Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 27. Januar 1984 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I.
Der 1934 geborene Kläger, italienischer Staatsangehöriger, hat keinen Beruf erlernt. Seit seinem Zuzug in die Bundesrepublik im Jahre 1965 war er überwiegend als Verputzer beschäftigt. Im Juni 1973 ist ihm vom Feststellungsausschuß der Tarifvertragsparteien im Beruf des Stukkateurs die „Feststellung als Facharbeiter i.S. des Bundesrahmentarifvertrags für das Baugewerbe vom 1. April 1971 ausgesprochen” worden.
Nachdem er 1979 wegen eines Genitalkarzinoms operiert worden war, hatte ihm die beklagte Landesversicherungsanstalt (LVA) von Dezember 1979 bis Juni 1981 auf Zeit Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU) bewilligt (Bescheide vom 5. März und 9. April 1981).
Den im April 1981 gestellten Antrag des – inzwischen nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) von 100% als Schwerbehinderter anerkannten – Klägers auf Weitergewährung der Versichertenrente lehnte die Beklagte mit dem streitigen Bescheid vom 25. September 1981 unter Bezug darauf ab, daß kein Krankheitsrückfall eingetreten sei.
Der dagegen erhobenen Klage hat das Sozialgericht (SG) nach ärztlicher Untersuchung und Begutachtung stattgegeben und dem Kläger ab 1. Juli 1981 Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) zugesprochen (Urteil vom 26. Mai 1983). Das Landessozialgericht (LSG) hat in der angefochtenen Entscheidung vom 27. Januar 1984 die Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Zur Begründung hat das LSG ausgeführt, der Kläger genieße Berufsschutz als Facharbeiter, und zwar in der zweitobersten Stufe der Leitberufe des vom Bundessozialgericht (BSG) entwickelten Schemas. Bisheriger Beruf des Klägers sei der eines Stukkateurs, der dem eines Gipsers und Verputzers gleichstehe. Die damit verbundenen Tätigkeiten könne der Kläger aus Gesundheitsgründen nicht mehr ausüben; sie verlangten in nicht geringem Maße Arbeiten in Zwangshaltungen und fänden überwiegend auf zugigen unbeheizten Baustellen ungeschützt vor Nässe- und Kälteeinwirkung statt. Dies gelte auch für Innenputzarbeiten, da sie nur ausnahmsweise in geschlossenen Räumen in dem Sinne stattfänden, daß Nässe- und Kälteeinwirkungen sowie Zugluft ausgeschlossen würden. Der Kläger könne aber nur noch leichte bis mittelschwere Arbeiten in geschlossenen Räumen mit gut zu erreichenden hygienischen Toilettenanlagen bei Vermeidung von schwerem Heben und Tragen, Nässe- und Kälteeinwirkung, Zugluft und Zwangshaltungen verrichten. Diese Einschränkungen der Erwerbsfähigkeit des Klägers schlössen nicht nur eine Arbeit im bisherigen Beruf aus, es seien vielmehr auch im Bereich sonstiger Facharbeitertätigkeiten, der Tätigkeiten angelernter oder aus dem Kreis ungelernter Arbeiten herausragender Tätigkeiten keine Arbeitsplätze ersichtlich, denen der Kläger nach seinem Leistungsvermögen gewachsen sei.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision rügt die Beklagte, ihr sei rechtliches Gehör versagt worden. Die das angefochtene Urteil tragende Feststellung, daß die Tätigkeit eines Stukkateurs, Gipsers oder Verputzers in nicht geringem Maße Arbeiten in Zwangshaltungen verlangten und überwiegend auf zugigen unbeheizten Baustellen, ungeschützt vor Nässe- und Kälteeinwirkung, stattfänden, was auch für Innenputzarbeiten gelte, beruhe nicht auf allgemeiner, jedem zugänglicher Kenntnis, mit der die Beklagte habe rechnen müssen, sondern auf spezieller Kenntnis des Gerichts. Das LSG habe es jedoch unterlassen, sein Wissen in den Rechtsstreit einzuführen und der Beklagten Gelegenheit zur Stellungnahme, zu tatsächlichem Gegenvorbringen und zu Beweisantritten zu geben. Die Beklagte sei damit daran gehindert worden, den entscheidungserheblichen Nachweis, daß der Kläger auch unter Berücksichtigung seiner gesundheitlichen Einschränkungen den Beruf eines Innenstukkateurs vollschichtig ausüben könne, zu führen. Im übrigen verletzte das Berufungsurteil § 1246 Abs. 2 der Reichsversicherungsordnung (RVO). Der Kläger könne nach seinen gesundheitlichen Verhältnissen noch Innenputzarbeiten verrichten. Ihm seien weitere Verweisungstätigkeiten zumutbar, wie z.B. die eines Schalttafelwärters, bei der Stichprobenmessung an Elektronenröhren und beim Einlegen von Schaltenden in Kabelformbretter.
Die Beklagte beantragt,
- das Urteil des Landessozialgerichts vom 27. Januar 1984 aufzuheben;
- das Urteil des Sozialgerichts vom 26. Mai 1983 aufzuheben. und die Klage gegen ihrer. Bescheid vom 25. September 1981 abzuweisen und
- zu entscheiden, daß außergerichtliche Kosten nicht zu erstatten seien.
Der Kläger ist im Revisionsverfahren nicht durch einen beim BSG zugelassenen Bevollmächtigten (§ 166 SGG) vertreten.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung für einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes -SGG-).
II.
Die Revision ist insoweit begründet, als das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen war.
Das LSG hat im angefochtenen Urteil festgestellt – und seine Entscheidung darauf gestützt –, daß die Tätigkeit eines Stukkateurs, Gipsers oder Verputzers überwiegend auf zugigen unbeheizten Baustellen ungeschützt vor Nässe- und Kälteeinwirkungen ausgeübt werde, und nur ausnahmsweise in geschlossenen Räumen unter Ausschluß von Kälte- und Nässeeinwirkung und Zugluft. Diese Feststellungen beruhen jedoch, wie die Beklagte zu Recht rügt, auf einer Verletzung der §§ 62 Halbsatz 1, 128 Abs. 2 SGG.
Das Gericht hat vor jeder Entscheidung den Beteiligten rechtliches Gehör zu gewähren (§ 62 Abs. 2 SGG) und darf das Urteil nur auf Tatsachen stützen, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 128 Abs. 2 SGG). Das bedeutet, daß gerichtskundige Tatsachen in den Prozeß eingeführt und zum Gegenstand der Verhandlung gemacht werden müssen (BSGE 22, 19, 20; SozR Nr. 70 zu § 128 SGG; SozR 1500 § 128 Nr. 4; BVerfGE 10, 177, 183). Inwieweit das auch für allgemeinkundige Tatsachen gilt, kann dahingestellt bleiben (vgl. dazu Beschluß des erkennenden Senats vom 31. Oktober 1978 – SozR 1500 § 128 Nr. 15 m.w.N.), da es sich bei den Anforderungen, die der bisherige Beruf des Versicherten an dessen Leistungsvermögen stellt, nicht um eine allgemeinkundige Tatsache handelt (vgl. dazu auch SozR 1500 § 62 Nr. 11). Die Arbeitsbedingungen eines sog. Innenstukkateurs sind nicht so geartet, daß verständige und erfahrene Menschen regelmäßig ohne weiteres von ihnen Kenntnis haben oder sich vor ihnen durch Benutzung allgemein zugänglicher, zuverlässiger Quellen unschwer überzeugen können (BVerfGE 10, 177, 183) oder über die man sieh aus zuverlässigen Quellen ohne besondere Fachkunde sicher unterrichten könnte; insbesondere handelt es sieh hierbei nicht um Tatsachen, die allen Beteiligten mit Sicherheit gegenwärtig sind und vor denen diese wissen, daß sie für die Entscheidung erheblich sein können. Ein Wissen darum, ob die Arbeit eines sog. Innenstukkateurs regelmäßig mit Einwirkungen von Nässe, Kälte und Zugluft verbunden ist, kann im allgemeinen nur von Branchenkundigen erwartet werden. Das LSG hat nicht angegeben, worauf sich sein Wissen gründet; auf jeden Fall hätte es vor der Entscheidung den Beteiligter von seiner Gerichtskunde Kenntnis geben müssen, so daß auch die Beklagte Gelegenheit gehabt hätte, dazu Stellung zu nehmen und gegebenenfalls Beweisanträge zu stellen. Es ist auch nicht auszuschließen, daß das LSG zu einer anderen Entscheidung gelangt wäre, wenn es die §§ 62, 128 Abs. 2 SGG beachtet hätte. Das angefochtene Urteil war schon deshalb aufzuheben und, weil dem Senat eigene Tatsachenfeststellungen verwehrt sind, der Rechtsstreit zu neuer Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Zurückverweisung ist aber auch aus folgenden sachlich-rechtlichen Gründen unumgänglich:
Nach § 1246 Abs. 2 Satz 1 RVO ist berufsunfähig ein Versicherter, dessen Erwerbsfähigkeit infolge von Krankheit oder anderen Gebrechen oder Schwäche seiner körperlichen und geistigen Kräfte auf weniger als die Hälfte derjenigen eines körperlich und geistig gesunden Versicherten mit ähnlicher Ausbildung und gleichwertigen Kenntnissen und Fertigkeiten herabgesunken ist. Dabei umfaßt nach Satz 2 a.a.O. „der Kreis der Tätigkeiten, nach denen die Erwerbsfähigkeit des Versicherten zu beurteilen ist”, alle Tätigkeiten, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprechen und ihm unter Berücksichtigung der Dauer und des Umfangs seiner Ausbildung sowie seines bisherigen Berufs und der besonderen Anforderungen seiner bisherigen Berufstätigkeit „zugemutet werden können”. Das Gesetz verlangt hiernach von dem Versicherten, daß er, immer bezogen auf seinen „bisherigen Beruf”, einen „zumutbaren” beruflichen Abstieg in Kauf nimmt und sieh vor Inanspruchnahme einer Rente mit einer geringerwertigen Erwerbstätigkeit zufrieden gibt (BSGE 41, 129, 131). „Zugemutet werden” i.S. von § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO können dem Versicherten alle von ihm – nach seinen gesundheitlichen Kräften und seinen beruflichen Kenntnissen und Fertigkeiten – ausführbaren, auch „berufsfremden” Tätigkeiten, die nach ihrer im Gesetz angeführten positiven Kennzeichnung – Ausbildung und deren Dauer und Umfang, besondere Anforderungen, Bedeutung des Berufs im Betrieb –, d.h. nach ihrer Qualität im bisherigen Beruf nicht zu fern stehen (vgl. z.B. BSG in SozR Nr. 22 zu § 45 des Reichsknappschaftsgesetzes -RKG-; BSGE 38, 153 = SozR 2200 § 1246 Nr. 4; BSGE 41, 129, 132 = SozR 2200 § 1246 Nr. 11; SozR § 1246 Nr. 27, 29 und ständige Rechtsprechung). Zur praktischen Ausführung dieser Rechtssätze ist das BSG aufgrund einer Beobachtung der tatsächlichen Gegebenheiten der Arbeits- und Berufswelt zu der generellen Feststellung gelangt, daß sich die Arbeiterberufe nach ihrer Leistungsqualität in folgende drei hierarchisch geordnete Gruppen aufgliedern: Die unterste Gruppe mit dem Leitberuf des Ungelernter, die mittlere Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten (mit sonstiger, d.h. nicht dem Facharbeiter entsprechender Ausbildung) und die Gruppe mit dem Leitberuf des Gelernten (Facharbeiter). Darüber steht die zahlenmäßig kleine Gruppe mit dem Leitberuf des Vorarbeiters mit Vorgesetztenfunktion, dem der besonders qualifizierte Facharbeiter gleichzubehandeln ist („Vierstufen-Schema”, vgl. z.B. BSGE 43, 243, 245 = SozR 2200 § 1246 Nr. 16; BSGE 45, 276, 278 = SozR 2200 § 1246 Nr. 27, 29, 51, 85, 86 und 95 sowie in ständiger Rechtsprechung, vgl. etwa SozR 2200 § 1246 Nr. 126). Als i.S. von § 1246 Abs. 2 Satz 2 RVO zumutbarer beruflicher Abstieg hat die angeführte Rechtsprechung des BSG jeweils der, Abstieg zur nächstniedrigeren Gruppe angenommen. Hiernach kann z.B. ein Versicherter, der nach seinem bisherigen Beruf in die Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters fällt, auf Tätigkeiten in die Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten (sonstiger Ausbildungsberuf) verwiesen werden, nicht aber auf die Gruppe mit dem Leitberuf des Ungelernten (BSGE 43, 243, 246 = SozR 2260 § 1246 Nr. 16 und 21 und fortan in ständiger Rechtsprechung, vgl. z.B. BSGE 55, 45 = SozR 2200 § 1246 Nr. 107 mit zahlreichen Nachweisen). In die Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten fallen Berufe mit einer Regelausbildung „bis zu zwei Jahren”; die Gruppe der Gelernten wird durch eine Regelausbildung von mehr als zwei Jahren, regelmäßig von drei Jahren, gekennzeichnet (vgl. aus der jüngeren Rechtsprechung des BSG z.B. BSGE 55, 45 = SozR 2200 § 1246 Nr. 107; SozR a.a.O. Nr. 109 und die Entscheidung des erkennenden Senats vom 4. April 1984 – 4 RJ 111/83 – mit zahlreichen weiteren Nachweisen).
Das LSG hat den Kläger in die Gruppe mit dem Leitberuf des Facharbeiters eingestuft und zur Begründung angegeben, er sei langjährig als Verputzer tätig gewesen, und habe dabei als vollwertige Arbeitskraft gegolten. Seine Qualifikation als Facharbeiter werde dadurch bestätigt, daß er vom Feststellungsausschuß der Tarifvertragsparteien als Facharbeiter anerkannt worden sei. Es sei hiernach anzunehmen, daß dar Kläger die Tätigkeiten eines Stukkateurs wie ein Facharbeiter beherrsche.
Diese Ausführungen stellen indessen nicht klar, ob der Kläger in die Gruppe mit dem Leitberuf des Gelernten i.S. des Vierstufen-Schemas gehört. Das LSG hat übersehen, daß in der Bauwirtschaft unter der Bezeichnung Facharbeiter Personen bereits mit einer Regelausbildung von nicht mehr als zwei Jahren beschäftigt werden, die nach dem Vierstufen-Schema in den oberen Bereich der Gruppe mit dem Leitberuf des Angelernten, nicht des Gelernten fallen:
Nach § 1 Nr. 1 Buchst b) der Verordnung über die Berufsausbildung in der Bauwirtschaft vom 8. Mai 1974 (BGBl. I S. 1073), zuletzt geändert durch die 4. Änderungsverordnung vom 17. Dezember 1981 (BGBl. I S. 180), gibt es in der Bauindustrie den staatlich anerkannten Ausbildungsberuf „Ausbaufacharbeiter”, dessen Ausbildung nach § 3 Abs. 1 Satz 1 a.a.O. 24 Monate dauert. Erst durch eine weitere Ausbildung von 9 Monaten gelangt der Ausbaufacharbeiter zum „aufbauenden Ausbildungsberuf” u.a. eines Stukkateurs (§§ 3 Abs. 1 Satz 2, 1 Nr. 2 Buchst b) a.a.O.). § 5 Nr. 2.1 des Bundesrahmentarifvertrags für das Baugewerbe vom 1. April 1971 nennt unter Lohngruppe III Buchst c) den „angelernten Facharbeiter (bisher Beruf mit ein- bis zweijähriger Ausbildungszeit)”. Die Lohntabelle für das Baugewerbe in Hessen i.V.m. dem Tarifvertrag vom 5. Juli 1978 und dem Anhang zum Bundesrahmentarifvertrag für das Baugewerbe – Berufsgruppen für die Berufe des Baugewerbes – vom 5. Juni 1978 nennt unter der Bezeichnung „Baufacharbeiter” u.a. Arbeitnehmer, die eine angelernte Spezialtätigkeit ausführen (Nr. V 2); als Beispiele werden unter Nr. V 2.8 Putzer (Fassadenputzer, Verputzer) aufgeführt.
Hiernach fällt in der Bauwirtschaft in die Gruppe mit dem Leitberuf des Gelernten (Facharbeiters) i.S. des Vierstufen-Schemas nur, wer eine Vollausbildung von 33 Monaten absolviert hat oder ohne Ausbildung eine entsprechend qualifizierte Tätigkeit – z.B. nach langjähriger praktischer beruflicher Bewährung – vollwertig ausgeführt hat.
Da auch die vom LSG genannte Urkunde der Tarifvertragsparteien über die „Feststellung als Facharbeiter” ebenfalls keinen Aufschluß über die Qualifikation des Klägers als Angelernter oder als Gelernter im Sinne des Vierstufen-Schemas gibt, hat das LSG in seiner neuen Entscheidung die entsprechenden Feststellungen nachzuholen.
Der Ausspruch im Kostenpunkt bleibt der das Verfahren abschließenden Entscheidung vorbehalten.
Fundstellen