Verfahrensgang

LSG Berlin (Urteil vom 20.11.1992; Aktenzeichen L 5 J 16/92)

SG Berlin (Urteil vom 29.11.1991)

 

Tenor

Auf die Revision der Klägerin werden das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 20. November 1992 und das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 29. November 1991 sowie der Bescheid der Beklagten vom 15. Februar 1991 aufgehoben.

Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Hinterbliebenenrente gemäß § 1265 Abs 1 Satz 2 der Reichsversicherungsordnung aus der Versicherung des E. … W. … vom 1. Dezember 1990 an zu gewähren.

Die Beklagte hat der Klägerin die außergerichtlichen Kosten des Rechtsstreits zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Geschiedenen-Witwenrente aus der Versicherung des 1977 verstorbenen E. … W. … (Versicherter).

Die 1930 geborene Klägerin war seit 1956 mit dem 1926 geborenen Versicherten verheiratet. Aus der Ehe ging der 1959 geborene Sohn Axel hervor. Die Ehe wurde 1964 aus der Alleinschuld des Versicherten geschieden. Die Klägerin verzichtete auf Unterhalt, auch für den Notbedarf. Im Jahr der Scheidung (1964) verdiente der Versicherte als Gießereiarbeiter 2.171,36 DM brutto, die Klägerin als Steno-Kontoristin 6.183,20 DM. 1966 heiratete der Versicherte wieder. Aus dieser Ehe ging der 1966 geborene Sohn Kai-Uwe hervor. Diese Ehe wurde 1975 geschieden. 1968 betrug das Einkommen des Versicherten 18.746,30 DM, das der Klägerin 9.340,00 DM. Im Jahre 1969 verdiente der Versicherte 15.541,20 DM, die Klägerin 10.014,58 DM. Ab 1970 verdiente die Klägerin ständig mehr als der Versicherte. Im November 1990 beantragte die Klägerin bei der Beklagten die Gewährung einer Geschiedenen-Witwenrente. Die Beklagte lehnte diesen Antrag ab (Bescheid vom 15. Februar 1991).

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 29. November 1991). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 20. November 1992) und hat im wesentlichen ausgeführt: Die Klägerin habe nicht bloß auf eine „leere Hülse” verzichtet. Sie habe nicht davon ausgehen dürfen, daß der Versicherte ihr nie mehr unterhaltspflichtig werden würde. Daran ändere auch nichts der Umstand, daß der Versicherte vor der Scheidung inhaftiert gewesen sei. Da die Klägerin im Ehescheidungsprozeß auch ihr Vorbringen dahin beschränkt habe, daß der Versicherte lediglich noch wegen lieblosen Verhaltens und Ablehnung der ehelichen Gemeinschaft als schuldig erschienen sei, liege überdies eine Konventionalscheidung vor.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 1265 Abs 1 Satz 2 Reichsversicherungsordnung (RVO).

Sie beantragt,

das angefochtene Urteil, das Urteil des Sozialgerichts vom 29. November 1991 und den Bescheid der Beklagten vom 15. Februar 1991 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Hinterbliebenenrente aus der Versicherung des 1977 verstorbenen E. … W. … vom 1. Dezember 1990 an zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die durch Zulassung statthafte Revision der Klägerin ist begründet.

Trotz Inkrafttretens des Sechsten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB VI) am 1. Januar 1992 (Art 85 Abs 1 des Rentenreformgesetzes 1992 ≪RRG≫) gilt für den vorliegenden Fall noch das Recht der RVO (§ 300 Abs 2 SGB VI).

Nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO wird einer früheren Ehefrau des Versicherten, deren Ehe mit dem Versicherten vor dem 1. Juli 1977 geschieden wurde, nach dem Tode des Versicherten Rente gewährt, wenn Witwenrente nicht zu gewähren ist, wenn eine Unterhaltsverpflichtung wegen der Vermögens- und Erwerbsverhältnisse des Versicherten oder wegen der Erträgnisse der früheren Ehefrau aus einer Erwerbstätigkeit nicht bestanden hat, wenn die frühere Ehefrau im Zeitpunkt der Scheidung mindestens ein waisenrentenberechtigtes Kind zu erziehen hat und solange sie berufsunfähig oder erwerbsunfähig ist oder wenn sie das 60. Lebensjahr vollendet hat. Diese Voraussetzungen für einen Unterhaltsanspruch der Klägerin liegen vor. Sie hatte zur Zeit der Scheidung (1964) den 1959 geborenen Sohn aus der Ehe zu versorgen und ist nunmehr erwerbsunfähig. Der Unterhaltsanspruch gegenüber ihrem geschiedenen Ehemann bestand im Zeitpunkt des Todes des Versicherten nur mangels entsprechender Vermögens- und Erwerbsverhältnisse nicht (§ 1265 Abs 1 Satz 2 Nr 1 RVO) und nicht etwa aufgrund ihres bei der Scheidung erklärten Unterhaltsverzichts. Die gegenteilige Auffassung des LSG widerspricht den Entscheidungen des erkennenden Senats vom 13. Oktober 1992 (5 RJ 42/91) und des 13. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) vom 21. Januar 1993 (SozR 3-2200 § 1265 Nr 9). Die Entscheidung des LSG kann daher nicht aufrechterhalten werden.

Nach der Rechtsauffassung des erkennenden Senats schließt ein umfassender und endgültiger Verzicht auf Unterhalt einen Hinterbliebenenanspruch nach § 1265 Abs 1 Satz 2 RVO nicht aus, wenn einer der in Nr 1 dieser Vorschrift genannten Hinderungsgründe einer Unterhaltspflicht des Versicherten die wesentliche Ursache für die – deklaratorische – Verzichtserklärung gewesen ist, wenn diesem Grund also neben etwaigen sonstigen Gründen eine gleichwertige Bedeutung beizumessen ist (vgl Urteil vom 23. November 1988 in BSGE 64, 167 = SozR 2200 § 1265 Nr 90 und Urteil vom 28. Juni 1989 in SozR 2200 § 1265 Nr 98). Unter Zugrundelegung dieser Rechtsprechung, an welcher der Senat festhält, ist dies immer dann der Fall, wenn aus den besagten Gründen sowohl im Zeitpunkt der Scheidung als auch im Zeitpunkt des Todes des Versicherten kein Unterhaltsanspruch bestand und – nach den bei Abschluß des Unterhaltsverzichts gegebenen objektiven Umständen – vernünftigerweise in Zukunft nicht mit dem Entstehen von Unterhaltsansprüchen der geschiedenen Frau gerechnet werden konnte (ebenso Urteil des 13. Senats des BSG vom 21. Januar 1993 aaO).

Entgegen der Rechtsauffassung des LSG liegt hier auch die zuletzt genannte Voraussetzung vor. Denn der Versicherte war nach den für den erkennenden Senat gemäß § 163 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) bindenden Feststellungen des LSG vor der Scheidung straffällig geworden, war deswegen inhaftiert gewesen und konnte der Klägerin zur Zeit der Scheidung keinen Unterhalt leisten. Aufgrund dieser bei Abschluß des Unterhaltsverzichts vorhandenen objektiven Umstände brauchte die Klägerin aus der Sicht eines verständigen Dritten, auf die insoweit abzustellen ist (ebenso BSG-Urteil vom 21. Januar 1993 aaO), in Zukunft nicht mit dem Entstehen von Unterhaltsansprüchen zu rechnen, zumal der aus der geschiedenen Ehe hervorgegangene gemeinsame Sohn (geboren am 10. September 1959) mit seinem Unterhaltsanspruch gegen den Versicherten im Verhältnis zur Klägerin vorrangig war. Der Ansicht des LSG, die Klägerin hätte aufgrund der Inhaftierung des Versicherten einen zukünftigen Wiedererwerb eines Unterhaltsanspruchs nicht ausschließen dürfen, weil diese zur Zeit der Scheidung und Abgabe der Unterhaltsverzichtserklärung bereits beendet gewesen sei, vermag der erkennende Senat nicht zu folgen. Auch eine bereits vor der Scheidung abgeschlossene Haftstrafe kann für die Verneinung zukünftiger Unterhaltsansprüche aus der Sicht eines verständigen Dritten jedenfalls dann durchaus maßgebend sein, wenn – wie im vorliegenden Fall – nach der Inhaftierung eine Unterhaltsverpflichtung des straffällig gewordenen Versicherten bis zur Scheidung nicht wieder eingetreten ist. Bei dieser Ausgangslage kann es nicht mehr darauf ankommen, daß das versicherungspflichtige Entgelt des Versicherten in den Jahren 1968 und 1969 und damit lediglich vorübergehend höher als dasjenige der Klägerin gewesen war. Es kann deshalb auch offenbleiben, ob in dem genannten Zeitraum unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des BSG (vgl insoweit BSGE 53, 265 = SozR 2200 § 1265 Nr 65 und BSG SozR 3-2200 § 1265 Nrn 4 und 7) und angesichts des Umstandes, daß der Versicherte damals in zweiter Ehe verheiratet war und zwei Kinder hatte (eines aus erster und eines aus zweiter Ehe), überhaupt ein im Rahmen des § 1265 Abs 1 RVO rechtserheblicher Unterhaltsanspruch der Klägerin ohne den Unterhaltsverzicht hätte entstehen können.

Die gegenteilige Entscheidung des LSG beruht auch auf einer Verkennung des Begriffs der sogenannten Konventionalscheidung. Der erkennende Senat sieht diesen Sonderfall nur dann als gegeben an, wenn der Unterhaltsverzicht eine Umkehr der Verschuldenslast iS der §§ 58 Abs 1, 59 Abs 1 Satz 1 des Ehegesetzes in der bis zum 30. Juni 1977 geltenden Fassung (EheG aF) bezweckte, also ohne den Verzicht der Ehefrau eine Scheidung aus deren alleinigem oder überwiegendem Verschulden erfolgt wäre (ebenso im Ergebnis Urteil des 13. Senats vom 13. Januar 1993 aaO). Dafür besteht indes im Falle der Klägerin auch nach den Feststellungen des LSG kein Anhalt. Danach hat die Klägerin den Unterhaltsverzicht zwar erklärt, um möglichst schnell die Scheidung herbeizuführen. Hieraus und aus der Sitzungsniederschrift vom 2. November 1964 im Scheidungsverfahren, auf die sich das LSG stützt, ergibt sich indes nicht, daß das Urteil des Scheidungsgerichts zur Schuldfrage beeinflußt worden ist. Vielmehr erfolgte die Scheidung aus dem alleinigen Verschulden des Versicherten, weil er das eingeschränkte Klagevorbringen im Sinne seines Verschuldens zugegeben hat.

Die Revision der Klägerin erweist sich nach alledem als begründet, so daß in der Sache selbst zu entscheiden war (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1174204

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