20 Abs 3 GG: BVerfGE 83, 182, 194) wird deshalb verletzt, wenn die Gestaltung des Verfahrens nicht in angemessenem Verhältnis zu dem auf Sachverhaltsklärung und Verwirklichung des materiellen Rechts gerichteten Verfahrensziel steht (BVerfGE 88, 118, 124, 126 ff) und insbesondere eine Rücksichtnahme auf Verfahrensbeteiligte in der konkreten Situation vermissen läßt (BVerfGE 78, 123, 126). Hiergegen hat das LSG dadurch verstoßen, daß es auf den Antrag des Klägers vom 15. Januar 1996 (Eingang am selben Tag), die Frist zur Stellungnahme hinsichtlich einer Entscheidung gemäß § 153 Abs 4 SGG bis zum 15. Februar 1996 zu verlängern, nicht reagierte, insbesondere nicht die erbetene Frist (15. Februar 1996) abwartete bzw nicht mündliche Verhandlung anberaumte, sondern schon am 17. Januar 1996 durch Beschluß gemäß § 153 Abs 4 SGG die Berufung des Klägers zurückwies. Dem Kläger wurde dadurch die Möglichkeit genommen, zur Frage des Bestehens eines Anspruchs auf Anschluß-Alhi Stellung zu nehmen, der – im Unterschied zum Anspruch auf originäre Alhi – in seiner Dauer durch die Neuregelung der §§ 135a, 242q Abs 10 Nr 2 AFG nicht berührt wurde.
Nachvollziehbare Gründe für das Vorgehen des LSG sind weder in der angefochtenen Entscheidung mitgeteilt noch sonst ersichtlich. Insbesondere liegen keine Anhaltspunkte für eine „Prozeßverschleppung” seitens des Klägers vor. Seine Berufung ging am 31. Mai 1995, die Erwiderung der Beklagten am 6. Oktober 1995 beim LSG ein. Dieses übersandte dem Bevollmächtigten des Klägers unter dem 6. Oktober 1995 wunschgemäß die Verwaltungsakten für 10 Tage mit der Bitte, den Vortrag bis zum 10. November 1995 zu ergänzen, soweit das nötig erscheine. Am 24. Oktober 1995 gelangten die Verwaltungsakten an das LSG zurück. Unter dem 20. Dezember 1995 erfolgte sodann die Mitteilung des LSG, es erwäge eine Entscheidung nach § 153 Abs 4 SGG; es werde Gelegenheit zur Stellungnahme bis zum 15. Januar 1996 gegeben. Der Bevollmächtigte des Klägers hat deshalb unter dem 15. Januar 1996 nicht, wie er schreibt, um „letztmalige”, sondern um „erstmalige” Verlängerung der mit Verfügung vom 20. Dezember 1995 gesetzten Frist ersucht. Bei dieser Sachlage bestand für das LSG überhaupt kein Grund, dem Verlängerungsantrag nicht stattzugeben, zumal in die vom LSG vorgesehene Frist die Weihnachtsferien fielen, in denen der Kläger für eine Rücksprache mit seinem Bevollmächtigten möglicherweise nur schwer zu erreichen war.
Der die Berufung des Klägers zurückweisende Beschluß des LSG beruht auch auf der Verletzung des rechtlichen Gehörs und damit der Pflicht zur Gewährleistung eines fairen Verfahrens. Es kann nicht ausgeschlossen werden, daß das LSG – wenn der Klägerbevollmächtigte Gelegenheit erhalten hätte, sich zur Frage der beitragspflichtigen Beschäftigung (auch) in der Zeit vom 1. Oktober 1986 bis 30. April 1987 zu äußern – zu einer dem Kläger günstigeren Entscheidung, nämlich zur Annahme eines Anspruchs auf Alg ab 13. November 1987, eines sich anschließenden Anspruchs auf Anschluß-Alhi und damit eines Alhi-Anspruchs über den 31. März 1994 hinaus, gelangt wäre.
Offenbleiben kann, ob die weiteren vom Kläger geltend gemachten Verfahrensmängel vorliegen und zu einer Aufhebung des zweitinstanzlichen Beschlusses und zur Zurückverweisung der Sache an das LSG führen würden.
Für seine neue Entscheidung wird das LSG vorsorglich auf die zwischenzeitlich ergangenen Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) hingewiesen, wonach die Neuregelung der §§ 135a, 242q Abs 10 Nr 2 AFG mit der Verfassung in Einklang steht (BSG, Urteile vom 29. Januar 1997 – 11 RAr 43/96 – und 23. April 1997 – 7 RAr 16/97 –, beide zur Veröffentlichung vorgesehen). Auch wird das LSG über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen