Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 25.06.1991)

 

Tenor

Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Juni 1991 wird zurückgewiesen.

Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der Kläger begehrt den Kindergeldzuschlag für das Jahr 1986 aufgrund einer Antragstellung im Jahre 1988 unter nachträglicher Erwirkung eines Einkommensteuerbescheides ohne Steuerschuld.

Der im Jahre 1913 geborene Kläger bezieht Altersruhegeld. Das Finanzamt hatte ihn seit 1983 nicht mehr zur Einkommensteuer veranlagt, da sich kein festzusetzender Steuerbetrag ergab. Für seinen im Jahre 1965 geborenen Sohn Adelbert erhielt er bis zu dessen Abitur im Juni 1986 Kindergeld. Anläßlich der Beendigung von dessen Schulausbildung sowie Einberufung zum Wehrdienst sprach der Kläger im Juli sowie September 1986 bei der Beklagten vor. Nach Wiederbewilligung des Kindergeldes ab Oktober 1987 beantragte der Kläger im Januar 1988 den Kindergeldzuschlag für 1987 und erweiterte diesen Antrag am 12. Februar 1988 zur Niederschrift der Beklagten auf die Monate Januar bis Juni 1986. Die Beklagte lehnte mit Bescheid vom 24. März 1988 und Widerspruchsbescheid vom 11. Juli 1988 den Antrag für 1986 als verspätet ab. Das Finanzamt erteilte dem Kläger auf eine 1988 abgegebene Einkommensteuer-Erklärung unter dem 22. September 1988 einen Einkommensteuer-Bescheid für 1986, in dem bei einem zu versteuernden Einkommen von DM 879,– eine Steuer in Höhe von DM 0,– festgesetzt wird.

Klage und (die vom SG zugelassene) Berufung hatten keinen Erfolg. Das Landessozialgericht (LSG) führte in seinem Urteil vom 25. Juni 1991 aus, der Kläger habe rechtsmißbräuchlich das Veranlagungsverfahren längst nach Ablauf der Erklärungsfrist nach § 149 Abs 2 Abgabenordnung (AO) ausschließlich zu dem Zweck in Gang gesetzt, um das Fristversäumnis nach dem Bundeskindergeldgesetz (BKGG) ungeschehen zu machen. Die Antragsfrist der 2. Alternative des § 11a Abs 7 Satz 2 BKGG sei nur dann einschlägig, wenn am Ende des fraglichen Veranlagungsjahres ein Veranlagungsverfahren in Aussicht stehe, sich aber hinauszögere. Auf einen sozialrechtlichen Herstellungsanspruch könne sich der Kläger nicht berufen. Bei den Vorsprachen des Klägers im Jahre 1986 habe für den Sachbearbeiter der Beklagten kein Anlaß bestanden, auf den Anspruch auf Kindergeldzuschlag für dieses Jahr hinzuweisen.

Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 11a Abs 7 Satz 2 BKGG sowie der Art 3 und 20 Grundgesetz (GG). Die Möglichkeit, den Kindergeldzuschlag nach der 2. Alternative dieser Vorschrift nachträglich zu beantragen, sei nach dem Wortlaut des Gesetzes nicht eingeschränkt. Es wäre willkürlich, diese Antragsfristen gegen den Wortlaut eng auszulegen. Ein Rechtsmißbrauch liege nicht vor. Die Abgabe einer Steuererklärung verstoße weder gegen das Gesetz noch gegen die guten Sitten. Die Rechtsfolge, daß er den ihm materiell-rechtlich zustehenden Kinderzuschlag erhalte, sei mit der Rechtsordnung durchaus zu vereinbaren. Allein der Umstand, daß jemand bewußt die Tatbestandsvoraussetzungen für ein ihn begünstigendes Gesetz herbeiführe, könne kein Rechtsmißbrauch sein. Weiterhin stehe ihm der sozialrechtliche Herstellungsanspruch zur Seite. Für den Sachbearbeiter der Beklagten habe es angesichts des ihm bekannten Einkommens nahegelegen, ihn auf die Möglichkeit des Kindergeldzuschlags hinzuweisen.

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Bescheides vom 24. März 1988 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11. Juli 1988 sowie der Urteile des Sozialgerichts Freiburg vom 27. Februar 1989 und des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Juni 1991 die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Kindergeldzuschlag für seinen Sohn Adelbert in der Zeit vom 1. Januar bis 30. Juli 1986 zu gewähren;

hilfsweise, die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.

Die Beklagte beantragt,

die Revision gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 25. Juni 1991 zurückzuweisen.

Die erweiterte Antragsfrist nach § 11a Abs 7 Satz 2, 2. Alternative BKGG betreffe nur die Fälle, in denen nach dem Einkommensteuergesetz (EStG) eine Veranlagungspflicht bestehe oder nach Abzug von Lohnsteuer der Lohnsteuerjahresausgleich beantragt werde. Für sie bestehe jedoch kein sachlicher Grund, wenn – wie im vorliegenden Fall – auf Betreiben des Berechtigten ein Steuerbescheid erlassen wird, obwohl die steuerliche Situation bereits geklärt sei. Dem Kläger stehe auch kein Herstellungsanspruch zur Seite. Ein Beratungsbedürfnis bezüglich der Beantragung von Kindergeldzuschlag sei bei den Vorsprachen des Klägers im Jahre 1986 nicht erkennbar gewesen. Die Einkommensverhältnisse des Klägers seien nicht erörtert worden; der Kläger habe nur Erstkindergeld erhalten, so daß sein Einkommen kindergeldrechtlich ohne Belang gewesen sei.

 

Entscheidungsgründe

II

Im Einverständnis der Beteiligten konnte der Senat ohne mündliche Verhandlung entscheiden (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

Die zulässige Revision des Klägers ist nicht begründet.

Sein im Jahre 1988 gestellter Antrag auf Kindergeldzuschlag für 1986 war verspätet. Für ihn galt nur die 1. Alternative der Antragsfrist nach § 11a Abs 7 Satz 2 BKGG (6 Monate nach Ablauf des Jahres, für das der Kindergeldzuschlag zu leisten ist) und nicht auch die 2. Alternative (6 Monate nach der Steuerfestsetzung, wenn die Steuer erst nach Ablauf dieses Jahres festgesetzt wird).

Nach Sinn und Zweck der genannten Vorschrift ist die Frist nach der 1. Alternative als Regel aufzufassen, die Frist der 2. Alternative hingegen als Ausnahmetatbestand.

Dies erschließt sich zwar aus den Materialien des Elften Gesetzes zur Änderung des BKGG vom 27. Juli 1985 (BGBl I 1251) nicht unmittelbar. Die Vorschrift des § 11a Abs 7 BKGG blieb während der Beratungen unverändert. Sie wurde in der amtlichen Begründung wie folgt erläutert: „Der Zuschlag soll sich nach den Einkommensverhältnissen des Jahres bemessen, für das er zu zahlen ist. Das läßt sich praktisch nur bewältigen, wenn über die Zahlung endgültig erst nach Ablauf dieses Jahres entschieden wird, also dann, wenn die steuerliche Behandlung des Einkommens abgeschlossen ist” (BT-Drucks 10/2886, S 7 unter Nr 7).

Bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt sich jedoch, daß jene zweite Frist nur unter einer weiteren Voraussetzung gewährt werden soll, nämlich dann, „wenn die Steuer erst nach Ablauf dieses Jahres (für das der Kindergeldzuschlag zu leisten ist) festgesetzt wird”. Dieses zusätzliche Erfordernis ist zwar im Grunde überflüssig, da die Festsetzung der Einkommensteuer noch im Steuerjahr kaum vorstellbar ist. Es weist jedoch auf die Vorstellung des Gesetzgebers hin, jene die Antragsmöglichkeiten erweiternde Frist nur dann zu eröffnen, wenn die steuerlichen Verhältnisse nicht bereits bei Ablauf des Steuerjahres (und Leistungsjahres für den Kindergeldzuschlag) offensichtlich die Feststellung des Anspruchs auf den Kindergeldzuschlag ermöglichen. Hierbei ist auch auf die Sicht des Betroffenen (hier: des Klägers) abzustellen, da sich die objektive Rechtslage uU erst nach einem langwierigen Steuerverfahren herausstellen kann.

Im vorliegenden Fall war auch für den Kläger bereits Ende 1986 klar ersichtlich, daß er für dieses Jahr keine Einkommensteuer würde zahlen müssen, auch ohne daß hierbei der Kinderfreibetrag eine Rolle spielen würde. Nach den nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffenen Feststellungen des LSG war der Klägers bereits seit 1983 nicht mehr zur Einkommensteuer veranlagt worden, da sich kein festzusetzender Steuerbetrag ergab. Seine Einkommens- und Vermögensverhältnisse hatten sich auch im Jahre 1986 insoweit nicht geändert. Mit dem LSG kann dies auch nicht daraus hergeleitet werden, daß der Kläger nach seinen Angaben im Jahre 1986 zusätzlich geringfügige Mieteinnahmen (Vermietung eines Zimmers an einen Verwandten im November und Dezember) hatte. Denn diese Einnahmen hat er noch nicht einmal in seiner 1988 abgegebenen Steuererklärung für 1986 angegeben; sie waren zudem nach den Feststellungen des LSG von Art und Umfang her nicht geeignet, die steuerliche Situation für das Veranlagungsjahr 1986 zu ändern.

Wenn aber bei unveränderten Verhältnissen gegenüber den Vorjahren ein steuerpflichtiges Einkommen von lediglich unter DM 1.000,– erzielt wird, liegt angesichts der Höhe des Grundfreibetrages nach § 32a Abs 1 Nr 1 Einkommensteuergesetz (für 1986 DM 4.536,–) offensichtlich sowohl in steuerrechtlicher Hinsicht (Steuerschuld = 0,–) als auch in kindergeldrechtlicher Hinsicht (volle Nichtausschöpfung des Kinderfreibetrages, also Anspruch auf den vollen Kindergeldzuschlag: § 11 Abs 6 BKGG) eine eindeutige Situation vor, auch ohne daß es einer Klärung durch Steuerfestsetzung im Sinne des § 11a Abs 7 Satz 2 BKGG bedurfte.

Ist aber § 11a Abs 7 Satz 2 BKGG dahingehend auszulegen, daß die Antragsfrist nach § 11a Abs 7 Satz 2, 2. Alternative BKGG nur demjenigen zur Verfügung steht, bei dem eine Steuerfestsetzung aus steuer- oder kindergeldrechtlicher Sicht entweder objektiv geboten war oder zumindest subjektiv – aus der Sicht des Betroffenen – für notwendig gehalten werden durfte, bedarf es keines Eingehens auf die vom LSG für wesentlich gehaltene Frage, ob der Kläger seinen Einkommensteuerbescheid für 1986 rechtsmißbräuchlich erwirkt hat. Dahinstehen kann deshalb, ob ein derartiger Einwand dem Kläger etwa von den Finanzbehörden in einem Verfahren auf Erteilung eines entsprechenden Bescheides entgegengehalten werden könnte und ob ein derartiger Rechtsmißbrauch auch im Verfahren über den Kindergeldzuschlag noch erheblich sein kann. Hiergegen könnte sprechen, daß aus § 11a Abs 1 Satz 2 BKGG eine Bindung der Kindergeldbehörden an Entscheidungen der Finanzverwaltung zu entnehmen ist, so daß an deren Grundlagen im Verfahren über den Kindergeldzuschlag nicht mehr gerüttelt werden kann.

Anhaltspunkte für eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 27 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch ≪SGB X≫) hinsichtlich der versäumten Antragsfrist bestehen nicht. Die mangelnde Kenntnis gesetzlicher Ansprüche und hierfür geltender Fristen begründet keine unverschuldete Hinderung an ihrer Einhaltung (vgl BSG vom 10. April 1985, SozR 4100 § 141e Nr 8 S 24 f).

Dem Kläger steht auch kein Herstellungsanspruch zur Seite. Für die Beklagte bestand kein Anlaß zu einer spontanen Beratung des Klägers über einen evtl Anspruch auf Kindergeldzuschlag für das erste Halbjahr 1986. Er macht nicht geltend, trotz eines Beratungs- oder Auskunftsersuchens von der Beklagten hinsichtlich seines Anspruchs auf Kindergeldzuschlag falsch beraten worden zu sein. Demnach könnte sich ein Herstellungsanspruch lediglich darauf gründen, daß die Beklagte eine an sich gebotene Beratung unterlassen hat. Auch ohne ein entsprechendes Ersuchen hat ein Leistungsträger einen Betroffenen von sich aus zu belehren, wenn sich in einem laufenden Verfahren klar zu Tage liegende Gestaltungsmöglichkeiten zeigen, deren Wahrnehmung offensichtlich so zweckmäßig ist, daß sie jeder verständige Betroffene mutmaßlich nutzen würde (vgl BSG vom 27. September 1983, SozR 1200 § 14 Nr 15 mwN). Eine derartige Gestaltungsmöglichkeit war der Antrag auf Kindergeldzuschlag im Falle des Klägers bei dessen Vorsprachen bei der Beklagten im Jahre 1986 jedoch nicht. Da er damals nicht mehr laufend Kindergeld bezog, kam ein Antrag nach § 11a Abs 8 BKGG (hierzu der Senat im Urteil vom 3. April 1990, SozR 3-5850 § 11a Nr 1 S 3) nicht in Betracht. Die Antragsfrist für den Kindergeldzuschlag nach § 11a Abs 7 Satz 2 BKGG lief noch nicht. Zu dem waren für die Beklagte die steuerlichen Verhältnisse des Klägers nicht ersichtlich. Sein Einkommen war für die Zahlung des von ihm lediglich bezogenen Erstkindergeldes unerheblich (§ 10 Abs 1 Satz 1 iVm Abs 2 BKGG). Auch konnte bei den Vorsprachen des Klägers im Juli und September 1986, also vor Jahresschluß, das nach § 11a BKGG maßgebende zu versteuernde Einkommen für jenes Jahr noch nicht feststehen.

Die Entscheidung über die Kosten beruht auf § 193 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1172681

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