Entscheidungsstichwort (Thema)
Asylbewerberleistung. Anspruch auf Sozialhilfe nach längerer Aufenthaltsdauer. Rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer. Zumutbarkeit der Ausreise. Bleibegrund bei Vergleichbarkeit der Ausreise mit einer Auswanderung
Leitsatz (redaktionell)
1. Unter rechtsmissbräuchlicher Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer versteht § 2 Abs. 1 AsylbLG auch eine von der Rechtsordnung missbilligte, subjektiv vorwerfbare und zur Aufenthaltsverlängerung führende Nutzung der Rechtsposition, die ein Ausländer durch vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) erlangt hat. Darunter fällt auch der Verbleib eines Ausländers in Deutschland, dem es rechtlich und tatsächlich möglich und zumutbar wäre, auszureisen.
2. Unzumutbar ist die Ausreise nicht erst bei zielstaatsbezogenen Gefahren für Freiheit, Leib oder Leben. Auch weniger gewichtige Gründe können die Ausreise unzumutbar machen. Ein Bleibegrund kann z.B. auch die besondere Situation von Ausländern sein, denen sich Ausreisemöglichkeiten erst nach jahrelangem Aufenthalt in Deutschland eröffnen. Haben diese sich zwischenzeitlich derart in die deutsche Gesellschaft integriert, dass ihre Ausreise in das Herkunftsland einer Auswanderung nahe käme, so wird dem Ausländer seine Nichtausreise leistungsrechtlich nicht vorwerfbar sein.
Normenkette
AsylbLG § 2 Abs. 1, § 3
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 20. Dezember 2005 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger nach § 2 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) Anspruch auf – höhere – Leistungen entsprechend dem Zwölften Buch Sozialgesetzbuch – Sozialhilfe (SGB XII) hat.
Der 1961 in Barani (ehemaliges Jugoslawien) geborene, zur Volksgruppe der Roma gehörende Kläger besaß die serbisch-montenegrinische Staatsangehörigkeit. Er reiste am 16. Mai 1992 aus Titograd/Montenegro nach Deutschland ein, wo sein Aufenthalt seither von den zuständigen Ausländerbehörden geduldet wird. Eine am 26. April 2000 geplante Abschiebung wurde gestoppt, nachdem die United Nations Interim Administrative Mission in Kosovo – UNMIK – die Rücknahme des Klägers verweigerte; am 17. Oktober 2002 und 22. Dezember 2003 wurde ihm die Abschiebung angedroht. Sein Asylantrag vom 26. Februar 2004 wurde durch Bescheid vom 29. April 2004 (bestätigt durch klageabweisendes – seit 17. Februar 2005 rechtskräftiges – Urteil des Verwaltungsgerichts ≪VG≫ Minden vom 13. Januar 2005) abgelehnt. Während des laufenden Asylverfahrens war der Kläger – von seinem seinerzeitigen Wohnsitz bei der pflegebedürftigen Mutter in Seelze kommend – der Stadt Oerlinghausen, Kreis Lippe/Westfalen, zugewiesen worden und kehrte im Januar 2005 antragsgemäß nach Seelze zurück.
Seit 1996 bezieht der Kläger Leistungen nach dem AsylbLG; und zwar vor seinem Asylantrag aufgrund des Bescheides der Stadt Seelze vom 12. Januar 2004 nach § 2 AsylbLG iVm §§ 11 ff Bundessozialhilfegesetz ab 1. Januar 2004 “bis auf weiteres”. Ab 1. Februar 2005 erfolgte – auf den Sozialhilfeantrag vom 31. Januar 2005 – die Bewilligung nach §§ 3 ff AsylbLG durch Bescheide der Stadt Seelze vom 3. Februar 2005 und 1. April 2005, ab 1. Mai 2005 durch Bescheid vom 18. April 2005. Der Widerspruch des Klägers vom 5. April 2005 gegen den Bescheid vom 1. April 2005 blieb ohne Erfolg (Widerspruchsbescheid der Beklagten vom 3. August 2005).
Das Sozialgericht (SG) Hannover hat die Beklagte durch Gerichtsbescheid vom 13. Oktober 2005 verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. Februar bis 3. August 2005 Leistungen nach § 2 Abs 1 AsylbLG in entsprechender Anwendung des SGB XII zu gewähren. Das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) hat die Berufung der Beklagten mit Urteil vom 20. Dezember 2005 zurückgewiesen. Es hat zur Begründung im Wesentlichen ausgeführt: Der Kläger habe Anspruch auf Leistungen entsprechend dem SGB XII, weil er Asylbewerberleistungen über eine Dauer von mehr als 36 Monaten bezogen und die Dauer seines Aufenthalts nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst habe. Der Umstand, dass er sich geweigert habe, von der nach Auffassung der Ausländerbehörde bestehenden Ausreisemöglichkeit Gebrauch zu machen, beeinflusse zwar die Dauer seines Aufenthalts in Deutschland, das geschehe aber nicht in rechtsmissbräuchlicher Weise.
Die Beklagte macht mit ihrer Revision geltend: Das LSG habe § 2 Abs 1 AsylbLG verletzt. Die ausländerrechtliche Duldung verschaffe dem Kläger – anders als vom LSG angenommen – keine nutzbare Rechtsposition. Die Duldung ändere nichts an der Ausreisepflicht des Klägers. Wer unter Nutzung der Gründe, die einer Abschiebung entgegenstehen, in Deutschland bleibe, obwohl er zumutbar ausreisen könne, verlängere damit rechtsmissbräuchlich seinen Aufenthalt.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG Niedersachsen-Bremen vom 20. Dezember 2005 sowie den Gerichtsbescheid des SG Hannover vom 13. Oktober 2005 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er verteidigt die angegriffenen Entscheidungen und führt aus: Ein rechtsmissbräuchliches Verhalten iS des § 2 AsylbLG könne nur angenommen werden, wenn der weitere Aufenthalt in Deutschland subjektiv vorwerfbar sei. Daran fehle es, wenn der Ausländer für sein weiteres Verbleiben im Bundesgebiet vertretbare Gründe habe. Solche Gründe lägen immer dann vor, wenn einer Rückkehr in die Heimat berechtigte Bedenken entgegenstünden. Nach der Rechtsprechung des VG Braunschweig sei nicht nur die Abschiebung derzeit rechtlich ausgeschlossen, sondern auch die freiwillige Ausreise für Roma aus dem Kosovo subjektiv unzumutbar.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision der Beklagten hat Erfolg. Das Berufungsurteil ist aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Die Aufhebung ist allerdings nicht schon wegen prozessrechtlicher Bedenken gegen das Berufungsurteil geboten.
Zunächst ist die Berufung der Beklagten gegen den Gerichtsbescheid des SG zulässig; denn die Berufungssumme von 500 € iS von § 144 Abs 1 Satz 2 Nr 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) wird durch den mit der Klage begehrten Differenzbetrag zwischen den gewährten Leistungen nach § 3 AsylbLG und solchen nach § 2 AsylbLG für den streitigen, durch den Ausspruch des SG bestimmten Zeitraum (1. Februar bis 3. August 2005) ausweislich der Berechnung der Stadt Seelze vom 4. Oktober 2005 deutlich überschritten.
Das LSG ist auch zutreffend von der Zulässigkeit der Klage ausgegangen. Klagegegenständlicher Verwaltungsakt (§ 54 SGG) ist der Bescheid vom 1. April 2005 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. August 2005; danach bewilligte die Stadt Seelze dem Kläger ab dem 1. Februar 2005 bis auf weiteres Grundleistungen nach § 3 AsylbLG (vgl zur Befugnis der Behörde zur Regelung des Sozialhilfefalles für einen längeren Zeitraum das Senatsurteil vom heutigen Tage in der Sache B 9b AY 1/06 R, mwN insbesondere zur Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts ≪BVerwG≫). Der weitere, den Leistungszeitraum ab Mai betreffende Bescheid vom 18. April 2005 ist Gegenstand des Vorverfahrens geworden (§ 86 SGG). Das Ende des Streitzeitraums wird durch den Gerichtsbescheid des SG bestimmt, wonach dem Kläger bis 3. August 2005 Leistungen nach § 2 Abs 1 AsylbLG zugesprochen worden sind; dagegen ist der Kläger nicht mit Rechtsmitteln vorgegangen. Diese zeitliche Begrenzung unterliegt daher keiner Überprüfung durch das Revisionsgericht. Das SG hat sie offensichtlich auf der Grundlage der verwaltungsgerichtlichen Praxis gewählt, wonach für die gerichtliche Überprüfung im Sozialhilferecht die im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung bestehende Sach- und Rechtslage maßgeblich ist, im Regelfall damit der Zeitpunkt des Erlasses des Widerspruchsbescheides (vgl BVerwGE 90, 160, 162; 99, 149, 153 f; Neumann in Hauck/Noftz, SGB XII, K § 18 RdNr 34); die tatsächliche Entwicklung des Sozialhilfefalles nach Erlass des letzten Bescheids damit regelmäßig außer Acht zu lassen ist (vgl BVerwGE 25, 307, 308 f; Neumann aaO RdNr 35).
Die Aufhebung des Berufungsurteils erfolgt, weil die Tatsachenfeststellungen des LSG für eine abschließende Entscheidung des Bundessozialgerichts (BSG) nicht ausreichen.
Der Kläger gehört als Inhaber von Duldungen nach § 60a Aufenthaltsgesetz (AufenthG) zum Kreis der in § 1 Abs 1 Nr 4 AsylbLG genannten Leistungsberechtigten. Er hat nach § 2 Abs 1 und Abs 3 AsylbLG Anspruch auf Leistungen entsprechend dem SGB XII, wenn er insgesamt 36 Monate lang Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten (vgl zu den Plänen, diese Frist auf vier Jahre zu verlängern: BT-Drucks 16/3775, S 2; zu dem Vorhaben, Asylbewerber zeitlich unbegrenzt auf Grundleistungen zu beschränken: BR-Drucks 36/07, S 4, 8) und die Dauer seines Aufenthalts in Deutschland nicht rechtsmissbräuchlich selbst beeinflusst hat. Zu Recht hat das LSG die erstgenannte Voraussetzung bejaht. Ob die Aufenthaltsdauer vom Kläger rechtsmissbräuchlich beeinflusst worden ist, lässt sich dagegen nach den im Berufungsurteil getroffenen Feststellungen nicht beurteilen.
Das Berufungsgericht meint, mit bloßer Nichtausreise – wie hier – beeinflussten durch vorübergehende Aussetzung der Abschiebung geduldete Ausländer ihre Aufenthaltsdauer nicht rechtsmissbräuchlich, weil sie damit lediglich die durch Duldung erlangte – unsichere – Rechtsposition nutzten. Erst wenn die Dauer des Aufenthalts auf einem darüber hinausgehenden, rechtlich zu beanstandenden Verhalten des Ausländers beruhe, liege Rechtsmissbrauch vor. Diese Auffassung teilen zwar verschiedene Landessozialgerichte (vgl Sächsisches LSG, Beschluss vom 9. Februar 2006 – L 3 B 179/05 AY – ER –, SAR 2006, 67 ff und LSG Hamburg, Beschluss vom 27. April 2006 – L 4 B 84/06 ER AY –, InfAuslR 2006, 342 ff). Der Senat folgt ihr aber nicht.
Unter rechtsmissbräuchlicher Selbstbeeinflussung der Aufenthaltsdauer versteht § 2 Abs 1 AsylbLG nach Auffassung des Senats auch eine von der Rechtsordnung missbilligte, subjektiv vorwerfbare und zur Aufenthaltsverlängerung führende Nutzung der Rechtsposition, die ein Ausländer durch vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) erlangt hat. Darunter fällt auch der Verbleib eines Ausländers in Deutschland, dem es möglich und zumutbar wäre, auszureisen (vgl Hohm in GK-AsylbLG, Stand Dezember 2006, § 2 RdNr 79 ff, 87 f; ähnlich auch Herbst in Mergler/Zink, Handbuch der Grundsicherung und Sozialhilfe, Band II, § 2 AsylbLG RdNr 37; LSG Baden-Württemberg, SAR 2006, 33; OVG Bremen, SAR 2006, 21).
Die Rechtsordnung verlangt von Ausländern für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet einen Aufenthaltstitel in Form eines Visums, einer Aufenthalts- oder einer Niederlassungserlaubnis (§ 4 Abs 1 AufenthG). Wer – wie die Kläger – darüber nicht oder nicht mehr verfügt, ist unverzüglich oder bis zum Ablauf einer ihm gesetzten Frist zur Ausreise verpflichtet (§ 50 Abs 1 und 2 AufenthG). Kommt er dem nicht nach, ist die Ausreise zwangsweise durchzusetzen: Der Ausländer wird abgeschoben (§ 58 Abs 1 AufenthG). Ist das aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich, wird die Abschiebung vorübergehend ausgesetzt (§ 60a Abs 2 AufenthG). Durch die “Duldung” bleibt die Ausreisepflicht unberührt (§ 60a Abs 3 AufenthG).
Nach dieser Konzeption widerspricht der weitere Inlandsaufenthalt des ausreisepflichtigen, aber geduldeten Ausländers der Rechtsordnung. Lässt seine Ausreisepflicht sich nicht zwangsweise durchsetzen, wird ihm zwar auch ohne entsprechenden Titel ein vorübergehender Aufenthalt ohne Verstoß gegen Strafvorschriften (§ 95 Abs 1 Nr 2 AufenthG) möglich gemacht. Die Forderung, selbstständig auszureisen und damit den nicht rechtmäßigen Aufenthalt zu beenden, bleibt aber bestehen.
Wer diese Pflicht vorwerfbar nicht befolgt, macht funktionswidrig unter Verstoß gegen Treu und Glauben von der durch Duldung eingeräumten Rechtsposition Gebrauch. Vorwerfbar in diesem Sinne ist es regelmäßig, wenn der Ausländer nicht ausreist, obwohl ihm das möglich und zumutbar wäre. Denn sein weiterer Aufenthalt wird in Erwartung rechtspflichtkonformen Verhaltens durch selbstständige Ausreise (vgl BR-Drucks 36/07, S 8) nur geduldet, weil der Staat das geltende Recht insoweit nicht zwangsweise durchsetzen kann.
Diese Interpretation des Begriffs “rechtsmissbräuchlich” in § 2 Abs 1 AsylbLG wird durch die Gesetzesmaterialien bestätigt. Danach sollen nur diejenigen Ausländer Leistungen nach § 2 AsylbLG erhalten, “die unverschuldet nicht ausreisen können” (BT-Drucks 15/420, S 121). Dazu zählt nicht, wer der Ausreisepflicht nicht nachkommt, obwohl das sowohl tatsächlich und rechtlich möglich als auch zumutbar ist.
An diesem Ergebnis ändert auch der Hinweis in den Materialien (BT-Drucks, aaO) nichts, die Bestimmung über die Folgen rechtsmissbräuchlichen Verhaltens knüpfe an den Entwurf einer Richtlinie des Rats der Europäischen Union (EU) zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern an. In Art 16 des Entwurfs seien Formen “negativen Verhaltens” zusammengefasst, die auf nationaler Ebene eine Einschränkung von Leistungen erlaubten. Mit dem allgemeinen Hinweis auf rechtsmissbräuchliches Verhalten werde die Vereinbarkeit mit der zu erwartenden Richtlinie der EU gewährleistet (vgl jetzt Richtlinie 2003/9/EG des Rates vom 27. Januar 2003 zur Festlegung von Mindestnormen für die Aufnahme von Asylbewerbern in den Mitgliedstaaten ≪RL≫, Amtsblatt Nr L 031 vom 6. Februar 2003, S 18). Das Berufungsgericht entnimmt dem Art 16 Abs 1a RL, wonach Asylbewerbern, die gegen Aufenthalts-, Melde- oder Auskunftspflichten verstoßen, Vorteile entzogen oder beschränkt werden dürfen, dass nur Verstöße gegen rechtliche Regelungen als rechtsmissbräuchlich zu qualifizieren seien. Abgesehen davon, dass es hier nicht um die Beschränkung, sondern um die Vorenthaltung von Vorteilen geht, verneint das LSG zu Unrecht einen relevanten Verstoß mit der Begründung, dass die Kläger mit dem Verbleib im Inland nur eine ihnen durch die Duldung eingeräumte Rechtsposition nutzten. Damit wird die aufenthaltsrechtliche Lage unzureichend beschrieben. Entscheidend ist der vollstreckungsrechtliche Charakter einer Duldung, deren “Nutzung” untrennbar mit einem Verstoß gegen die fortbestehende Ausreisepflicht verbunden ist.
Entgegen der Befürchtung des LSG Hamburg (InfAuslR 2006, 342) läuft die Regelung des § 2 Abs 1 AsylbLG auch nicht leer, wenn unter bestimmten Voraussetzungen bereits eine Nichtausreise als rechtsmissbräuchlich angesehen wird. Für die Vorschrift verbleibt jedenfalls dann ein weiter Anwendungsbereich, wenn – wie nach Auffassung des Senats – erst das Nichtwahrnehmen zumutbarer Ausreisemöglichkeiten den Rechtsmissbrauch begründet.
Ob dem Kläger und ggf ab wann eine tatsächlich und rechtlich mögliche Ausreise auch zumutbar war, lässt sich den im Berufungsurteil getroffenen Tatsachenfeststellungen nicht entnehmen. Das LSG hat sich aufgrund seiner Rechtsansicht insbesondere nicht mit der Frage einer Zumutbarkeit der Ausreise befasst. Da das Revisionsgericht die fehlenden Feststellungen nicht nachholen kann (§ 163 SGG), ist die Sache an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG).
In dem wieder eröffneten Berufungsverfahren wird das LSG die Zumutbarkeitsfrage auch nicht allein danach beantworten können, wann die Gefahren des Bürgerkrieges auf dem Balkan geendet haben. Denn unzumutbar ist die Ausreise nicht erst bei zielstaatsbezogenen Gefahren für Freiheit, Leib oder Leben, also bei Abschiebungshindernissen iS des § 60 Abs 7 AufenthG, die nach § 25 Abs 3 AufenthG in der Regel sogar zur Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis führen. Auch weniger gewichtige Gründe können die Ausreise unzumutbar machen.
Ein solcher Bleibegrund kann zB auch die besondere Situation von Ausländern sein, denen sich Ausreisemöglichkeiten erst nach jahrelangem Aufenthalt in Deutschland eröffnen. Haben sie sich während dieser langen Zeit derart in die deutsche Gesellschaft und die hiesigen Lebensverhältnisse integriert, dass ihre Ausreise in das Herkunftsland etwa einer Auswanderung nahe käme, so mag zwar das Aufenthaltsrecht darauf keine Rücksicht nehmen, falls es gelingt, diese Ausländer eines Tages doch noch abzuschieben. Bis dahin wird dem Ausländer seine Nichtausreise leistungsrechtlich aber nicht vorwerfbar und der weitere – geduldete – Aufenthalt in Deutschland deshalb nicht rechtsmissbräuchlich sein.
Das LSG wird bei seiner erneuten Entscheidung weiter zu berücksichtigen haben, dass der Kläger zwar die in seinen Verhältnissen liegenden Bleibegründe darzulegen hat, der Beklagten jedoch die Nichterweislichkeit von Rechtsmissbrauch zur Last fällt, weil es sich hierbei materiell um eine anspruchsausschließende Einwendung handelt (vgl Hohm, aaO, Stand Februar 2006, § 2 RdNr 93; Adolph in Linhart/Adolph, Sozialgesetzbuch II, Sozialgesetzbuch XII, Asylbewerberleistungsgesetz, Stand Juli 2006, § 2 AsylbLG RdNr 16).
Letztlich wird das Berufungsgericht auch zu prüfen haben, auf welcher verfahrensrechtlichen Grundlage der angefochtene Bewilligungsbescheid vom 1. April 2005 ergangen ist; dieser bewilligte – ebenso wie der am 3. Februar 2005 ergangene Bescheid (zur Wiedereröffnung des Rechtswegs durch einen solchen Zweitbescheid vgl Engelmann in von Wulffen, SGB X, § 31 Rz 31, in Abgrenzung zur bloß wiederholenden Verfügung, aaO Rz 32 ≪von einem solchen Fall ist allerdings selbst die Beklagte nicht ausgegangen≫) – anstelle der “Analogleistungen” nach § 2 AsylbLG, die dem Kläger nach dem festgestellten Sachverhalt zuletzt 2004 gewährt worden waren – nur noch Leistungen nach den §§ 3 ff AsylbLG, ohne dass erkennbar wäre, ob insoweit eine mögliche Bindung an den bestandskräftigen früheren Bescheid vom 12. Januar 2004 (oder einen – mangels vollständiger Akten der Beklagten nicht bekannten – Folgebescheid) beachtet wurde. Insoweit ist in Betracht zu ziehen, dass über die Einstufung des Klägers als Leistungsberechtigter nach § 2 AsylbLG mit Dauerwirkung entschieden worden war, nachdem die Stadt Seelze im Bescheid vom 12. Januar 2004 diesen Status “bis auf weiteres” anerkannt hatte. Eine Durchbrechung der Bindung wäre allerdings aufgrund des hier anwendbaren § 48 Abs 1 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (vgl § 9 Abs 3 AsylbLG; näher dazu das Senatsurteil vom heutigen Tage in der Sache B 9b AY 1/06 R) für die Zukunft denkbar, weil eine wesentliche rechtliche Änderung zum 1. Januar 2005 mit dem Inkrafttreten der Neufassung von § 2 AsylbLG (durch Art 8 Nr 3 des Gesetzes vom 30. Juli 2004, BGBl I S 1950) eingetreten ist, wonach nunmehr der Ausschluss von “Analogleistungen” bei rechtsmissbräuchlicher Aufenthaltsverlängerung statuiert wurde. Insoweit wird zu klären sein, ob die Änderung nicht bereits während des Leistungsbezuges beim zuvor zuständigen Leistungsträger vollzogen worden ist. Fraglich ist auch, ob die Bindung mit dem Wechsel des Wohnsitzes des Klägers durchbrochen wurde, weil damit die örtliche Zuständigkeit der Behörde wechselte (vgl § 10, § 10a Abs 1 AsylbLG).
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen