Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 01.12.1993; Aktenzeichen L 3 U 22/93)

 

Tenor

Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 1. Dezember 1993 wird zurückgewiesen.

Die Beklagte hat dem Kläger auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der Kläger erlitt am 17. März 1988 einen Arbeitsunfall. Die Beklagte gewährte ihm mit Bescheid vom 10. Mai 1989 eine vorläufige Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 20 vH. In seinem Gutachten vom 1. August 1989 kamen der Oberarzt des Evangelischen Stifts S. M. …, K. …, Dr. W. … und Dr. D. … zu dem Vergleich zum maßgeblichen Vorgutachten sei eine Änderung der Befunde nicht eingetreten; die unfallbedingte MdE betrage 20 vH. In dem Gutachten zur erstmaligen Feststellung der Dauerrente vom 15. Dezember 1989 schätzten der Oberarzt dieses Krankenhauses Dr. L. und Dr. G. … die unfallbedingte MdE mit 10 vH.

Mit Schreiben vom 29. Dezember 1989 – beim Kläger eingegangen am 3. Januar 1990 – teilte die Beklagte dem Kläger mit: Nach dem Ergebnis der letzten ärztlichen Untersuchung bedingten die Folgen des Unfalles nur noch eine MdE um 10 vH; es sei beabsichtigt, die bisher gewährte Rente zu entziehen. Er könne sich schriftlich innerhalb von zwei Wochen nach Empfang dieses Schreibens äußern. Eine Ablichtung des Gutachtens fügte die Beklagte ihrem Schreiben bei.

Mit einem von der Beklagten am 18. Januar 1990 abgestempelten Schreiben vom 15. Januar 1990 bat der Kläger um eine angemessene Verlängerung der Frist, da er die gutachterlichen Feststellungen mit seinem behandelnden Arzt besprechen möchte. Sein Arzt sei derzeit urlaubsbedingt abwesend. Eine Besprechung werde erst gegen Ende Januar 1990 möglich sein.

Die Beklagte beantwortete den Antrag nicht. Mit Bescheid vom 24. Januar 1990 (zugestellt am 27. Januar 1990) lehnte sie die Gewährung einer Dauerrente ab, entzog die vorläufige Rente und stellte die Verletztenrente mit Wirkung vom 1. März 1990 ein, da eine unfallbedingte MdE im rentenberechtigenden Grade nicht mehr vorliege. Außerdem wurden die Unfallfolgen neu bezeichnet.

Der Kläger hat gegen die Entziehung der vorläufigen Rente und der Ablehnung der Dauerrente Klage erhoben. Er hat ua gerügt, die Entscheidung sei schon wegen der nicht gewährten Verlängerung der Frist zur Anhörung formell fehlerhaft.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen, da die unfallbedingte MdE lediglich noch 10 vH betrage (Urteil vom 4. Februar 1993).

Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) das Urteil des SG aufgehoben sowie den Bescheid der Beklagten vom 21. Januar 1990 geändert und die Beklagte verurteilt, dem Kläger die Verletztenrente nach einer MdE um 20 vH über den 28. Februar 1990 hinaus als Dauerrente zu zahlen (Urteil vom 1. Dezember 1993). Zur Begründung hat es ua ausgeführt: Könne der betroffene Bürger schuldlos die ihm gesetzte Frist zur Äußerung nicht einhalten, so müsse ihm der Versicherungsträger eine angemessene Fristverlängerung gewähren. Der Kläger sei schuldlos an der Einhaltung der Frist gehindert gewesen, da sein Arzt sich in Urlaub befand, der seinen – des Klägers – Gesundheitszustand habe am besten beurteilen können. Zudem habe der Kläger nach seinen glaubhaften Angaben vergeblich versucht, von der Vertreterin eine Stellungnahme zu erhalten. Damit sei den Anforderungen an die Anhörungspflicht nicht hinreichend Genüge getan, so daß der angefochtene Bescheid – hinsichtlich der Rentenentziehung und Ablehnung einer Dauerrente – ohne weiteres aufzuheben sei.

Zur Begründung ihrer vom LSG zugelassenen Revision trägt die Beklagte vor: Bei Eingang des Schreibens des Klägers mit der Bitte um Fristverlängerung sei die Frist von zwei Wochen bereits um einen Tag abgelaufen gewesen. Genausogut wie dem Verwaltungsträger von der Rechtsprechung das Risiko der Nichteinhaltung von bestimmten Fristen iS des 622 Abs 2 oder auch § 623 Abs 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO) angelastet werde, müsse sich auch der Kläger anrechnen lassen, daß sein behandelnder Arzt in Urlaub oder sonstwie nicht erreichbar sei. Hier wäre es dem Kläger zudem unter Einhaltung der Anhörungsfrist von zwei Wochen ohne weiteres möglich gewesen, sich von einem anderen Arzt als dem nach ihren Unterlagen ihn behandelnden Unfallarzt eines Krankenhauses oder auch der Oberärztin als Vertreterin des Chefarztes beraten zu lassen, insbesondere wenn er auf die von der Beklagten gesetzte Frist zur Äußerung hingewiesen hätte. Im übrigen habe auch nicht unbedingt damit gerechnet werden können, daß der behandelnde Arzt sich überhaupt zu dem Gutachten äußern würde. Auf eine rückwirkende Verlängerung der Anhörungsfrist bestehe kein Rechtsanspruch. Im übrigen hätte das Zuwarten mit der Entscheidung im Hinblick auf die angeführten Vorschriften zu Rechtsnachteilen für den Sozialversicherungsträger geführt, der mit den Vermögenswerten seiner Mitglieder im Sinne einer ordnungsgemäßen Verwaltung umgehen müssen und nicht beliebig Leistungen verlängern könne. Der Kläger hätte auch den Rechtsbehelf des Widerspruchs gegen den Verwaltungsakt der Beklagten einlegen können und dann mehr Zeit erhalten, um sich beraten und mit der Berufsgenossenschaft (BG) auseinandersetzen zu können. Der Kläger, der zu seinem Unfallversicherungsschutz keine nennenswerten Leistungen aufbringe, könnte sonst durch beliebige Fristverlängerungsanträge und die gesetzlichen Gestaltungsmöglichkeiten im Rechtsbehelfsverfahren zu Lasten der Mitgliedergemeinschaft einer BG Leistungen erzielen bzw verlängert erhalten, die weit über eine Entschädigung für seine Unfallverletzung hinausgingen.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 1. Dezember 1993 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Trier vom 4. Februar 1993 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision ist unbegründet.

Das LSG hat im Ergebnis zutreffend und mit überzeugender Begründung, der sich der Senat in vollem Umfange anschließt, entschieden, daß die nach § 24 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuchs (SGB X) erforderliche Anhörung vor Erlaß des Bescheides über die Entziehung der vorläufigen Rente und der Ablehnung einer Dauerrente (s BSG SozR 1200 § 34 Nrn 4, 9, 12, SozR 1300 § 24 Nrn 2 und 6; BSGE 71, 104) nicht ordnungsgemäß erfolgt und der angefochtene Bescheid somit rechtswidrig ist (s § 41 Abs 1 Nr 3, Abs 2, § 42 Satz 1 und 2 SGB X). Die Beklagte hat dem Kläger keine angemessene Zeit gewährt, sich zu den für die Entscheidung erheblichen Tatsachen zu äußern.

Das Bundessozialgericht (BSG) geht nunmehr in ständiger Rechtsprechung davon aus, daß in Fällen der vorliegenden Art, in denen also ein Versicherter Gelegenheit haben soll, sich zur beabsichtigten Rentenentziehung aufgrund eines medizinischen Gutachtens zu äußern, eine Frist von zwei Wochen als angemessen erscheint (BSGE 71, 104, 105). Diese Frist ist unter Ausschluß der Postlaufzeiten zu berechnen und gilt in der Regel als Mindestfrist für Sachverhalte, bei denen dem Betroffenen die Einholung einer ärztlichen Ansicht ermöglicht werden soll. Beim Vorliegen besonderer Umstände des Einzelfalles kann die Verwaltung auch verpflichtet bzw berechtigt sein, eine längere bzw kürzere Äußerungsfrist einzuräumen (BSGE aaO). Dabei bleibt es dem Leistungsträger überlassen, ob er dem Betroffenen im Anhörungsschreiben ein bestimmtes Datum vorgibt, das mindestens zwei Wochen zuzüglich der normalen Postlaufzeiten (zum und vom Betroffenen) nach dem Datum der Absendung des Anhörungsschreibens beim Leistungsträger zu liegen hätte, oder ob er dem Betroffenen eine Äußerungsfrist zB „drei Wochen nach Erhalt” des Anhörungsschreibens (also unter Einbeziehung der Postlaufzeit) setzt (BSGE aaO S 106).

Auf der Grundlage dieser Maßstäbe war bereits die dem Kläger gesetzte Anhörungsfrist von zwei Wochen nach Erhalt des Anhörungsschreibens zu kurz, da dem Schreiben der Beklagten vom 29. Dezember 1989 nicht zu entnehmen war, daß die Frist ausschließlich der Postlaufzeit für die Antwort des Klägers festgelegt war.

Dessen ungeachtet war die Anhörung des Klägers auch deshalb nicht ordnungsgemäß, weil ihm keine angemessene Fristverlängerung gewährt wurde.

Die von der Behörde gesetzte Frist ist keine gesetzliche Frist, sondern eine behördliche Frist, die lediglich das Ende des Zeitraumes markiert, den die Behörde als angemessen für eine Äußerung ansieht (BSG SozR 1300 § 24 Nr 4; KassKomm-Krasney § 24 SGB X RdNr 18; Schroeder-Printzen/von Wulffen, SGB X, 2. Aufl, § 24 Anm 5.2). Die Behörde kann und muß deshalb die Frist verlängern, wenn dies zur Wahrung des durch § 24 SGB X vorgeschriebenen rechtlichen Gehörs wegen besonderer Umstände des Einzelfalles erforderlich ist (BSGE aaO S 105; BSG SozR 1300 § 26 Nr 2; KassKomm-Krasney aaO). Die Verlängerung einer behördlichen Frist kann auch noch nach ihrem Ablauf beantragt und gewährt werden (BSGE 60, 266, 271; Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, 11. Aufl, S 231u I; KassKomm-Krasney § 26 SGB X RdNr 10; Schroeder-Printzen/von Wulffen aaO § 26 Anm 12). Außerdem war die Frist entgegen der Ansicht der Beklagten noch nicht abgelaufen. Sie begann am 4. Januar 1990 (s § 26 Abs 2 SGB X) und endete unter Berücksichtigung einer Postlaufzeit von nur einem Tag frühestens am 18. Januar 1990 und somit an dem Tag, an dem das Schreiben des Klägers vom 15. Januar 1990 bei der Beklagten abgestempelt wurde.

Ob unter den besonderen Umständen des Einzelfalles eine für den typischen Normalfall angenommene Frist von zwei Wochen unangemessen kurz war, ist von den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit im vollen Umfange nachprüfbar (BSG SozR 1200 § 34 Nr 12 sowie SozR 1300 § 24 Nr 4). Das LSG hat auch insoweit mit Recht entschieden, daß nach den vom Kläger vorgetragenen Umständen eine Anhörungsfrist von 14 Tagen unangemessen kurz war. Die Einräumung einer angemessenen Frist zur Äußerung soll nach der Rechtsprechung des BSG es dem Betroffenen ermöglichen, sich mit seinem behandelnden Arzt oder einer mit dem Sozialrecht vertrauten Person zu beraten (BSGE 71, 104, 105). Grundsätzlich reicht hierfür in der Regel eine Frist von 14 Tagen – unter Ausschluß der Postlaufzeit -aus. Dies gilt aber nicht, wenn besondere Umstände eine längere Zeit gebieten. Das ist ua dann der Fall, wenn der behandelnde Arzt sich im Urlaub befindet, wie das LSG eingehend und überzeugend dargelegt hat. Entgegen der Auffassung der Revisionsklägerin sind diese Umstände im Rahmen der angemessenen Anhörungsfrist durchaus zu beachten. Der Hinweis der Revision, daß auch dem Verwaltungsträger das Risiko der Nichteinhaltung von bestimmten Fristen iS des § 622 Abs 2 RVO und § 623 Abs 2 RVO angelastet werde, geht schon deshalb fehl, weil es insoweit gesetzliche Fristen betrifft, die von der Verwaltung nicht verlängert werden können. Anders ist es bei der für eine Stellungnahme im Rahmen der Anhörung gesetzten Frist, bei der es sich – wie bereits erwähnt – eben nicht um eine gesetzliche, sondern nur um eine behördliche und auf den jeweiligen Einzelfall abgestellte Frist handelt. Die von der Rechtsprechung für den typischen Regelfall angenommene Mindestfrist von zwei Wochen soll lediglich die allgemeine Verwaltungsübung erleichtern, ohne aber den sich aus dem Gesetz ergebenden Grundsatz zu ändern, daß es sich nach den jeweiligen Umständen des Einzelfalles entscheidet, welche Zeit für die Gelegenheit zur Äußerung iS des § 24 SGB X angemessen ist. Diese Frist muß es im angemessenen Rahmen dem Betroffenen auch ermöglichen, den Rat seines behandelnden Arztes einzuholen. Ist dies wegen besonderer Umstände – zB wegen des Urlaubs des behandelnden Arztes – nicht möglich, so muß dem Betroffenen grundsätzlich die Möglichkeit gegeben werden, den Arzt nach Beendigung seines Urlaubes um ein Gespräch zu bitten. Dies gilt jedenfalls dann, wenn der Urlaub – wie dies im vorliegenden Fall – nicht unangemessen lang war.

Nachdem die Beklagte innerhalb einer nicht angemessenen Frist ihre Entscheidung gefällt hatte, stand es dem Kläger auch im Hinblick auf die unterlassene Anhörung nach dem damaligen Recht frei, unmittelbar Klage zu erheben (s BSG SozR 1200 § 34 Nr 4; KassKomm-Krasney § 24 SGB X RdNr 16). Soweit die Beklagte darauf hinweist, daß es den Versicherten nicht freistehen könne, „durch beliebige Fristverlängerungsanträge und die gesetzlichen Gestaltungsmöglichkeiten im Rechtsbehelfsverfahren zu Lasten der Mitgliedergemeinschaft einer Berufsgenossenschaft Leistungen” zu erzielen bzw zu erhalten, gibt der vorliegende Fall keinen Anlaß zu einer näheren Stellungnahme, da es sich beim Kläger nicht um „beliebige Fristverlängerungsanträge” gehandelt hat. Dem Umstand, daß die Beiträge zur gesetzlichen Unfallversicherung von den Arbeitgebern allein aufgebracht werden, mißt das BSG in seiner Rechtsprechung zu § 24 SGB X keine Bedeutung bei, was nicht allein darauf beruht, daß dieses Argument bisher – soweit ersichtlich – von keinem Unfallversicherungsträger vorgebracht wurde.

Schließlich geht der Hinweis der Beklagten fehl, sie müsse mit den Vermögenswerten ihrer Mitglieder iS einer ordnungsgemäßen Verwaltung umgehen und können nicht beliebig Leistungen verlängern. Es geht auch insoweit nicht um eine „beliebige”, sondern um eine sachgerechte Verlängerung der Frist zur Wahrung des verfassungsrechtlich gebotenen und gesetzlich festgelegten rechtlichen Gehörs (§ 62 SGG, Art 103 Nr 1 des Grundgesetzes). Die Beklagte hätte zudem nach einer Fristverlängerung – wie beantragt – bis Ende Januar 1990 noch mit einem bis Mitte März 1990 zugestellten Bescheid die vorläufige Rente entziehen und die Umwandlung der vorläufigen Rente in die Dauerrente kraft Gesetzes (§ 622 Abs 1 Satz 1 RVO) verhindern können (BSGE 29, 73).

Das LSG hat demnach zutreffend den angefochtenen Bescheid hinsichtlich der Entziehung der vorläufigen Rente und Ablehnung der Dauerrente aufgehoben mit der Folge, daß dem Kläger die Verletztenrente – wie bisher – nach einer MdE um 20 vH über den 28. Februar 1990 hinaus nunmehr als Dauerrente zu zahlen ist (§ 622 Abs 2, § 1585 Abs 2 RVO).

Die Revision war daher zurückzuweisen.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173486

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