Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsschadensausgleich. Selbständiger. Altersversorgung, unterlassene. Vergleichswert. Alterseinkommen, tatsächliches. Alterseinkommen, fiktives

 

Leitsatz (amtlich)

Derzeitiges Bruttoeinkommen eines Selbständigen ist nach dessen Ausscheiden aus dem Erwerbsleben ein fiktiver Betrag (Bestätigung von BSGE 64, 283 = SozR 3100 § 30 Nrn 76, 77). Diesen „Vergleichswert” berücksichtigt die BSchAV in voller Höhe auch dann, wenn der ehemals Selbständige tatsächlich keine Alterseinkünfte erzielt.

 

Normenkette

BVG § 30; BSchAV § 9 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 8

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 24.06.1994; Aktenzeichen L 4 V 23/93)

SG Speyer (Entscheidung vom 08.02.1993; Aktenzeichen S 3 V 173/91)

 

Tenor

Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Juni 1994 aufgehoben.

Die Rechtssache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin macht als Rechtsnachfolgerin ihres verstorbenen Ehemannes V. Ansprüche auf Berufsschadensausgleich (BSchA) für die Zeit vom 1. März 1990 bis zum Tod des V. Ende 1991 geltend.

Bei dem 1920 geborenen V. waren nach einer Kriegsverletzung Schädigungsfolgen mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 vH anerkannt. V. war nach Jurastudium und Referendarzeit zunächst als Assessor und Prokurist beschäftigt. Von 1959 bis September 1990 war er selbständiger Rechtsanwalt. Eine Altersversorgung hatte er nicht. Der Beklagte lehnte den im März 1990 gestellten Antrag auf BSchA ab, weil die nach § 9 Abs. 8 der Berufsschadensausgleichsverordnung (BSchAV) berechnete fiktive Altersversorgung das Vergleichseinkommen von 75 % der Besoldungsgruppe A 15 übersteige.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 8. Februar 1993). Auf die vom SG zugelassene Berufung der Klägerin hat das Landessozialgericht (LSG) den Beklagten verurteilt, BSchA zu gewähren und bei dessen Berechnung von der fiktiven Altersversorgung nur drei Viertel als derzeitiges Bruttoeinkommen zu berücksichtigen (Urteil des LSG Rheinland-Pfalz vom 24. Juni 1994).

Der Beklagte hat die vom LSG zugelassene Revision eingelegt. Er rügt eine Verletzung des § 9 Abs. 8 BSchAV. Zu berücksichtigen sei der volle Betrag der fiktiven Altersversorgung. Dann ergebe sich kein Zahlbetrag für den BSchA.

Der Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Juni 1994 insoweit aufzuheben, als es das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 8. Februar 1993 abgeändert hat, und die Berufung der Klägerin insgesamt zurückzuweisen.

Die Klägerin ist im Revisionsverfahren nicht vertreten.

Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Beklagten ist im Sinne der Zurückverweisung begründet. Anspruch auf BSchA besteht nicht, wenn V. nach den Maßstäben des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) und der BSchAV weder während seines Berufslebens, noch nach Ausscheiden aus dem Erwerbsleben einen schädigungsbedingten Einkommensverlust hatte. Ob das der Fall war, läßt sich nach den vom LSG getroffenen Feststellungen nicht entscheiden.

Dem für V. nach Ausscheiden aus dem Berufsleben maßgeblichen Vergleichseinkommen von 5.246,– DM (Endgrundgehalt der Besoldungsgruppe A 15, gekürzt um 25 %) standen zwar mit der Ausgleichsrente nur 461,– DM anrechenbare Einkünfte gegenüber. Die Lücke zwischen diesen Beträgen durch BSchA-Leistungen – teilweise – zu schließen, bestände aber kein Grund, wäre sie nicht schädigungsbedingt entstanden, sondern darauf zurückzuführen, daß der selbständige Rechtsanwalt V. für sein Alter nicht vorgesorgt hatte, obwohl ihm eine angemessene Altersvorsorge möglich gewesen wäre.

Nach der Rechtsprechung des Senats bemißt sich der BSchA eines Selbständigen nicht nach der Differenz zwischen dem, was er als Gesunder wahrscheinlich verdienen würde, und dem, was er als beschädigter Selbständiger tatsächlich verdient. Maßgebend ist vielmehr, wie er seine berufliche Arbeitskraft als Unselbständiger auf dem Arbeitsmarkt verwerten könnte – einerseits als Gesunder, andererseits als Beschädigter. Das folgt aus §§ 5 und 9 Abs. 1 Nr. 2 BSchAV iVm § 30 BVG und gilt nicht nur dann, wenn ein Selbständiger noch erwerbstätig ist, sondern auch in dem Fall, daß er aus dem Berufsleben ausscheidet und Rente bezieht. Auch dann wird nicht das tatsächlich erzielte Alterseinkommen dem Vergleichseinkommen gegenübergestellt, sondern ein fiktives Alterseinkommen, welches der Beschädigte als Unselbständiger bei Ausnutzung seiner Arbeitskraft erreicht hätte. Denn es ist nicht Sinn des BSchA bei Selbständigen, eine trotz der Schädigung mögliche, aber unterlassene Altersvorsorge durch entsprechend höhere Versorgungsleistungen auszugleichen (BSGE 64, 283 = SozR 3100 § 30 Nr. 76, Nr. 77).

Bei Ausnutzung seiner Arbeitskraft als Unselbständiger hätte V. ein Arbeitseinkommen in Höhe seines Vergleichseinkommens (Besoldungsgruppe A 15) erzielt. Sein Berufserfolg als Rechtsanwalt zwingt zu der Annahme, daß er auch als Jurist im öffentlichen Dienst hätte tätig werden können und dort jedenfalls zum Regierungsdirektor (Besoldungsgruppe A 15) aufgestiegen wäre. Das folgt aus den Feststellungen des LSG, wonach V. als Rechtsanwalt ein überdurchschnittliches Einkommen erzielt hat. Das LSG wird jetzt festzustellen haben, ob V. nicht nur während des Berufslebens, sondern auch als pensionierter Beamter das Vergleichseinkommen erreicht hätte. Dafür ist zu ermitteln, welche ruhegehaltsfähige Dienstzeit er nach den Vorschriften des Beamtenversorgungsrechts zurückgelegt und ob er damit das höchstmögliche Ruhegehalt von 75 % der Besoldungsgruppe A 15 erreicht hätte. Bei diesem fiktiven Alterseinkommen schiede BSchA von vornherein aus.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus § 9 Abs. 8 BSchAV. Mit dieser Vorschrift hat der Verordnungsgeber der zitierten Rechtsprechung des Senats Rechnung tragen wollen (vgl die Motive des Verordnungsgebers in BR-Drucks 719/90, S 21 f). Deshalb stellt er dem Vergleichseinkommen nicht die tatsächlichen Alterseinkünfte des ehemals Selbständigen gegenüber, sondern den Betrag, den ein abhängig Beschäftigter in vergleichbarer Stellung als Alterssicherung hätte erlangen können (Vergleichswert). Einkommensverlust ist dann die Differenz zwischen zwei fiktiven Beträgen: dem Vergleichswert und dem – nach Vollendung des 65. Lebensjahres abgesenkten – Vergleichseinkommen. Die Modalitäten zur Berechnung des Vergleichswerts sollen sicherstellen, daß ein Selbständiger, der in der Zeit seines Erwerbslebens Einkünfte in Höhe des Vergleichseinkommens erzielt hat oder hätte erzielen können, keinen Schaden in der Altersversorgung geltend machen kann.

Der in § 9 Abs. 8 Satz 2 BSchAV eingeschlagene Weg zur Berechnung des Vergleichswerts ist bedenklich (vgl dazu bereits BSG. Urteil vom 29. September 1993 – 9/9a RV 33/92 –, nicht veröffentlicht), weil der beschädigte Selbständige zunächst mit einem gesunden Arbeitnehmer verglichen und erst dann dessen Arbeitsentgelt um den Anteil gemindert wird, „um den im Durchschnitt des Erwerbslebens die gesundheitliche Fähigkeit des Beschädigten, seine Berufstätigkeit auszuüben, eingeschränkt war”. Solche Abschläge auf das Arbeitsentgelt kommen im Arbeitsleben nicht vor. Die vom Verordnungsgeber geforderte Schätzung dürfte Verwaltung und Tatsachengerichten auch mit Hilfe von Sachverständigen kaum möglich sein. Nach der Rechtsprechung des Senats ist deshalb, unabhängig von dem abstrakten MdE-Grad, das trotz Schädigung verbliebene Leistungsvermögen für eine bestimmte Tätigkeit einzuschätzen und das Entgelt für diese Tätigkeit als derzeitiges Bruttoeinkommen festzusetzen. Dabei ist auch der Erfahrung Rechnung zu tragen, daß Beschädigte selbst mit einer MdE um 100 vH, wie sie beim Kläger vorliegt, in vollem Umfang den beruflichen Anforderungen gerecht werden, so daß das Vergleichseinkommen erzielt oder sogar überschritten wird (BSG SozR 3100 § 30 Nr. 76). Ein Einkommensverlust könnte sich im vorliegenden Fall nach der Rechtsprechung des Senats nur ergeben, wenn V. aufgrund der vom LSG noch zu treffenden Feststellungen als fiktives Alterseinkommen nicht das abgesenkte Vergleichseinkommen von 5.246,– DM (75 % der Bezüge nach Besoldungsgruppe A 15) zugerechnet werden könnte. Dagegen liegt der nach § 9 Abs. 8 BSchAV ermittelte Vergleichswert hier mit 5.566,– DM noch höher als das Vergleichseinkommen.

Ob das derzeitige Bruttoeinkommen eines Selbständigen stets als fiktiver Betrag festzusetzen ist, oder ob ausnahmsweise die tasächlichen Alterseinkünfte berücksichtigt werden dürfen, kann offenbleiben. Der in § 9 Abs. 8 BSchAV geregelte Ausnahmefall liegt hier nämlich nicht vor. Nach dieser Vorschrift ist derzeitiges Bruttoeinkommen das tatsächlich zur Verfügung stehende Alterseinkommen, solange es nicht um mehr als ein Viertel unter dem Vergleichswert liegt. „Erreicht das derzeitige Bruttoeinkommen nicht drei Viertel des Vergleichswertes, ist dieser Betrag das derzeitige Bruttoeinkommen” (§ 9 Abs. 8 Satz 4 BSchAV). V. hatte überhaupt keine Altersversorgung. Sein derzeitiges – fiktives – Bruttoeinkommen blieb deshalb der Vergleichswert in voller Höhe, nicht nur – wie das LSG meint – drei Viertel dieses Betrages. Die Worte „dieser Betrag” in § 9 Abs. 8 Satz 4 BSchAV können sich zwar auf „Vergleichswert” oder auf „drei Viertel des Vergleichswertes” beziehen. Dem Sinn der Vorschrift wird aber nur die erste Möglichkeit gerecht. Wer als Selbständiger für sein Alter vorsorgt, den Versorgungsgrad eines vergleichbaren Arbeitnehmers (Vergleichswert) aber nicht erreicht, dem wird nicht sofort der Vorwurf unzureichender Altersversorgung gemacht. Deshalb werden geringfügige Lücken in der Altersversorgung Selbständiger durch einen höheren BSchA noch ausgeglichen. Den Vorwurf unzureichender Altersversorgung erhebt der Verordnungsgeber erst, wenn der Vergleichswert um mehr als ein Viertel unterschritten wird. Solche Lücken werden durch Hinzurechnung des Fehlbetrages zwischen tatsächlichem Alterseinkommen und dem Vergleichswert mit der Folge geschlossen, daß kein höherer BSchA zu zahlen ist. Damit wird verhindert, daß eine vollständig unterlassene oder grob unzureichende Altersversorgung zu höherem BSchA führt (zu demselben Ergebnis kommt das Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung im Rundschreiben vom 14. November 1994, BArbBl 1995, 1/55).

Die Kostenentscheidung bleibt dem den Rechtsstreit abschließenden Urteil vorbehalten.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1049538

Breith. 1995, 953

Dieser Inhalt ist unter anderem im TVöD Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge