Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 25. Februar 1972 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Revisionsverfahrens sind nicht zu erstatten.
Gründe
I
Der 1902 in Pleikischken (Kreis Tilsit, Memelland) geborene Kläger hat eine landwirtschaftliche Lehre durchgemacht und war von 1927 bis 1934 als landwirtschaftlicher Inspektor auf dem Gut Schreitlaugken im Memelland versicherungspflichtig beschäftigt gewesen. Als Mitglied der Landwirtschaftspartei und des Memeldeutschen Kulturbundes wurde er am 20. Juni 1934 wegen seines Deutschtums und somit aus politischen Gründen verhaftet und am 26. März 1935 mit weiteren 125 Memeldeutschen durch ein litauisches Militärgericht zu sechs Jahren schweren Kerkers und Aberkennung der Ehrenrechte auf Lebenszeit verurteilt. Am 28. März 1937 wurde er vorzeitig aus der Haft entlassen; anschließend war er bis zum 30. September 1937 arbeitsunfähig krank. Im Oktober 1937 nahm er bei der Landwirtschaftskammer in Memel eine Tätigkeit auf. Von 1939 bis Kriegsende war er Moorverwalter bei der Regierung Gumbinnen. Er wohnt seit 1950 im Bundesgebiet (Berlin-West) und besitzt die deutsche Staatsangehörigkeit. Die Beklagte gewährte ihm mit Bescheid vom 31. Oktober 1967 Altersruhegeld vom 1. September 1967 an. Dabei ist die Zeit der Inhaftierung und der nachfolgenden Krankheit nicht als Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 5 des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) berücksichtigt worden.
Das Sozialgericht (SG) Osnabrück hat die Beklagte durch Urteil vom 27. November 1970 antragsgemäß verurteilt, in Abänderung ihres Bescheides vom 31. Oktober 1967 das Altersruhegeld unter Anrechnung der Zeit vom 20. Juni 1934 bis 30. September 1937 als Ersatzzeit neu zu berechnen. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen das angefochtene Urteil aufgehoben und die Klage auf Anrechnung der genannten Zeit als Ersatzzeit abgewiesen. Das Berufungsgericht war der Auffassung, der Kläger gehöre deshalb nicht zu dem in § 1 des Häftlingshilfegesetzes (HHG) in der Fassung des 3. Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des HHG (3. HH-ÄndG) vom 30. Mai 1969 (BGBl I 452) bezeichneten Personenkreis, weil er nicht nach der Besetzung seines Aufenthaltsortes oder nach dem 8. Mai 1945 verhaftet worden sei; unter „Besetzung” seines Aufenthaltsortes sei nämlich nur die Besetzung durch die sowjetischen Truppen anläßlich des Zweiten Weltkrieges zu verstehen.
Das LSG hat in seinem Urteil vom 25. Februar 1972 die Revision zugelassen. Der Kläger hat dieses Rechtsmittel eingelegt. Er beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des SG Osnabrück vom 27. November 1970 zurückzuweisen.
Gerügt wird unrichtige Anwendung des § 1 HHG.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
II
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Der Auffassung des LSG ist zuzustimmen.
Nach dem hier allein in Betracht kommenden § 28 Abs. 1 Nr. 5 AVG i.d.F. des Angestelltenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (AnVNG) vom 23. Februar 1957 sind Ersatzzeiten auch „Zeiten des Gewahrsams und einer anschließenden Krankheit oder unverschuldeten Arbeitslosigkeit bei Personen im Sinne des § 1 des Häftlingshilfegesetzes”. Der Personenkreis des § 1 HHG ist durch das bereits genannte 3. HH-ÄndG vom 30. Mai 1969 (BGBl I 452) erweitert worden. In § 1 des Gesetzes über Hilfsmaßnahmen für Personen, die aus politischen Gründen in Gebieten außerhalb der Bundesrepublik Deutschland und Berlins (West) in Gewahrsam genommen wurden, vom 6. August 1955 (BGBl I 498) hieß es ursprünglich, daß Leistungen nach Maßgabe der folgenden Vorschriften ua erhalten „deutsche Staatsangehörige und deutsche Volkszugehörige, die nach dem 8. Mai 1945 in der sowjetischen Besatzungszone oder im sowjetisch besetzten Sektor von Berlin oder in den in § 1 Abs. 2 Nr. 3 des Bundesvertriebenengesetzes genannten Gebieten (zu denen auch Estland, Lettland und Litauen gehören) aus politischen und nach freiheitlich-demokratischer Auffassung von ihnen nicht zu vertretenden Gründen in Gewahrsam genommen wurden” (Nr. 1), wenn sie ua, wie der Kläger, ihren Wohnsitz oder ihren ständigen Aufenthalt am Tage des Inkrafttretens dieses Gesetzes (10. August 1955) in seinen Geltungsbereich hatten. Hiernach hatte der Kläger zunächst keine Ersatzzeit nach den genannten Vorschriften zu beanspruchen. In der amtlichen Begründung zum Entwurf des HHG vom 6. August 1955 (BT-Drucks. II/1450 S. 7) war ausdrücklich vermerkt, der Stichtag vom 8. Mai 1945 solle zum Ausdruck bringen, daß Inhaftierungen, die etwa in der Sowjetunion vor dem Zweiten Weltkrieg erfolgt sind, nicht berücksichtigt werden. Das gesamte HHG wolle nur solchen Personen helfen, die nicht unter das Bundesversorgungsgesetz oder das Gesetz über Hilfsmaßnahmen für Heimkehrer (Heimkehrergesetz) fielen, weil sie nicht aus kriegsursächlichen, sondern aus Gründen in Gewahrsam genommen wurden, die durch die politische Entwicklung der Nachkriegszeit bedingt waren (aaO S. 5).
Diese Regelung erschien dem Gesetzgeber in einem eng begrenzten Umfang verbesserungswürdig. In der amtlichen Begründung zum Entwurf des 3. Gesetzes zur Änderung und Ergänzung des HHG (BT-Drucks. V/2877 S. 5) wird ausgeführt, Deutsche, die nach der Besetzung ihres Heimatgebietes durch die sowjetischen Truppen, aber noch vor dem 9. Mai 1945, in Gewahrsam genommen wurden, hätte keinen Rechtsanspruch auf die Leistungen nach dem HHG; diese Regelung sei im Hinblick auf jene Personen unbillig, die nur deshalb vor dem Kapitulationstag in Gewahrsam kamen, weil die sowjetischen Truppen ihre Gebiete eher als andere besetzten. Deshalb sollten in § 1 Nr. 1 HHG vor den Worten „nach dem 8. Mai 1945” die Worte „nach der Besetzung ihres Aufenthaltsortes oder” eingefügt werden. Demgemäß heißt es jetzt, daß Leistungen nach dem HHG deutsche Staatsangehörige und deutsche Volksangehörige erhalten, wenn sie „nach der Besetzung ihres Aufenthaltsortes oder nach dem 8. Mai 1945” in den genannten Gebieten aus politischen Gründen in Gewahrsam genommen wurden.
Es war also nur an eine geringfügige Verbesserung gedacht, keineswegs aber daran, jede Verhaftung aus politischen Gründen in den sogen. Ostgebieten in früherer Zeit zu entschädigen. Das HHG wollte ebenso wie das Heimkehrergesetz nur den Personen helfen, die durch den letzten Weltkrieg und seine Folgen besonders betroffen waren. Das war auch anläßlich der weiteren Beratungen über den Entwurf des 3. HH-ÄndG niemals zweifelhaft, wie das LSG zutreffend ausgeführt hat.
Berücksichtigt man diese Zusammenhänge und insbesondere, daß das HHG also nur diejenigen Personen begünstigen wollte, die durch die politische Entwicklung in der Nachkriegszeit außerhalb des Bundesgebietes geschädigt worden sind, während bewußt davon abgesehen wurde, die Frage einer Haftentschädigung für ehemalige politische Häftlinge allgemein zu regeln (BT-Drucks. II/1450, amtliche Begründung S. 6), dann ist § 1 HHG so auszulegen, wie es das LSG getan hat. Es erschien bereits zweifelhaft, ob eine rechtliche Verpflichtung der Bundesrepublik Deutschland besteht, über kriegsursächliche oder vertreibungsursächliche Schäden hinaus auch Personen Leistungen einzuräumen, die durch die politische Entwicklung in der Nachkriegszeit außerhalb des Bundesgebietes geschädigt worden sind (amtliche Begründung aaO). Erst recht muß dies für Verhaftungen in früherer Zeit in den sogen. Ostgebieten gelten. Die Ausführungen in der Revisionsbegründung vermögen an diesem Ergebnis nichts zu ändern. Damit fällt der Kläger nicht unter § 1 HHG, so daß die Zeit seiner Inhaftierung auch keine Ersatzzeit nach § 28 Abs. 1 Nr. 5 AVG ist.
Somit ist die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 des Sozialgerichtsgesetzes.
Unterschriften
Dr. Wannagat, Schmidthals, Dr. Schubert
Veröffentlichung
Veröffentlicht am 10.01.1973 durch Hoppe, Amtsinspektor als Urk.Beamter der Gesch.Stelle
Fundstellen