Entscheidungsstichwort (Thema)
Überprüfung. Bestandskraft. Rechtssicherheit. Regelaltersrente. Früherer Rentenbeginn. Rückwirkende Gewährung. Verfassungsmäßigkeit. Gleichheit. Auslegung
Orientierungssatz
1. Parallelentscheidung zu dem BSG-Urteil vom 8.2.2012 - B 5 R 38/11 R, das vollständig dokumentiert ist.
2. Die Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil wurde nicht zur Entscheidung angenommen (BVerfG 1. Senat 3. Kammer vom 2.7.2013 - 1 BvR 1444/12).
Normenkette
BGB §§ 133, 157; SGB I § 2 Abs. 2; SGB X § 44 Abs. 1, 4; ZRBG § 3 Abs. 1 S. 1; GG Art. 3 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf vom 24. März 2011 (S 26 R 1789/10) aufgehoben.
Die Klage gegen den Bescheid der Beklagten vom 4. Mai 2010 und den Widerspruchsbescheid vom 22. Juni 2010 wird abgewiesen.
Außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über einen früheren Beginn der der Klägerin bewilligten Regelaltersrente.
Die am 1922 in Polen geborene Klägerin ist als Verfolgte des Nationalsozialismus anerkannt. Sie besitzt die israelische Staatsangehörigkeit und lebt seit 1948 in Israel.
Während ihres zwangsweisen Aufenthalts im Ghetto Wilna arbeitete sie aus eigenem Willensentschluss vom 1.9.1941 bis 31.8.1943 in einer Schneiderwerkstatt und erhielt hierfür Proviant bzw Sachbezüge.
Am 18.2.2003 beantragte die Klägerin erstmals wegen der im Ghetto Wilna verrichteten Tätigkeit nach dem Gesetz zur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto (ZRBG) vom 20.6.2002 (BGBl I 2074) eine Rente aus der Deutschen Rentenversicherung. Mit Bescheid vom 8.6.2004 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 25.1.2005 lehnte die Beklagte den Antrag ab, weil die Klägerin keine entgeltliche Beschäftigung im Sinne des ZRBG, sondern Zwangsarbeit verrichtet habe. Die hiergegen erhobene Klage wies das SG Düsseldorf mit Urteil vom 7.11.2006 - S 15 (27) R 74/05 - ab, weil ua keine entgeltliche Tätigkeit im Sinne des ZRBG ausgeübt worden sei. Mit Urteil vom 9.11.2007 - L 4 R 1/07 - wies das LSG Nordrhein-Westfalen die Berufung der Klägerin zurück, weil jedenfalls eine entgeltliche, aus eigenem Willensentschluss zustande gekommene Beschäftigung iS des ZRBG nicht vorgelegen habe. Die gegen die Nichtzulassung der Revision in diesem Urteil beim BSG erhobene Beschwerde - B 5a R 10/08 B - nahm die Klägerin mit Schriftsatz vom 17.3.2008 zurück.
Am 16.7.2009 beantragte sie unter Hinweis auf die Urteile des BSG vom 2.6. und 3.6.2009 (ua BSGE 103, 190, 201 und 220 = SozR 4-5075 § 1 Nr 7, 5, 8) die Überprüfung des Bescheides vom 8.6.2004 idF des Widerspruchsbescheides vom 25.1.2005. Mit Bescheid vom 4.5.2010 gewährte die Beklagte der Klägerin unter Anerkennung einer Ghettobeitragszeit vom 1.9.1941 bis 31.8.1943 (Zeitraum des Bestehens des Ghettos Wilna) Regelaltersrente ab 1.1.2005. Den Widerspruch der Klägerin, mit dem diese insbesondere den Zeitpunkt des Rentenbeginns beanstandete, wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 22.6.2010 zurück.
Hiergegen hat die Klägerin Klage beim SG Düsseldorf erhoben, mit der sie eine Rentengewährung bereits ab 1.7.1997 begehrt hat. Mit Urteil vom 24.3.2011 hat das SG die Beklagte verurteilt, der Klägerin unter Neufeststellung der Regelaltersrente Rente bereits ab 1.7.1997 zu gewähren und die Rente für die Zeit vom 1.7.1997 bis 31.12.2004 nachzuzahlen. Zur Begründung hat es im Wesentlichen ausgeführt: Die ursprünglichen ablehnenden Rentenbescheide seien rechtswidrig und dementsprechend gemäß § 44 Abs 1 SGB X zurückzunehmen gewesen. Entgegen der Ansicht der Beklagten stehe der Klägerin die Regelaltersrente bereits ab dem geltend gemachten Zeitpunkt zu, weil nach § 3 Abs 1 ZRBG der vor Juli 2003 gestellte Rentenantrag fiktiv als schon am 18.6.1997 gestellt gelte. Gemäß § 99 Abs 1 SGB VI sei daher Rente bereits seit 1.7.1997 zu gewähren. § 44 Abs 4 SGB X und § 100 Abs 4 SGB VI seien nicht anwendbar. Der allgemeine Gleichbehandlungsgrundsatz des Art 3 Abs 1 GG gebiete es, im Wege richterlicher Rechtsfortbildung diese allgemeinen, die Rechte von Versicherten beschränkenden Verfahrens- und Ausschlussvorschriften nicht anzuwenden. Das hier vertretene Ergebnis ergebe sich des Weiteren aus dem Urteil des BSG vom 3.5.2005 (BSGE 94, 294 = SozR 4-2600 § 306 Nr 1) sowie der Entscheidung des BGH vom 22.2.2001 (IX ZR 113/00 - Juris = BGHReport 2001, 372 = LM BEG 1956 § 35 Nr 37 ≪5/2001≫), die ebenfalls davon ausgingen, dass der Zweck von Entschädigungsregelungen dahingehe, das zugefügte Unrecht sobald und soweit wie irgend möglich wiedergutzumachen.
Mit ihrer hiergegen eingelegten Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 44 Abs 4 SGB X. Im Fall der rückwirkenden Rücknahme von Verwaltungsakten nach § 44 Abs 1 SGB X auf Antrag sehe § 44 Abs 4 SGB X vor, dass Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile des SGB längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren vor Antragstellung erbracht würden. Diese Ausschlussregelung werde in den hier zu entscheidenden Fallkonstellationen nicht durch eine spezialgesetzliche Sonderregelung verdrängt. Insbesondere enthalte das ZRBG keine abweichende Regelung. Auch sei Art 3 Abs 1 GG nicht verletzt. Denn zwischen den vom SG benannten zwei Personengruppen - derjenigen, deren Rentenverfahren vor dem 2./3.6.2009 bereits rechtskräftig abgeschlossen worden sei, und derjenigen, deren Rentenverfahren zu diesem Zeitpunkt noch anhängig gewesen sei -, bestehe ein gewichtiger Unterschied, der eine ungleiche Behandlung rechtfertige. Dies sei die bestandskräftige Ablehnung des ersten Rentenantrags. In der Rechtsprechung des BVerfG sei es darüber hinaus anerkannt, dass eine fehlerhafte Rechtsanwendung erst dann gegen Art 3 Abs 1 GG verstoße, wenn sie bei verständiger Würdigung der das GG beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich sei und sich daher der Schluss aufdränge, sie beruhe auf sachfremden Erwägungen. Für das Vorliegen einer derartigen Willkür bestünden aber keine Anhaltspunkte.
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Die Klägerin beantragt, |
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die Revision zurückzuweisen. |
Sie hält die angefochtene Entscheidung für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Beklagten ist begründet. Das SG hat der Klage zu Unrecht stattgegeben. Die angefochtenen Bescheide sind rechtmäßig. Der Klägerin steht ein Anspruch auf Zahlung von Regelaltersrente bereits ab 1.7.1997 nicht zu.
Dies ergibt sich aus § 44 Abs 4 SGB X.
Ist ein Verwaltungsakt mit Wirkung für die Vergangenheit auf Antrag zurückgenommen worden, werden gemäß § 44 Abs 4 SGB X Sozialleistungen nach den Vorschriften der besonderen Teile dieses Gesetzbuchs längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren vor dem Antrag erbracht, wobei der Zeitpunkt des Antrags von Beginn des Jahres an gerechnet wird, in dem er gestellt worden ist.
Die Beklagte hat mit Bescheid vom 4.5.2010 den Bescheid vom 8.6.2004 und den Widerspruchsbescheid vom 25.1.2005, die bestandskräftig geworden sind, gemäß § 44 Abs 1 S 1 SGB X mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen. Zwar ist dies nicht ausdrücklich erfolgt. Eine Zurücknahme der Verwaltungsakte ist den Verlautbarungen im Bescheid vom 4.5.2010 jedoch gerade noch mit der gebotenen hinreichenden Bestimmtheit (§ 33 Abs 1 SGB X, § 117 SGB VI) zu entnehmen.
Für die ausgehend von seinem Verfügungssatz vorzunehmende Auslegung eines Verwaltungsaktes ist der in § 133 BGB ausgedrückte allgemeine Rechtsgedanke heranzuziehen, dass es nicht auf den Buchstaben, sondern auf den wirklichen Willen der Behörde bzw des Verwaltungsträgers ankommt, soweit er im Bescheid greifbar seinen Niederschlag gefunden hat. Für die Ermittlung des erklärten Willens sind dabei auch die Umstände und Gesichtspunkte heranzuziehen, die zur Aufhellung des Inhalts der Verfügung beitragen können und die dem Beteiligten bekannt sind, wenn der Verwaltungsakt sich erkennbar auf sie bezieht. Maßstab der Auslegung ist insofern der verständige und die Zusammenhänge berücksichtigende Beteiligte (vgl Badura in Erichsen/Ehlers, Allg VerwR, 12. Aufl 2002, § 38 RdNr 17).
Der Bescheid vom 4.5.2010 nimmt erkennbar auf das bereits bestandskräftig abgeschlossene Verwaltungsverfahren Bezug. Auf Seite 1 des Bescheides wird geregelt, dass die Klägerin - auf ihren Antrag vom 16.7.2009 - rückwirkend Regelaltersrente erhält und die Zahlung der Rente am 1.1.2005 beginnt. Bei dem Antrag vom 16.7.2009 handelt es sich um einen Antrag auf "Überprüfung des Bescheides vom 08.06.2004 in der Fassung des Widerspruchsbescheides vom 25.01.2005". In Übereinstimmung mit § 44 Abs 4 SGB X wird die Rente für einen Zeitraum von vier Jahren vor dem Antrag erbracht, wobei der Zeitpunkt des Antrags von Beginn des Jahres an gerechnet worden ist, in dem der Antrag gestellt wurde. Auf Seite 2 des Bescheides vom 4.5.2010 wird schließlich - wenngleich verkürzt - der Wortlaut des § 44 Abs 4 SGB X angegeben. Unter Berücksichtigung dieser im Bescheid verlautbarten Umstände war erkennbar, dass die früheren, die Regelaltersrente ablehnenden Bescheide, dh der Bescheid vom 8.6.2004 und der Widerspruchsbescheid vom 25.1.2005 gemäß § 44 Abs 1 S 1 SGB X zurückgenommen worden sind.
Dass § 44 Abs 4 SGB X die rückwirkende Erbringung von Leistungen im Fall der Aufhebung von gesetzeswidrigen, Sozialleistungen zu Unrecht verweigernden Ablehnungsentscheidungen auf einen Zeitraum von längstens vier Jahren beschränkt, ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Dem Grundgesetz ist nicht zu entnehmen, dass die vollziehende Gewalt allgemein verpflichtet wäre, rechtswidrig belastende oder auch rechtswidrig begünstigende Verwaltungsakte unbeschadet des Eintritts ihrer formellen Bestandskraft von Amts wegen oder auf Antrag des Adressaten aufzuheben oder abzuändern (vgl BVerfGE 20, 230, 235; 116, 24, 55; 117, 302, 315). Dementsprechend besteht auch keine allgemeine Verpflichtung der vollziehenden Gewalt, die Folgen einer rechtswidrigen Entscheidung im Nachhinein zu beseitigen. Tritt das Prinzip der Rechtssicherheit, aus dem sich die grundsätzliche Rechtsbeständigkeit in Bestandskraft erwachsender Akte der öffentlichen Gewalt ergibt, mit dem Gebot der Gerechtigkeit im Einzelfall in Widerstreit, so hat der Gesetzgeber beide Grundsätze abzuwägen und zu entscheiden, welchem von beiden Prinzipien der Vorrang gegeben werden soll (vgl BVerfGE 15, 313, 319; 35, 41, 47). Dieses Gebot konkretisiert § 44 SGB X dahingehend, dass im Interesse des Betroffenen an der richtigen Anwendung des Gesetzesrechts die rechtswidrige Entscheidung aufzuheben ist (Abs 1) und rückwirkend Sozialleistungen erbracht werden, wobei die Rückwirkung im Interesse der Rechtssicherheit auf vier Jahre begrenzt wird (Abs 4). Gegen die Begrenzung der rückwirkenden Leistungserbringung auf diese Zeitspanne kann unter dem Gesichtspunkt des Art 3 Abs 1 GG nicht der Vorwurf der Willkür erhoben werden (vgl hierzu allgemein BVerGE 15, 313, 319 f; 35, 41, 47). Innerhalb eines Zeitraums von vier Jahren verjähren grundsätzlich sowohl Ansprüche auf Sozialleistungen als auch auf Beiträge (vgl § 25 Abs 1 S 1 SGB IV). Damit hat der Gesetzgeber zum Ausdruck gebracht, dass gleichermaßen zu Lasten wie auch zu Gunsten des Versicherten Rechte und Pflichten aus einem Sozialleistungsverhältnis nach Ablauf dieser Zeitspanne nicht mehr geltend gemacht werden können. Hierbei handelt es sich um eine ausgewogene Gesamtregelung, innerhalb derer sich § 44 Abs 4 SGB X als sachlich begründete Bestimmung darstellt. Unter dem Gesichtspunkt des Art 14 Abs 1 GG ist § 44 Abs 4 SGB X eine verhältnismäßige und damit zulässige Bestimmung von Inhalt und Schranken des Eigentums iS des Art 14 Abs 1 S 2 GG (vgl BSGE 60, 158, 163).
Für Fälle der vorliegenden Art enthält § 44 Abs 4 SGB X eine abschließende Regelung. Die Beklagte hat sie bei Vorliegen der Voraussetzungen anzuwenden, ohne dass hiergegen der Einwand der unzulässigen Rechtsausübung erhoben oder ein Verstoß gegen Treu und Glauben geltend gemacht werden könnte (BSGE 60, 158, 160; 62, 10, 14).
Dem steht § 3 Abs 1 S 1 ZRBG nicht entgegen.
Nach dieser Vorschrift gilt ein bis zum 30.6.2003 gestellter Antrag auf Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung als am 18.6.1997 gestellt, mit der Folge, dass die Rente bei Vorliegen der Anspruchsvoraussetzungen ab 1.7.1997, dem Tag des Inkrafttretens des ZRBG (Art 3 Abs 2 ZRBG/SGB VI-Änderungsgesetz), zu leisten ist (vgl BSGE 103, 190 = SozR 4-5075 § 1 Nr 7 RdNr 57-58; BT-Drucks 14/8583, S 6). Schon unter Berücksichtigung seines Wortlauts regelt § 3 Abs 1 S 1 ZRBG allein die Wirkung der erstmaligen Antragstellung und hat keinen Bezug zum Verfahrensrecht (anders zB § 307b Abs 2 S 4 SGB VI). Auch ist nicht erkennbar, dass im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens verfahrensrechtliche Probleme erörtert worden wären (vgl BT-Drucks 14/8583, S 1 ff; BT-Drucks 14/8602, S 1 ff).
Systematische Erwägungen bestätigen dieses Verständnis. Das ZRBG ergänzt die Vorschriften des SGB VI (Senatsurteil vom 12.2.2009 - B 5 R 70/06 R - SozR 4-5075 § 1 Nr 6 RdNr 11). Verwaltungsakte, die unter Berücksichtigung des ZRBG ergehen, richten sich dementsprechend nach demselben Verfahrensrecht, das für Verwaltungsakte maßgeblich ist, deren Regelungsgegenstand ausschließlich dem SGB VI entstammt. Danach ist auch bei Rentenbescheiden mit ZRBG-Bezug das SGB X heranzuziehen, es sei denn, dem ZRBG ließe sich für bestimmte Verfahrensbestimmungen etwas anderes entnehmen. Dies ist indes nicht der Fall.
Sinn und Zweck des ZRBG erlauben kein anderes Ergebnis. Diese gehen zwar dahin, eine Lücke im Recht der Wiedergutmachung nationalsozialistischen Unrechts zu schließen (vgl Ulrike Mascher, Parlamentarische Staatssekretärin beim Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, BT-StenBer 14. Wahlperiode, 233. Sitzung, 25.4.2002, Plenarprotokoll 14/233 S 23282 zu Punkt B). Selbst dieser Grund legitimiert die Gerichte jedoch nicht dazu, sich im Wege der Auslegung einer Norm über eine indisponible Regelung eines anderen Gesetzes hinwegzusetzen.
Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 2 Abs 2 Halbs 2 SGB I, nach dem bei der Auslegung dieses Gesetzbuchs sicherzustellen ist, dass die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Diese Auslegungsregel enthält keinen Widerspruch zu den anerkannten Prinzipien der Methodenlehre, sondern gebietet eine bürgerfreundliche Gesetzesinterpretation, soweit eine solche unter Zugrundelegung der anerkannten Auslegungsmethoden möglich ist (vgl BSG, Urteil vom 10.11.2011 - B 8 SO 12/10 R - RdNr 23 mwN, zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen; Mrozynski, SGB I, 4. Aufl 2010, § 2 RdNr 16). Dies ist vorliegend jedoch nicht der Fall. Im Übrigen enthält § 44 SGB X bereits eine Konkretisierung des in § 2 Abs 2 Halbs 2 SGB I enthaltenen Rechtsgedankens (vgl BSGE 63, 214, 218).
Das hier vertretene Ergebnis verstößt nicht gegen Art 3 Abs 1 GG.
Der allgemeine Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG gebietet, wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln (BVerfGE 98, 365, 385; 103, 310, 318, jeweils mwN). Art 3 Abs 1 GG ist daher verletzt, wenn eine Gruppe von Normadressaten im Vergleich zu anderen Normadressaten anders behandelt wird, obwohl zwischen beiden Gruppen keine Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht bestehen, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen könnten (BVerfGE 112, 50, 67; 117, 272, 301; stRspr).
Die Personengruppe, deren Rentenverfahren vor dem 2./3.6.2009 bereits rechtskräftig abgeschlossen war und die auf einen Überprüfungsantrag rückwirkende Rentenzahlungen lediglich für einen Zeitraum von vier Jahren erhält, unterscheidet sich von der Personengruppe mit noch anhängigen Rentenverfahren zu diesem Zeitpunkt und sodann anerkannten Rentenansprüchen ab 1.7.1997 durch das Vorliegen eines bestandskräftigen Verwaltungsakts. Hierbei handelt es sich um einen Unterschied, der eine ungleiche Behandlung beider Gruppen rechtfertigt. Hat das BVerfG die Nichtigkeit einer gesetzlichen Norm mit Gesetzeskraft festgestellt (vgl §§ 78, 82 Abs 1, 95 Abs 3 S 1 und 2 iVm § 31 Abs 2 BVerfGG), bleiben nach ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift (§ 79 Abs 2 S 1 iVm §§ 82 Abs 1 und 95 Abs 3 S 3 BVerfGG) die aufgrund der nichtigen Norm ergangenen, nicht mehr anfechtbaren gerichtlichen Entscheidungen (mit Ausnahme von Strafurteilen - § 79 Abs 1 BVerfGG) und Verwaltungsakte unberührt. Diese Regelung hat das BVerfG wiederholt im Interesse der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens für verfassungsmäßig erklärt (BVerfGE 20, 230, 235 mwN). Die Bedeutung der Bestands- bzw Rechtskraft als Ausfluss des verfassungsrechtlich geschützten Prinzips der Rechtssicherheit verbietet es, diese als lediglich "formal" konstruiertes Unterscheidungsmerkmal zu bewerten. Ist aber selbst im Fall der Nichtigkeit einer gesetzlichen Bestimmung eine unterschiedliche Behandlung von rechtskräftig bzw bestandskräftig abgeschlossenen und anhängigen Verfahren verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, obwohl die Betroffenen auf die Verfahrensdauer keinen entscheidenden Einfluss haben, kann im Fall einer geänderten höchstrichterlichen Rechtsprechung nichts anderes gelten. Unter dem Blickwinkel des Art 3 Abs 1 GG erweist sich die rechtskräftige Entscheidung bzw der bestandskräftige Verwaltungsakt vielmehr als sachlich rechtfertigender Grund für eine Ungleichbehandlung. Ob ausnahmsweise etwas anderes gilt, wenn unanfechtbare gerichtliche Entscheidungen oder Verwaltungsakte auf einer sachlich nicht mehr nachvollziehbaren Gesetzesauslegung durch Verwaltungsträger und Gerichte beruhen, bedarf keiner Entscheidung. Anhaltspunkte für ein solches Verhalten sind hier nicht ansatzweise ersichtlich.
Eine richterliche Rechtsfortbildung zu Gunsten der Klägerin scheidet aus.
Zwar gehört es zu den Aufgaben der Dritten Gewalt, das Recht fortzuentwickeln. Dieser Befugnis sind jedoch mit Rücksicht auf den aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit unverzichtbaren Grundsatz der Gesetzesbindung der Rechtsprechung (Art 20 Abs 3 GG) Grenzen gesetzt. Eine Interpretation, die als richterliche Rechtsfortbildung den klaren Wortlaut des Gesetzes hintanstellt, keinen Widerhall im Gesetz findet und vom Gesetzgeber nicht ausdrücklich oder stillschweigend gebilligt wird, greift unzulässig in die Kompetenzen des demokratisch legitimierten Gesetzgebers ein (BVerfG NJW 2011, 836 Textziff 53 mwN).
So verhält es sich hier. § 3 Abs 1 ZRBG ist nicht zu entnehmen, dass § 44 Abs 4 SGB X im Zugunstenverfahren keine Anwendung finden soll. Aufgrund der Zugehörigkeit der Norm zum Recht der gesetzlichen Rentenversicherung ist gleichzeitig geklärt, dass für ihre verwaltungsverfahrensrechtliche Umsetzung die Vorschriften des SGB X Anwendung finden (§ 1 Abs 1 S 1 SGB X). Auch enthält das Gesetzgebungsverfahren keinerlei Hinweise auf eine spezialgesetzliche Verdrängung des allgemeinen Verfahrensrechts. Die nachträgliche Anordnung der Nichtanwendbarkeit des § 44 Abs 4 SGB X im hier maßgeblichen Zusammenhang ist daher allein Sache des Gesetzgebers; die Rechtsprechung ist hierzu nicht befugt, auch wenn der Senat dieses Ergebnis für wünschenswert hielte.
Die Entscheidung des erkennenden Senats steht mit den Urteilen des BSG vom 3.5.2005 (B 13 RJ 34/04 R - BSGE 94, 294 = SozR 4-2600 § 306 Nr 1) und vom 19.4.2011 (B 13 R 20/10 R - zur Veröffentlichung in SozR 4-6480 Art 27 Nr 1 vorgesehen) nicht in Widerspruch. Diesen liegen Sachverhalte zu Grunde, in denen es um die erstmalige Bescheidung eines Rentenantrags unter Berücksichtigung des ZRBG ging, sodass der Anwendungsbereich des § 44 SGB X nicht betroffen war. Eine Divergenz zu sonstigen Entscheidungen des BSG (BSGE 10, 113; 13, 67; Urteil vom 27.7.1972 - RzW 1973, 37) liegt schon deswegen nicht vor, weil sich diese nicht mit der Auslegung des ZRBG beschäftigen und einen Zeitraum betreffen, in dem das SGB X noch nicht in Kraft gesetzt war.
Es bestand auch kein Anlass, den Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes anzurufen. Der erkennende Senat weicht mit seinem Urteil nicht von Entscheidungen des BGH (Urteil vom 22.11.1954, RzW 1955, 55, 57; Urteil vom 5.12.1958, RzW 1959, 215, 216; Urteil vom 1.12.1994 - IX ZR 63/94 - Juris; Urteil vom 22.2.2001 - IX ZR 113/00 - Juris RdNr 14 = BGHReport 2001, 372 = LM BEG 1956 § 35 Nr 37 ≪5/2001≫) ab. Vielmehr ist er mit dem BGH der Auffassung, dass im Wiedergutmachungsrecht derjenigen Auslegung der Vorrang einzuräumen ist, die es erlaubt, das zugefügte Unrecht sobald und soweit wie irgend möglich wiedergutzumachen, falls eine solche Auslegung möglich ist. Diese Voraussetzung liegt hier aus den oben genannten Gründen jedoch nicht vor. Abgesehen davon geht es im hiesigen Verfahren um die Auslegung einer rentenrechtlichen Vorschrift, für die allein die Gerichte der Sozialgerichtsbarkeit zuständig sind.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 und 4 SGG.
Fundstellen