Entscheidungsstichwort (Thema)
Invalidität. Leistungsvermögen. abstrakte Betrachtungsweise. konkrete Betrachtungsweise. Arbeitsmarkt. Teilzeitarbeitsmarkt
Leitsatz (amtlich)
Die Minderung des Leistungsvermögens iS des § 8 Rentenverordnung DDR ist bei Versicherten, die nicht mehr vollschichtig erwerbstätig sein können, auch nach Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland ohne Berücksichtigung der Verhältnisse des (Teilzeit-)Arbeitsmarktes zu beurteilen.
Normenkette
SozPflVRV § 8; RVO §§ 1246-1247, 1283; SGB VI §§ 43-44
Verfahrensgang
KreisG Erfurt (Urteil vom 01.12.1992; Aktenzeichen 1 So 117/91) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Kreisgerichts Erfurt vom 1. Dezember 1992 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Beteiligten haben einander keine Kosten zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob der Kläger für die Zeit vom 1. Juli 1991 bis 31. Dezember 1991 Anspruch auf die Gewährung von Invalidenrente hat.
Der 1936 geborene Kläger war von 1950 bis 1990 als Maschinenschlosser, Montageschlosser, Dreher, Werkzeugschleifer und zuletzt im Uhren- und Feingerätewerk W. als Flachschleifer beschäftigt. Seit 17. Juli 1990 war der Kläger arbeitsunfähig. Zum 30. Juni 1991 wurde er von seinem Betrieb entlassen. Das Arbeitsamt bewilligte ihm Altersübergangsgeld (AFg) nach § 249 e des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) in Höhe von 185,40 DM wöchentlich ab 12. Juli 1991 (Bescheid vom 26. Juli 1991).
Den Antrag des Klägers auf Gewährung von Invalidenrente vom März 1990 lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 14. Februar 1991 ab. Den Widerspruch wies sie mit Widerspruchsbescheid vom 26. Juli 1991 zurück. Die Beklagte berief sich darauf, daß das Leistungsvermögen des Klägers noch nicht um mindestens zwei Drittel gegenüber einem gesunden Versicherten eingeschränkt sei. Mit seiner Klage hat der Kläger die Gewährung von Invalidenrente von März 1990 bis Dezember 1991 geltend gemacht. Das Kreisgericht Erfurt (KreisG) hat unter Abweisung der Klage im übrigen die Beklagte verurteilt, dem Kläger für die Zeit vom 1. Juli 1991 bis 31. Dezember 1991 Invalidenrente zu gewähren (Urteil vom 1. Dezember 1992). In den Entscheidungsgründen hat es ausgeführt, daß der Kläger die Voraussetzungen der §§ 8 und 9 der Rentenverordnung vom 23. November 1979 (GBl I S 401 – RentenVO –) für den Anspruch auf Invalidenrente erfülle. Der Kläger sei seit 1. Juli 1991 invalide iS des § 8 der RentenVO. Sein Verdienst sei um mindestens zwei Drittel gemindert gewesen, nämlich um volle drei Drittel. Nicht zu berücksichtigen sei, daß der Kläger Lohnersatz in Form des Alüg bezogen habe. Nach § 17 der ersten Durchführungsbestimmung zur Rentenverordnung vom 23. November 1979 (GBl I S 413 – DB-RentenVO –) könnten unter „Verdienst” iS des § 8 der RentenVO lediglich Einkünfte aus Arbeit zu verstehen sein. Die Leistungsfähigkeit des Klägers sei aus medizinischer Sicht im streitbefangenen Zeitraum allerdings noch nicht um mindestens zwei Drittel gemindert gewesen.
Der Kläger sei in der Zeit vom 1. Juli 1991 bis 31. Dezember 1991 nur noch halbschichtig bis untervollschichtig einsatzfähig gewesen. Eine abstrakte Auslegung des Gesetzestextes werde indes dem Sinn und Zweck der Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit nicht gerecht und verbiete sich daher auch im Falle der Invalidenrente nach § 8 der RentenVO. Auch auf die Invalidenrente nach §§ 8 und 9 der RentenVO seien deshalb die vom Bundessozialgericht (BSG) entwickelten und in ständiger Rechtsprechung angewandten Grundsätze zum Teilzeitarbeitsmarkt zu übertragen. Der Teilzeitmarkt sei für den Kläger verschlossen. Von der Anwendung der Grundsätze des BSG zum geschlossenen Arbeitsmarkt könne auch nicht in Anbetracht dessen abgesehen werden, daß die Fortgeltung von § 8 RentenVO nur eine Übergangsregelung sei. Auch der Gleichbehandlungsgrundsatz gemäß Art. 3 Grundgesetz (GG) gebiete die Übertragung dieser Rechtsprechung auf die Invalidenrente. § 8 der RentenVO sei verfassungskonform dahingehend auszulegen, daß auch bei der Beurteilung der Invalidität nach dieser Bestimmung die konkrete Betrachtungsweise anzuwenden sei. Invalidität liege beim Kläger allerdings erst seit 1. Juli 1991 vor. Erst seit diesem Zeitpunkt sei das Leistungsvermögen, ausgelöst durch die Kündigung zum 30. Juni 1991, in rentenerheblichem Grad herabgesunken.
Gegen dieses Urteil hat die Beklagte die vom KreisG im Urteil zugelassene Revision eingelegt. Die Beklagte ist der Ansicht, daß Invalidität iS von § 8 RentenVO bzw von Art. 2 § 7 Renten-Überleitungsgesetz (RÜG) beim Kläger nicht vorliegt. Nach den Feststellungen des KreisG sei das Leistungsvermögen des Klägers aus medizinischer Sicht noch nicht um mindestens zwei Drittel gemindert. Nicht nachvollziehbar sei die Ansicht des KreisG, es könne von der Anwendung der Grundsätze des BSG zum verschlossenen Arbeitsmarkt auch in Anbetracht dessen nicht absehen, daß die Fortgeltung von § 8 RentenVO nur eine Übergangsregelung sei, weil Art. 3 GG eine Übertragung dieser Rechtsprechung auf die Invalidenrente gebiete. Auch für Versicherte in den neuen Bundesländern würden ab 1. Januar 1992 die Vorschriften über die Rente wegen Berufsunfähigkeit (BU) gelten. Auch habe bei Anwendung der konkreten Betrachtungsweise eine Rentengewährung auf Zeit zu erfolgen. Eine § 1276 Reichsversicherungsordnung (RVO) bzw § 102 des Sechsten Buchs des Sozialgesetzbuches (SGB VI) entsprechende Regelung bestehe aber in der RentenVO und auch in Art. 2 RÜG nicht.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Kreisgerichts Erfurt vom 1. Dezember 1992 aufzuheben und die Klage abzuweisen, soweit eine Rente wegen Invalidität begehrt wird.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er ist der Ansicht, daß auch bei Auslegung des § 8 RentenVO die konkrete Betrachtungsweise anzuwenden ist. § 8 RentenVO sei zu Zeiten der DDR von der Vollbeschäftigungsgarantie des Staates ausgegangen, dh von der Verpflichtung der Arbeitgeber auch nur teilzeitarbeitsfähige Arbeitnehmer zu beschäftigen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs. 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Invalidenrente nach §§ 8 und 9 RentenVO, denn er ist in der Zeit vom 1. Juli 1991 bis 31. Dezember 1991 nicht invalide iS von § 8 Abs. 1 RentenVO gewesen.
Streitbefangen ist nur der Rentenanspruch für diesen Zeitraum, denn für die Zeit seit dem 1. Januar 1992 ist vom Kläger mit dem Klageantrag kein Anspruch auf Invalidenrente mehr geltend gemacht worden, und für die Zeit vor dem 1. Juli 1991 hat der Kläger das klageabweisende Urteil nicht angefochten.
Der Anspruch des Klägers auf Invalidenrente richtet sich nach den §§ 8 und 9 RentenVO, die gemäß § 23 Abs. 2 des Gesetzes über die Sozialversicherung vom 28. Juni 1990 (GBl I S 486 ≪SVG≫) iVm Art. 9 Anl 2 Kap VIII Sachg F Abschn III Nr. 6 des Einigungsvertrages (EV) bis 31. Dezember 1991 in Kraft geblieben sind. § 8 Abs. 1 RentenVO bestimmt, daß Invalidität vorliegt, wenn durch Krankheit, Unfall oder eine sonstige geistige bzw körperliche Schädigung das Leistungsvermögen und der Verdienst um mindestens zwei Drittel gemindert sind und die Minderung des Leistungsvermögens in absehbarer Zeit durch Heilbehandlung nicht behoben werden kann. Die Vorschrift macht Invalidität von zwei unterschiedlichen Voraussetzungen abhängig, die kumulativ vorliegen müssen. Zum einen muß eine Minderung des körperlichen und/oder geistigen Leistungsvermögens in einem bestimmten Umfang vorliegen, ein medizinisch zu beurteilender Sachverhalt, zum anderen muß wegen des eingeschränkten Leistungsvermögens eine Minderung des Verdienstes in einem bestimmten Maß eingetreten sein.
Invalidität iS von § 8 RentenVO liegt beim Kläger nicht vor. Der Senat muß dabei nicht entscheiden, ob das Alüg, das der Kläger in der Zeit von Juli bis Dezember 1991 bezogen hat, entgegen der Ansicht des KreisG nicht doch als Einkommen iS von § 8 RentenVO iVm § 17 DB-RentenVO zu berücksichtigen ist und deshalb keine hinreichende Einkommensminderung eingetreten gewesen ist. Invalidität liegt schon deshalb nicht vor, weil das körperliche und geistige Leistungsvermögen des Klägers in der Zeit von Juli bis Dezember 1991 iS dieser Vorschrift noch nicht um zwei Drittel gemindert gewesen ist. Die vom KreisG getroffene Feststellung, daß bei medizinischer Beurteilung eine entsprechende Leistungsminderung nicht vorgelegen hat, kann als Tatsachenfeststellung nach § 161 Abs. 4 SGG nicht angegriffen werden. Das KreisG hat aber auch nicht den Rechtsbegriff der Minderung des Leistungsvermögens um zwei Drittel iS von § 8 RentenVO verkannt, soweit es davon ausgegangen ist, daß für diesen Begriff vor dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland allein das körperlich-geistige Leistungsvermögen des Versicherten und die krankheitsbedingte Verminderung dieses Leistungsvermögens maßgeblich waren. Der Begriff war allein medizinisch zu bestimmen (vgl. etwa Püschel ua, Sozialversicherung der Arbeiter und Angestellten, Berlin 1966, S 208; Püschel und Wulf, Die Rentenversorgung der Arbeiter und Angestellten in der Deutschen Demokratischen Republik, S 40; Weiße und Roßbach, Rentenrecht der DDR, 1970, RentenVO § 9 Anm. 2.1). Die Minderung des Leistungsvermögens war damit nur zu beurteilen nach der Fähigkeit, überhaupt arbeiten zu können. War das Leistungsvermögen, bezogen auf die Normalarbeitszeit, zeitlich eingeschränkt, bedeutete dies damit nicht zwangsläufig, daß eine Minderung des Leistungsvermögens um zwei Drittel eingetreten war. Davon ist auch das KreisG ausgegangen. Es hat, obwohl das Leistungsvermögen des Klägers auf Arbeiten untervollschichtig bis halbschichtig zeitlich begrenzt gewesen ist, eine Minderung des Leistungsvermögens um zwei Drittel aus medizinischer Sicht verneint. Rechtlich unzutreffend ist es, wenn das KreisG Invalidität gleichwohl bejaht, weil bei der Auslegung des Begriffs der Invalidität ein Abstellen auf das rein medizinisch zu beurteilende Leistungsvermögen seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland nicht mehr möglich sei, vielmehr auch wegen der Lohnersatzfunktion der Invalidenrente die sogenannte konkrete Betrachtungsweise wie bei der Auslegung der Begriffe BU bzw Erwerbsunfähigkeit (EU) in den §§ 1246, 1247 RVO zugrunde zu legen sei. Das KreisG hat dazu festgestellt, daß der bei konkreter Betrachtungsweise zu berücksichtigende Teilzeitarbeitsmarkt für den nicht mehr vollschichtig erwerbsfähigen Kläger verschlossen gewesen ist.
§ 8 RentenVO ist auch nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland nicht anders auszulegen als bis zu diesem Zeitpunkt. Danach ist auch bei Versicherten, die nicht mehr vollschichtig erwerbstätig sein können, der Umfang der Minderung des Leistungsvermögens iS dieser Vorschrift abstrakt, dh ohne Berücksichtigung der Verhältnisse des Teilzeitarbeitsmarktes zu beurteilen. Die Übertragung der konkreten Betrachtungsweise, die bei diesen Versicherten zur Berücksichtigung der Verhältnisse des Teilzeitarbeitsmarktes führen würde, kann nicht damit begründet werden, daß nunmehr die Invalidenrente Lohnersatzfunktion habe. Die Invalidenrente nach den §§ 8 und 9 RentenVO hat nicht erst seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland Lohnersatzfunktion. Diese seit jeher bestehende Funktion wird schon dadurch deutlich, daß Invalidität definitionsgemäß nur gegeben ist, wenn auch eine tatsächliche Verdienstminderung um zwei Drittel vorliegt. Die Lohnersatzfunktion war aber rechtlich nicht so ausgestaltet, daß der gesundheitsbedingte Verlust des Arbeitsplatzes oder auch nur langandauernde Arbeitsunfähigkeit zwingend den Rentenbezug herbeiführten. Insbesondere war eine lückenlose Absicherung des Risikos Krankheit in dem Sinne, daß bei dauernder Arbeitsunfähigkeit automatisch Invalidität anzunehmen war, nicht gegeben. Nach § 51 der Verordnung über die Sozialversicherung bei der Staatlichen Versicherung der Deutschen Demokratischen Republik vom 9. Dezember 1977 (GBl I S 1 –StaatlSVO–) wurde Krankengeld längstens für 78 Wochen gezahlt. Wenn bis zum Ende der Krankengeldzahlung die Arbeitsunfähigkeit nicht behoben war, wurde nicht kraft Gesetzes Invalidität angenommen. Nach § 51 Satz 2 StaatlSVO bestand in diesem Fall lediglich eine Pflicht zur ärztlichen Begutachtung zur Feststellung der Invalidität. Der Senat unterstellt aber, daß in der DDR vor Öffnung der Mauer ein Betrieb einen Versicherten nach Ende der Krankengeldzahlung bei fortbestehender Arbeitsunfähigkeit entsprechend seinem geminderten Leistungsvermögen in aller Regel weiterbeschäftigte, wenn Invalidität noch nicht bestand. Damit geht der Senat davon aus, daß für leistungsgeminderte Arbeitnehmer in der DDR in aller Regel eine soziale Absicherung entweder durch Krankengeld oder Invalidenrente oder Entgelt für eine angepaßte Arbeit bestand, auch wenn das Leistungsvermögen, bezogen auf die Normalarbeitszeit, zeitlich eingeschränkt war. Dies ist seit dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland insofern anders, als jedenfalls seit diesem Zeitpunkt auch im Beitrittsgebiet für leistungsgeminderte Arbeitnehmer, die ihren Arbeitsplatz verlieren, die Chance einen Arbeitsplatz zu erhalten, sehr gering sein dürfte.
Dies bedeutet aber nicht, daß nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland und den daraus folgenden Veränderungen der arbeitsrechtlichen Verhältnisse auch der Begriff der Invalidität im fortgeltenden Rentenrecht der DDR in bezug auf die Chance, das Leistungsvermögen auch auf dem Arbeitsmarkt konkret zu verwerten, so auszulegen ist, wie die Begriffe der EU bzw der BU in der RVO. In der DDR ist noch vor dem Beitritt zur Bundesrepublik Deutschtand die Arbeitslosenversicherung eingeführt und ein AFG erlassen worden (AFG vom 22. Juni 1990 – GBl I Nr. 36 S 403 – ≪AFG-DDR≫). Auch für die Rentenversicherung ist, zusammen mit der Kranken- und Unfallversicherung, das Gesetz über die Sozialversicherung (SVG vom 28. Juni 1990 – GBl I Nr. 38 S 486 –) erlassen worden. Dieses Gesetz hat aber die Anspruchsgrundlagen, wie sie in der RentenVO geregelt sind, nicht verändert. Das gilt nicht nur für die Invalidenrente, sondern auch etwa für die Ansprüche auf Hinterbliebenenrente, die zusätzliche bzw andere Anspruchsvoraussetzungen als die entsprechenden Ansprüche nach der RVO haben. Ob der Gesetz- oder Verordnungsgeber der DDR bei deren Weiterbestehen die Leistungsansprüche neu geregelt hätte, kann hier dahinstehen. Bis zum Beitritt der DDR zur Bundesrepublik Deutschland ist dies jedenfalls nicht geschehen. Mit dem EV ist das Rentenrecht der DDR im Beitrittsgebiet zunächst übernommen worden. Die Angleichung des Rentenrechts im Beitrittsgebiet an das Rentenrecht im übrigen Gebiet der Bundesrepublik Deutschland ist mit dem RÜG innerhalb von 15 Monaten herbeigeführt worden. Dabei ist für die Zeit ab 1. Januar 1992 das SGB VI auch für das Beitrittsgebiet verbindliches Recht geworden. Das Rentenrecht der DDR gilt mit Änderungen im Beitrittsgebiet ergänzend weiter (vgl. Art. 2 §§ 1 ff RÜG). Bei konkurrierenden Ansprüchen ist die Leistung nach dem SGB VI ggf erhöht, um einen Übergangszuschlag zu gewähren (§ 319 b SGB VI idF des Art. 1 Nr. 33 Rentenüberleitungs-Ergänzungsgesetz vom 24. Juni 1993 – BGBl I S 1038 –). Daraus ergibt sich, daß bewußt das auch in den Anspruchsvoraussetzungen unterschiedliche Recht der DDR zunächst allein weiter in Geltung bleiben sollte. Gerade weil somit die Begriffe der BU und EU für die neuen Bundesländer erst ab dem 1. Januar 1992 gelten, folgt daraus also, daß der Invaliditätsbegriff bis dahin weiter anzuwenden war, was indes eine Abweichung von seiner bisherigen – abstrakten – Interpretation ausschließt, zumal seine Weitergeltung zeitlich eng begrenzt worden ist.
Die sich daraus ergebende Ungleichbehandlung der Versicherten im Beitrittsgebiet und im übrigen Bundesgebiet ist als Übergangsrecht hingenommen worden. Entgegen der Ansicht des KreisG ergibt sich dies gerade aus Art. 143 Abs. 1 GG, wonach das Recht in dem in Art. 3 GG genannten Gebiet längstens bis zum 31. Dezember 1992 von Bestimmungen des GG abweichen konnte, soweit und solange infolge der unterschiedlichen Verhältnisse die völlige Anpassung an die grundgesetzliche Ordnung noch nicht erreicht werden konnte. Für das Recht der Rentenversicherung hat der Gesetzgeber diese Frist nicht einmal voll ausgeschöpft, weil das SGB VI mit Wirkung vom 1. Januar 1992 auch für das Beitrittsgebiet geltendes Recht geworden ist. Es ist auch nicht ersichtlich, daß die – zeitlich eingeschränkte – Ungleichbehandlung des Klägers gegenüber Versicherten, die Ansprüche nach der RVO hatten, gegen den Wesensgehalt (Art. 19 Abs. 2 GG) des Art. 3 GG verstoßen hat, was auch für das Übergangsrecht gem Art. 143 Abs. 1 Satz 2 GG unzulässig gewesen wäre. Die gegenteilige Meinung des KreisG verkennt, daß dem Gesetzgeber zur Angleichung des Sozialrechts als Folge des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland ein weiter Gestaltungsspielraum gegeben war. Dieser ließ es zu, für den Bereich des Rentenrechts im Beitrittsgebiet zunächst das bisherige Recht der DDR weiter in Geltung zu lassen. Soweit Sicherungslücken im Bereich der Invalidenrente auftreten konnten, waren diese jedenfalls nicht so erheblich, daß eine Übertragung der konkreten Betrachtungsweise für diese Rentenart geboten war. Für die Rente wegen Erwerbsminderung konnten die unterschiedlichen Anspruchsvoraussetzungen eine tatsächliche Leistungslücke iS fehlender Ansprüche ohnehin nur in Ausnahmefällen bewirken. Voraussetzung war, daß während der Zeit von Oktober 1990 bis 31. Dezember 1991 kein Anspruch auf Krankengeld bestand bzw dieses auslief und auch kein Anspruch auf Arbeitslosengeld bzw Alüg bestand. Diese Fälle dürften verhältnismäßig selten sein. Auch der Kläger ist zB für den hier streitigen Zeitraum durch den Bezug von Alüg sozial abgesichert gewesen. Soweit der Gesetzgeber des EV zulässigerweise das bisherige Rentenrecht im Beitrittsgebiet in Kraft gelassen hat, können dessen Vorschriften dann nicht unter Bezug auf Art. 3 GG wieder vereinheitlichend mit den Vorschriften der RVO, des Angestelltenversicherungsgesetzes (AVG) oder des Reichsknappschaftsgesetzes (RKG) ausgelegt werden. Die Schwierigkeiten die als Folge des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik Deutschland auf dem Arbeitsmarkt im Beitrittsgebiet entstanden sind, sind durch besondere Regelungen zB im Bereich des AFG in Form des Alüg gemildert worden.
Im übrigen ergibt sich gerade im Fall des Klägers, daß er bei Anwendung nicht nur der Auslegungsgrundsätze, die für die BU- bzw EU-Rente gelten, sondern bei Anwendung auch der Ruhensvorschriften der RVO im noch streitigen Zeitraum ohnehin keinen Anspruch auf Auszahlung der Rente gehabt hätte, da ein Anspruch nach § 1283 RVO wegen des Bezugs von Alüg geruht hätte. Wenn Alüg nicht als Einkommen iS von § 8 RentenVO anzusehen ist, liegt es nahe, hinsichtlich der Folgen der Konkurrenz von Ansprüchen auf Invalidenrente und Alüg eine Gesetzeslücke anzunehmen, weil die Konkurrenz ausdrücklich nur in der nach Art. 9 Anl II Kap VIII Sachg E Abschn III Nr. 1 dd fortgeltenden Ruhensvorschrift des § 118 Satz 1 Nr. 3 und Satz 2 AFG-DDR geregelt ist. Hingegen fehlt eine dem § 1283 RVO entsprechende Ruhensvorschrift im SVG bzw in der RentenVO für die Fälle, in denen eine nachträgliche Rentengewährung erfolgt. Verneint man insoweit eine entsprechende Anwendung des § 1283 RVO auf die Invaliditätsrente, so würde dies für die Übergangszeit zu einem nicht gerechtfertigten Doppelbezug von Leistungen führen, was letztlich ebenfalls gegen die Anwendung der für die BU und EU geltenden Auslegungsgrundsätze auf eine bis zum 31. Dezember 1991 zu gewährende Invaliditätsrente spricht.
Dem Klagebegehren mußte nach alledem der Erfolg versagt bleiben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs. 1 SGG.
Fundstellen