Entscheidungsstichwort (Thema)
Anspruch auf sog Urlaubspflege wegen Schwerpflegebedürftigkeit
Beteiligte
…, Kläger und Revisionsbeklagter |
Allgemeine Ortskrankenkasse für das Saarland, Saarbrücken, Halbergstraße 1, Beklagte und Revisionsklägerin |
Tatbestand
G r ü n d e :
I
Streitig ist, ob der Kläger wegen Schwerpflegebedürftigkeit Anspruch auf sog Urlaubspflege hat (§ 56 des Fünften Buches des Sozialgesetzbuches [SGB V]).
Der 1945 geborene, seit 1970 als Beschäftigter in einer Werkstätte für Behinderte bei der Beklagten versicherte Kläger leidet an einem angeborenen Down-Syndrom (Mongolismus) mit erheblichen Behinderungen auf geistigem Gebiet. Er steht deshalb unter Vormundschaft seines Schwagers. Neben den Behinderungen auf geistigem Gebiet leidet der Kläger an einer hochgradigen Hörstörung, einer Sehstörung und einer ausgeprägten Sprachstörung in Form von Stottern. Er hat eine eigene Wohnung im Elternhaus, die mit der im Nachbarhaus gelegenen Wohnung seiner Schwester, Frau K, verbunden ist, die ihn seit Jahren betreut. Von seiner Wohnung wird er mit dem Bus abgeholt und auch wieder dorthin zurückgebracht, wenn er seiner Beschäftigung in der in Dillingen/Saar gelegenen Werkstätte für Behinderte nachgeht. Nach bindender Ablehnung eines früheren Antrags auf Urlaubspflege (Bescheid vom 6. Oktober 1989) beantragte der Kläger am 20. Mai 1990 erneut Urlaubspflege in Form der Übernahme der Kosten der Unterbringung in der Zeit vom 20. bis 28. März 1991. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit der Begründung ab, daß bereits die früher durchgeführte Prüfung des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen (MDK) vom 26. September 1989 das Fehlen von Schwerpflegebedürftigkeit ergeben habe (Bescheid vom 6. Juni 1990; Widerspruchsbescheid vom 19. November 1990). Ein im Laufe des Klageverfahrens gestellter weiterer Antrag vom 26. Juni 1991 auf Gewährung der Urlaubspflege für die Zeit vom 1. bis zum 8. Juli 1991 wurde mit Bescheid vom 3. Juli 1991 abgelehnt. Die gegen die Ablehnungen gerichtete Klage hat das Sozialgericht (SG) für das Saarland nach Anhörung eines medizinischen Sachverständigen abgewiesen (Urteil vom 31. Juli 1991). Auf die - vom SG zugelassene - Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) für das Saarland nach Anhörung der Zeuginnen K und Sch das vorinstanzliche Urteil und die genannten Bescheide der Beklagten aufgehoben und diese verurteilt, dem Kläger die Kosten der Urlaubspflege in der Zeit vom 20. bis 28. März und vom 1. bis 8. Juli 1991 zu erstatten. Zur Begründung ist im wesentlichen ausgeführt: Der Kläger, der die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 54 SGB V erfülle, sei schwerpflegebedürftig iS von § 53 Abs 1 SGB V. Denn er sei in nahezu allen Lebensbereichen (Mobilität/Motorik, Hygiene, Ernährung und Kommunikation) auf intensive Hilfe angewiesen, wie insbesondere den Angaben der Zeugin K zu entnehmen sei. Danach könne er eine Vielzahl von Verrichtungen nur mühsam und sehr langsam ausführen und nicht selbst sinnvoll steuern, sondern wiederhole dieselbe Bewegung über lange Zeit, wenn er nicht jeweils zum Beginn und zur Beendigung der entsprechenden Verrichtungen angehalten werde. Außerhalb seines häuslichen Bereichs könne er sich nur in Begleitung bewegen, da er orientierungslos sei. Im häuslichen Bereich könne er nur kurze Zeit alleingelassen werden. Eine Verständigung in Alltagsdingen sei zwar möglich, aber angesichts der Sprachstörung erschwert. Lesen und Schreiben könne der Kläger nicht. Der beschriebene Sachverhalt entspreche der Ziff 4.2 der zu § 53 Abs 3 SGB V ergangenen Richtlinien, wonach die Fähigkeit zur Ausübung einer Verrichtung auch dann nicht gegeben sei, wenn sie zwar motorisch ausgeübt werden könne, jedoch die Notwendigkeit der Verrichtung nicht erkannt oder nicht in sinnvolles Handeln umgesetzt werden könne. In einem Fall wie dem vorliegenden, in dem über die bloße Anwesenheit und Aufsicht hinaus die vorhandenen Defizite durch aktive Hilfeleistungen in allen Lebensbereichen ausgeglichen werden müßten, sei der Pflegebedarf von solcher Intensität und zeitlichen Ausdehnung, daß Schwerpflegebedürftigkeit zu bejahen sei. Auch seien alle sonstigen Voraussetzungen der häuslichen Pflegehilfe erfüllt, so daß dem Kläger die für die Zeit vom 20. bis 28. März 1991 für die Unterbringung außerhalb seines Haushalts entstandenen Kosten in Höhe von 652,05 DM nach Maßgabe des § 56 Satz 3 SGB V und die für die Zeit vom 1. bis 8. Juli 1991 für die Pflege durch eine selbstbeschaffte Ersatzkraft entstandenen Kosten in Höhe von 450,-- DM nach Maßgabe des § 13 Abs 2 SGB V zu erstatten seien.
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 53 Abs 1 SGB V, der §§ 128 und 103 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) und meint zunächst, das LSG habe den Begriff der Schwerpflegedürftigkeit verkannt. Dieser Begriff setze sowohl nach dem Wortlaut der gesetzlichen Definition als auch nach der Begründung zum Regierungsentwurf voraus, daß sich der Hilfebedürftige in seinem Alltag nahezu in allen Bereichen, dh in dem weit überwiegenden Teil der Bereiche "Mobilität/Motorik, Hygiene, Ernährung und Kommunikation", nicht selbst versorgen könne, sondern auf ständige intensive Hilfe und in der Regel auch auf hauswirtschaftliche Versorgung angewiesen sei. Die in "sehr hohem Maße" geforderte Hilfebedürftigkeit sei mehr als eine "erhebliche Hilfebedürftigkeit", die nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) für den dem Kläger zuerkannten Nachteilsausgleich "H" maßgeblich sei. Daraus könne auf Schwerpflegebedürftigkeit nicht geschlossen werden. Ferner liege Hilfebedürftigkeit iS der Steuerungsunfähigkeit nur dann vor, wenn die betroffene Person aufgrund ihrer geistigen Behinderung trotz Aufforderung und Anleitung nicht in der Lage sei, eine bestimmte Verrichtung selbständig durchzuführen. Nur wenn die jeweilige Verrichtung durch die aktive Hilfe einer dritten Person ersetzt werden müsse, liege ein Hilfebedarf iS des § 53 SGB V vor. Bestehe hingegen - wie im vorliegenden Fall - lediglich die Notwendigkeit, den Behinderten aufzufordern, anzuleiten oder zu kontrollieren, sei der konkrete Hilfebedarf jedenfalls wesentlich geringer als bei der Notwendigkeit aktiver Hilfe. Es sei insoweit nicht gerechtfertigt, bei geistig behinderten Personen einen geringeren Maßstab anzulegen als bei körperlich Behinderten. Auch die Notwendigkeit allgemeiner Aufsicht vermöge das Vorliegen von Schwerpflegebedürftigkeit nicht zu begründen, es sei denn, daß die Notwendigkeit ständiger Aufsicht bei nahezu allen Verrichtungen des täglichen Lebens bestehe. Die genannten Voraussetzungen seien beim Kläger nach den getroffenen Feststellungen nicht erfüllt. Insoweit habe das LSG § 128 SGG verletzt, weil es sich im wesentlichen auf die Aussage der Zeugin K (Schwester des Klägers) gestützt und wesentliche Teile der Aussage der Zeugin Sch und des Sachverständigen Dr. R übergangen bzw nicht ausreichend berücksichtigt habe. Nach Angaben der Zeugin Sch sei der Kläger im Werkstattbereich voll orientiert, könne sich alleine waschen, die Toilette aufsuchen und seinen Arbeitskittel anziehen, ohne ständiger Aufsicht zu bedürfen. Auch nach Angaben des Sachverständigen Dr. R sei der Kläger durchaus steuerungsfähig, weil er die Notwendigkeit der jeweiligen Verrichtungen erkennen und in sinnvolles Handeln umsetzen könne. Er könne viele Verrichtungen selbständig und ohne ständige Aufsicht durchführen, ohne daß zwanghafte Verhaltensmuster wie das ewige Wiederholen einer bestimmten Handlung beobachtet worden seien. Insgesamt sei der Kläger in der ihm bekannten Umgebung frei und selbständig beweglich und bedürfe nicht ständiger Aufsicht. Hätte das LSG diese Aussagen berücksichtigt, so hätte es sich angesichts der dem zum Teil völlig widersprechenden Aussagen der Zeugin K gedrängt sehen müssen, weitere Ermittlungen durchzuführen. Insoweit sei auch § 103 SGG verletzt.
Die Beklagte beantragt (sinngemäß),
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das Urteil des Landessozialgerichts für das Saarland vom 23. Juni 1992 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts für das Saarland vom 31. Juli 1991 zurückzuweisen. |
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Der Kläger beantragt,
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die Revision zurückzuweisen. |
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Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
II
Der Senat konnte auf Antrag der Beklagten nach Lage der Akten entscheiden (§ 126 SGG), weil der im Termin nicht erschienene Kläger in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist.
Die Revision der Beklagten führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG; denn dessen Feststellungen reichen nicht aus, um abschließend beurteilen zu können, ob beim Kläger Schwerpflegebedürftigkeit iS von § 53 SGB V vorliegt.
Nach den Feststellungen des LSG, die insoweit nicht mit Revisionsrügen angegriffen und daher für den Senat bindend sind (§ 163 SGG), liegen beim Kläger die sonstigen Voraussetzungen für die Gewährung von Urlaubspflege nach § 56 SGB V vor. Die Pflegeperson des Klägers, die Zeugin K (Schwester), war wegen ihres Erholungsurlaubes in der Zeit vom 20. bis 28. März 1991 und vom 1. bis 8. Juli 1991 verhindert, den Kläger, dessen Pflege sie seit vielen Jahren übernommen hat, zu pflegen und zu versorgen. Die genannten Zeiträume überschreiten nicht die im Gesetz vorgesehene Dauer der Urlaubspflege von längstens vier Wochen je Kalenderjahr. Die entstandenen Aufwendungen, die für den Zeitraum im März 1991 652,05 DM und im Juli 1991 450,-- DM betragen haben, überschreiten zusammen nicht den in § 56 Satz 2 SGB V vorgesehenen Höchstbetrag von 1800,-- DM. Soweit der Kläger in der Zeit vom 20. bis 28. März 1991 außerhalb seines bzw des Haushalts seiner Schwester gepflegt worden ist, übersteigen die dadurch entstandenen Kosten nicht die Höhe des Betrages, den die Krankenkasse bei Pflege und Versorgung in seinem bzw im Haushalt seiner Familie aufzuwenden gehabt hätte (§ 56 Satz 3 SGB V). Darüber wird zwischen den Beteiligten nicht gestritten. Das gilt auch insoweit, als der Kläger in der Zeit vom 1. bis 8. Juli 1991 durch eine selbstbeschaffte Ersatzkraft zu Hause gepflegt worden ist; die dadurch entstandenen und auch erforderlichen Kosten in Höhe von 450,-- DM sind nach § 13 Abs 2 SGB V (seit dem 1. Januar 1993 Abs 3) erstattungsfähig, wenn der noch vor Urlaubsbeginn geltend gemachte Sachleistungsanspruch auf Urlaubspflege zu Unrecht abgelehnt worden ist. Die versicherungsrechtlichen Voraussetzungen des § 54 SGB V sind beim Kläger erfüllt, weil er seit der erstmaligen Aufnahme einer Erwerbstätigkeit im Jahre 1970 bis zur Feststellung der (möglichen) Schwerpflegebedürftigkeit ununterbrochen versichert war.
Die allein streitige Frage, ob der Kläger zum Kreis der "Schwerpflegebedürftigen" gehört, ist vom LSG bejaht worden, ohne daß die Auslegung und Anwendung dieses Begriffs bzw seiner Definition in § 53 SGB V Rechtsfehler erkennen läßt. Das Berufungsurteil kann nur deshalb nicht bestätigt werden, weil es - wie die Beklagte begründet rügt - auf einer Verletzung des § 128 SGG und des § 103 SGG beruht.
Nach § 53 Abs 1 SGG V sind Schwerpflegebedürftige diejenigen Versicherten, die nach ärztlicher Feststellung wegen einer Krankheit oder Behinderung so hilflos sind, daß sie für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer in sehr hohem Maße der Hilfe bedürfen. Aufgrund der in § 53 Abs 3 SGB V erteilten Ermächtigung haben die Spitzenverbände der Krankenkassen zur Abgrenzung des Personenkreises der Schwerpflegebedürftigen gemeinsam und einheitlich unter Beteiligung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung, der Bundesverbände der Pflegeberufe sowie der Behinderten am 9. August 1989 Richtlinien erlassen, die am 1. September 1989 in Kraft getreten sind (BABl 1989, 43 = BKK 1989, 595, 596). Es bedarf hier keiner abschließenden Entscheidung, ob diese Richtlinien nur verwaltungsinterne Regelungen darstellen, die die Gerichte nicht binden (so Höfler in KassKomm, § 53 SGB V Rz 30; Igl, Rechtsprobleme bei Pflegebedürftigkeit, Rechtsgutachten 1989, S 21; Schellhorn in von Maydell, GK-SGB V, § 53 Rz 32; Zipperer in Maaßen/Schermer/Wiegand/Zipperer, SGB V, GKV-Komm, § 53 Rz 23a; im Ergebnis auch Peters/Mengert, SGB V, § 53 Rz 64 ff). Auch wenn der Senat der Ansicht folgte, daß sich aus der vom Gesetzgeber eingeräumten Richtlinienkompetenz ein Beurteilungsspielraum mit Befugnis zum Erlaß normkonkretisierender, im Außenverhältnis bindender Regelungen ergibt (so Eicher, SGb 1990, 129, 132; zur Problematik normkonkretisierender Verwaltungsvorschriften vgl aus neuerer Zeit Wolf, DÖV 1992, S 849 ff; Ebsen, VSSR 1990, S 57 ff; Rupp in Urteilsanmerkung zu EuGH vom 30.5.1991, JZ 1991, 1034 f; Di Fabio, DVBl 1992, 1338), ergibt sich daraus für die rechtliche Beurteilung des vorstehenden Falles kein anderes Ergebnis.
Bezüglich der Frage, ob ein geistig Behinderter die Fähigkeit zur Ausübung der gewöhnlichen Verrichtungen des täglichen Lebens hat, hat es das LSG - in Übereinstimmung mit den genannten Richtlinien - zu Recht nicht genügen lassen, daß die Verrichtungen lediglich motorisch möglich sind, sondern hat darauf abgestellt, ob die Notwendigkeit der Verrichtungen erkannt und in sinnvolles Handeln umgesetzt werden kann (vgl Nr 4.3 der Richtlinien), inwieweit also die Fähigkeit zu selbständigem Handeln besteht. Dabei ist eine Hilfebedürftigkeit, anders als die Beklagte dies sieht, nicht nur dann gegeben, wenn die jeweilige Verrichtung durch die aktive Hilfe einer dritten Person ersetzt werden muß, sondern sie liegt auch dann vor, wenn der Behinderte die Verrichtungen nur nach Aufforderung, Anleitung und/oder Kontrolle erledigen kann. Das ist in Rechtsprechung und Literatur überwiegend anerkannt (vgl die Nachweise bei Jürgens, Pflegeleistungen für Behinderte, 1986, S 114). Insoweit ist bei geistig behinderten Personen kein geringerer, sondern ein anderer Maßstab anzulegen als bei anderen Behinderten, bei denen es regelmäßig darum geht, inwieweit ihre Fähigkeit zu selbständigem Handeln körperlich/motorisch umgesetzt werden kann. Allerdings ist bei allen Behinderten grundsätzlich nur der Anteil der Hilfe zu berücksichtigen, der den Umfang der Hilfebedürftigkeit eines gleichaltrigen Gesunden überschreitet. Im vorliegenden Fall kommt es also darauf an, ob und inwieweit bei dem erwachsenen Kläger die Notwendigkeit zu ständiger Aufforderung, Anleitung und Kontrolle oder auch zu aktiver Hilfe besteht.
Auch was die geforderte Hilflosigkeit "in sehr hohem Maße" betrifft, läßt die Auslegung des LSG keinen Rechtsfehler erkennen. Nach der Begründung des Gesetzes zu § 53 Abs 1 SGB V werden von der gesetzlichen Definition dieser Bestimmung Personen erfaßt, die sich in ihrem Alltag nahezu in allen Bereichen (nach Nr 4.1 der Richtlinien sind dies die Bereiche der Mobilität/Motorik, der Hygiene, der Ernährung und der Kommunikation) nicht selbst versorgen können, sondern auf ständige, intensive Pflege und in der Regel auch auf hauswirtschaftliche Versorgung angewiesen seien; dies schließe nicht aus, daß auch Schwerpflegebedürftige in einzelnen Gebieten noch in begrenztem Umfang Aktivitäten entfalten könnten; dauernde Bettlägerigkeit werde nicht vorausgesetzt (BT-Drucks 11/2237 S 183 zu § 52 Abs 1 des Entwurfs). Dieser allgemeinen Umschreibung, die in ähnlicher Form auch in den Richtlinien wiederkehrt (vgl Nr 5.2, aaO), ist im Grundsatz zu folgen; sie entspricht der Rechtsprechung zu § 35 Abs 1 Satz 2 BVG, wonach die Unfähigkeit zur eigenständigen Ausübung einzelner Verrichtungen keinesfalls genügt; vielmehr ist Maßstab für die Prüfung der (dort geforderten außergewöhnlichen) Pflegebedürftigkeit das Verhältnis der Funktionsdefizite zu der Gesamtheit der gewöhnlichen Verrichtungen (BSG SozR 3100 § 35 Nr 16 S 58 mwN). Deshalb kommen als Schwerpflegebedürftige iS von § 53 SGB V grundsätzlich nur Personen in Betracht, die bei Befriedigung ihrer Grundbedürfnisse weitaus überwiegend der Hilfe anderer bedürfen (Höfler in KassKomm, § 53 SGB V Rz 22). Dieses Verhältnis ist allerdings nicht rein quantitativ - nach Menge und zeitlichem Umfang der erforderlichen Verrichtungen - zu bestimmen, obwohl der erforderliche Zeitaufwand regelmäßig eine entscheidende Rolle spielen wird (so auch Eicher aaO, S 135). Vielmehr sind neben den quantitativen auch qualitative Momente des erforderlichen Pflegeaufwandes zu berücksichtigen. Insofern gehen auch die Richtlinien davon aus, daß die Verrichtungen untereinander nicht gleichwertig, sondern entsprechend den Verhältnissen des Einzelfalles unterschiedlich zu bewerten seien; so seien in die Beurteilung der Hilflosigkeit auch die besonderen Belastungen der Pflege, die erforderliche Anleitung sowie die Möglichkeit der Selbstkontrolle und der eigenen Steuerung mit einzubeziehen (Nrn 4.3, 5.2 und 5.3 der Richtlinien). Schon diese Formulierungen verdeutlichen, daß insoweit nur eine grobe Orientierungshilfe geboten wird und daß auch das Erfordernis des Hilfebedarfs "in nahezu allen Bereichen" nicht schematisch verstanden werden darf. Damit ist vielmehr - wovon auch die Richtlinien ausgehen - nur der Regelfall umschrieben, der nicht ausschließt, daß in Einzelfällen auch die Hilfebedürftigkeit in einigen Lebensbereichen ausreichen kann, wenn dort nach Art, Intensität und Umfang ein außergewöhnlicher Hilfebedarf besteht, der für die gesamte Lebensführung des Versicherten prägend ist (vgl dazu im einzelnen das Urteil des erkennenden Senats vom 8. Juni 1993 - 1 RK 17/92 - zur Veröffentlichung vorgesehen).
Im vorliegenden Fall ist deshalb mit dem LSG davon auszugehen, daß die Schwerpflegebedürftigkeit des Klägers nicht von vornherein daran scheitert, daß er nicht bei nahezu allen Verrichtungen des täglichen Lebens der ständigen aktiven Hilfe einer Pflegeperson bedarf. Die Voraussetzungen des § 53 SGB V sind vielmehr auch dann erfüllt, wenn der Kläger aufgrund bestehender Steuerungsunfähigkeit die Verrichtungen des täglichen Lebens weit überwiegend nur unter Aufforderung, Anleitung und Kontrolle durch die Pflegeperson oder deren aktive Mithilfe ausführen kann. Dabei kommt es vor allem darauf an, ob der Versicherte - was das LSG verneint hat - die Notwendigkeit der jeweiligen Verrichtungen erkennen und in sinnvolles Handeln umsetzen kann oder ob er hieran, zB durch Störungen der zeitlichen oder räumlichen Orientierung, des Antriebs oder der Psyche gehindert ist.
Das Berufungsurteil kann nur deshalb nicht bestätigt werden, weil es, wie die Beklagte begründet rügt, auf einer Verletzung des § 128 SGG und, wie sich daraus weiter ergibt, auch auf einer Verletzung des § 103 SGG beruht. Die Beklagte beanstandet zu Recht, daß das LSG das Gesamtergebnis des Verfahrens nicht ausreichend und umfassend berücksichtigt hat (BSG SozR Nrn 40 und 56 zu § 128 SGG), insbesondere hinsichtlich der Frage, ob der Kläger sein Verhalten sinnvoll steuern kann, praktisch ausschließlich den Angaben der Zeugin K gefolgt ist, ohne sich mit der davon abweichenden Aussage der Zeugin Sch. und insbesondere der Beurteilung des Dr. R ausreichend auseinander zusetzen. Dessen Angaben, daß der Kläger die meisten Verrichtungen des täglichen Lebens "alleine" ausführen könne und keiner wesentlichen Mithilfe bedürfe, hat das LSG ausschließlich auf die rein motorische Fähigkeit des Klägers zu solchen Verrichtungen bezogen und im übrigen die Angaben der Zeugin K zugrunde gelegt, daß der Kläger mangels Steuerungsfähigkeit seines Verhaltens und Wiederholungszwängen bei den einzelnen Bewegungsabläufen ständiger Aufforderung und Anleitung, aber auch aktiver Mithilfe bedürfe. Bei dieser Sachlage mußte sich das LSG zu weiterer Aufklärung des Sachverhalts gedrängt sehen, mindestens durch ergänzende Befragung des Dr. R, zumal dessen Gutachten an Mängeln leidet, die seine Überzeugungskraft mindern. Denn der Gutachter hat trotz entsprechender Hinweise in der durch den Vormund K abgegeben Fremdanamnese nicht dazu Stellung genommen, inwieweit die - motorisch möglichen - Verrichtungen selbständig oder nur unter Aufforderung, Anleitung und Kontrolle ausgeübt werden können. Insoweit dürfte eine längere Beobachtung des Versicherten in seiner häuslichen Umgebung angezeigt sein.
Nach allem war die Sache an das LSG zurückzuverweisen, das auch über die Kosten des Revisionsverfahrens mit zu entscheiden haben wird.BUNDESSOZIALGERICHT
Fundstellen