Entscheidungsstichwort (Thema)
Grundsicherung für Arbeitsuchende. Rücknahme der Leistungsbewilligung für die Vergangenheit. Bestimmtheit. Wahrung der Jahresfrist. Erkennbarkeit des Umfangs der Rücknahme. Duldungs- und Anscheinsvollmacht des Vertreters der Bedarfsgemeinschaft. Zurechnung des Verhaltens des Vertreters. keine Anwendbarkeit des § 44 SGB 10. Teilaufhebung der ersten Rücknahmeentscheidung
Leitsatz (amtlich)
1. Die Bestimmtheit eines Rücknahmebescheids ist nicht Voraussetzung für die Wahrung der Jahresfrist, wenn der Umfang der Rücknahme für den Leistungsberechtigten erkennbar wird.
2. Wer es duldet, dass ein Dritter für ihn Leistungen nach dem SGB II beantragt, muss sich dessen Verhalten nach den Grundsätzen der Duldungs- oder Anscheinsvollmacht zurechnen lassen.
Orientierungssatz
1. Auch wenn nach der Rechtsprechung des BSG § 44 Abs 1 S 1 SGB 10 auf Rücknahme- und Erstattungsbescheide entsprechend anwendbar ist (vgl BSG vom 13.2.2014 - B 4 AS 19/13 R = BSGE 115, 121 = SozR 4-1300 § 44 Nr 29), setzt der Rücknahmeanspruch gemäß § 44 Abs 1 S 1 SGB 10 voraus, dass die vorenthaltenen Sozialleistungen materiell zu Unrecht nicht erbracht worden sind. Ob überdies auch die Vertrauensschutzvorschriften der §§ 45 ff SGB 10 erfasst sind, kann hier dahinstehen.
2. Wenn nach Erlass eines Rücknahmebescheides nach § 45 SGB 10 im Vorverfahren, im gerichtlichen Verfahren oder in einem neuen Verwaltungsverfahren eine weitere zu Gunsten des Bescheidadressaten modifizierende Verwaltungsentscheidung ergeht, so liegt keine an § 45 SGB 10 zu messende Rücknahme der ursprünglich begünstigenden Entscheidung vor, sondern eine Teilaufhebung der ersten (belastenden) Rücknahmeentscheidung und damit ein begünstigender Verwaltungsakt. Diese Teilaufhebung ist nicht an den Fristen des § 45 Abs 4 SGB 10 zu messen, wenn sie - wie hier - als Teilabhilfeentscheidung während des Rechtsbehelfsverfahrens gegen den ursprünglichen Rücknahmebescheid ergeht.
Normenkette
SGB X § 45 Abs. 1, 2 Sätze 1, 3 Nr. 2, Abs. 4 S. 2, § 33 Abs. 1; SGB 2 § 38 Abs. 1 S. 1; SGB X § 13 Abs. 1; BGB § 164 Abs. 1, § 166 Abs. 1, § 278; SGB X § 44 Abs. 1 S. 1, Abs. 4
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 26. Mai 2020 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Das Revisionsverfahren betrifft die teilweise Rücknahme der Bewilligung von Leistungen nach dem SGB II für September 2012 bis März 2013 und deren Rückforderung in Höhe von 1894,13 Euro.
Der Kläger ist 1992 geboren. Er wohnte im streitgegenständlichen Zeitraum mit seinem Vater zusammen. Der Vater beantragte unter anderem am 9.2.2012 und am 14.8.2012 für sich und den Kläger Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhaltes. Er verneinte dabei jeweils über Kindergeld hinausgehendes Einkommen. Der Beklagte bewilligte dem Kläger Leistungen unter anderem für September 2012 in Höhe von zunächst 113 Euro (Bescheid vom 16.2.2012) und später 333,41 Euro (Änderungsbescheid vom 13.9.2012), außerdem Leistungen für Oktober 2012 bis März 2013 (Bescheid vom 13.9.2012 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 24.11.2012). Erwerbseinkommen des Klägers wurde bei diesen Leistungsbewilligungen nicht berücksichtigt.
Seit August 2012 absolvierte der Kläger eine Ausbildung, aus der er monatlich schwankende Vergütungen erzielte, die jeweils im Folgemonat ausgezahlt wurden. Von dieser Ausbildung und den Einkünften erfuhr der Beklagte, als der Kläger am 12.3.2013 Verdienstabrechnungen für August 2012 bis Februar 2013 vorlegte. Aufgrund dessen hob der Beklagte die Leistungsgewährung für September 2012 bis März 2013 teilweise in Höhe eines Gesamtbetrags von 2233,58 Euro unter Berufung auf § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 und 3 SGB X auf und forderte vom Kläger die Erstattung dieses Betrags (Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 14.3.2013).
Im Widerspruchsverfahren reduzierte der Beklagte den Aufhebungs- und Erstattungsbetrag auf 1894,13 Euro (Änderungsbescheid vom 18.7.2014). Dieser Bescheid enthielt erstmals eine Zuordnung des Erstattungsbetrags zu den einzelnen von der Teilaufhebung betroffenen Monaten. Die erst nachträglich bekannt gewordene Ausbildungsvergütung sei gemäß § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 bzw Nr 3 SGB X als Einkommen zu berücksichtigen. Schließlich wies der Beklagte den Widerspruch des Klägers als nach Erlass des Änderungsbescheides vom 18.7.2014 unbegründet zurück (Widerspruchsbescheid vom 6.5.2015).
Das SG hat den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid des Beklagten vom 14.3.2013 in der Gestalt des Änderungsbescheides vom 18.7.2014 sowie des Widerspruchsbescheides vom 6.5.2015 aufgehoben. Es fehle dem Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 14.3.2013 an der erforderlichen Bestimmtheit, weil der pauschalen Teilaufhebung der Leistungsbewilligung für September 2012 bis März 2013 nicht zu entnehmen sei, in welchem Umfang die Bewilligung für die einzelnen Monate nach erfolgter Teilaufhebung noch Bestand haben sollte. Zwar sei die mangelnde Bestimmtheit durch den Bescheid vom 18.7.2014 geheilt worden. Allerdings sei dies erst nach Ablauf der für eine Aufhebung bzw Rücknahme geltenden Jahresfrist erfolgt (Urteil vom 13.2.2018).
Das LSG hat auf die Berufung des Beklagten das Urteil des SG aufgehoben und die Klage abgewiesen (Urteil vom 26.5.2020). Der Vater des Klägers habe zumindest grob fahrlässig unrichtige Angaben bei Antragstellung gemacht, weil er Einkommen bei Antragstellung am 14.8.2012 verneint habe. Das Verhalten des Vaters des Klägers bei Antragstellung sei dem Kläger zuzurechnen, da sein Vater für die Bedarfsgemeinschaft tätig geworden sei und damit auch den Kläger - zumindest im Rahmen einer sog Duldungsvollmacht - vertreten habe. Die angefochtenen Bescheide seien auch nicht wegen fehlender Bestimmtheit rechtswidrig. Zwar sei erst der Änderungsbescheid vom 18.7.2014 hinreichend bestimmt. Die am 12.3.2013 mit Kenntniserlangung seitens des Beklagten beginnende Jahresfrist sei aber durch den Bescheid vom 14.3.2013 gewahrt.
Hiergegen richtet sich die vom LSG zugelassene Revision des Klägers. Der Bescheid vom 14.3.2013 sei mangels Bestimmtheit rechtswidrig gewesen. Der dies korrigierende Bescheid vom 18.7.2014 sei erst nach Ablauf der Jahresfrist erlassen worden. Folgte man der Auffassung, dass die nachträgliche Korrektur rechtmäßig habe erfolgen können, wäre die Jahresfrist regelmäßig außer Kraft gesetzt und § 48 Abs 4 Satz 1 iVm § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X ausgehöhlt.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen vom 26. Mai 2020 aufzuheben und die Berufung des Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Hannover vom 13. Februar 2018 zurückzuweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Der Beklagte verteidigt die Entscheidung des LSG.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 170 Abs 1 Satz 1 SGG). Das LSG hat die Klage zu Recht unter Aufhebung der erstinstanzlichen Entscheidung abgewiesen.
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist neben den vorinstanzlichen Entscheidungen der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 14.3.2013 in der Fassung des gemäß § 86 Halbsatz 1 SGG Gegenstand des Vorverfahrens gewordenen Bescheides vom 18.7.2014 und in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6.5.2015 (§ 95 SGG).
2. Die streitgegenständlichen Bescheide sind rechtmäßig.
a) Rechtsgrundlage für die gesamte streitgegenständliche Rücknahmeentscheidung ist § 40 Abs 2 Nr 3 SGB II iVm § 330 Abs 2 SGB III iVm § 45 SGB X.
Die Abgrenzung des Anwendungsbereiches von § 45 SGB X einerseits und § 48 SGB X andererseits erfolgt danach, ob der Bescheid schon anfänglich, nämlich im Zeitpunkt des Eintritts seiner Wirksamkeit gemäß § 39 Abs 1 Satz 1 SGB X durch Bekanntgabe gegenüber dem Adressaten (BSG vom 16.12.2008 - B 4 AS 48/07 R - juris RdNr 15 mwN) rechtswidrig war. Es kommt insofern auf die objektive Sachlage bei Bekanntgabe des Bescheides an. Dies gilt auch, wenn später Erkenntnisse zu Tage treten, die erstmals die Rechtswidrigkeit des erlassenen Bescheides erkennen lassen (BSG vom 2.4.2009 - B 2 U 25/07 R - SozR 4-1300 § 45 Nr 8 RdNr 20 f). Fließt Einkommen vor Bekanntgabe des die Leistung bewilligenden Bescheides zu, kann es nur unter den Voraussetzungen des § 45 SGB X zu einer Rücknahme des Bewilligungsbescheides kommen (BSG vom 16.12.2008 - B 4 AS 48/07 R - juris RdNr 16; Padé in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl 2017, § 45 RdNr 57). § 45 SGB X ist auch dann anzuwenden, wenn die Behörde in Fällen schwankenden Einkommens eine endgültige Bewilligungsentscheidung vorgenommen hat (zuletzt BSG vom 24.6.2020 - B 4 AS 10/20 R - SozR 4-1300 § 45 Nr 23 RdNr 22 mwN).
Im vorliegenden Fall ist § 45 SGB X einschlägig. Bei Bekanntgabe der für Oktober 2012 bis März 2013 maßgeblichen Bescheide vom 13.9.2012 und vom 24.11.2012 war das Einkommen entweder bereits zugeflossen oder dessen Höhe stand noch nicht fest, so dass eine endgültige Bewilligung nicht hätte ergehen dürfen. Da es auf die objektive Sachlage ankommt, ist insofern unerheblich, dass der Beklagte zum Zeitpunkt der Bekanntgabe dieser Bescheide weder von dem bereits erfolgten noch von dem bevorstehenden Einkommenszufluss wusste. § 45 SGB X ist entgegen der Auffassung des LSG auch für die Rücknahme der Leistungsbewilligung für September 2012 anzuwenden. Leistungen für diesen Monat waren durch Bescheid vom 16.2.2012 und Änderungsbescheid vom 13.9.2012 bewilligt worden. Der Änderungsbescheid vom 13.9.2012 enthielt in Bezug auf September 2012 nicht lediglich eine wiederholende Verfügung, sondern eine neue Regelung, da hierdurch die Leistungen in gegenüber dem Bescheid vom 16.2.2012 geänderter Höhe bewilligt wurden. Für die Anfänglichkeit der Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsaktes, die den Anwendungsbereich des § 45 SGB X eröffnet, kommt es, wenn ein früherer Verwaltungsakt geändert worden ist, auf die Sachlage im Zeitpunkt des letzten Änderungsverwaltungsaktes an (Padé in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl 2017, § 45 RdNr 58; Schütze in ders, SGB X, 9. Aufl 2020, § 48 RdNr 5), hier also auf die Sachlage zum Zeitpunkt der Bekanntgabe des Änderungsbescheides vom 13.9.2012.
b) Soweit ein Verwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlich erheblichen Vorteil begründet oder bestätigt hat (begünstigender Verwaltungsakt), rechtswidrig ist, darf er gemäß § 45 Abs 1 SGB X auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, nur unter den Einschränkungen der Abs 2 bis 4 ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft oder für die Vergangenheit zurückgenommen werden. Ein rechtswidriger begünstigender Verwaltungsakt darf gemäß § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X nicht zurückgenommen werden, soweit der Begünstigte auf den Bestand des Verwaltungsaktes vertraut hat und sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme schutzwürdig ist. Im Anwendungsbereich des SGB II sind gemäß § 40 Abs 2 Nr 3 SGB II(in der seit dem 1.4.2011 geltenden Fassung) die Vorschriften des Dritten Buches über die Aufhebung von Verwaltungsakten (§ 330 Abs 2, Abs 3 Satz 1 und 4 SGB III) entsprechend anwendbar. Einschlägig ist hier § 330 Abs 2 SGB III. Danach ist, wenn die in § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X genannten Voraussetzungen für die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes vorliegen, dieser auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen.
Diese Voraussetzungen für die teilweise Rücknahme der Verwaltungsakte vom 13.9.2012 und 24.11.2012 liegen hier vor.
aa) Der formellen Rechtmäßigkeit der streitgegenständlichen Bescheide steht nicht entgegen, dass der Kläger vor Erlass des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides vom 14.3.2014 entgegen § 24 Abs 1 SGB X nicht angehört worden ist. Diese Anhörung ist im Laufe des Widerspruchsverfahrens nachgeholt worden. Ein Anhörungsmangel wird bereits im Vorverfahren geheilt, wenn ein Beteiligter dort die Möglichkeit hat, sich zu allen aus Sicht der Behörde entscheidungserheblichen Tatsachen zu äußern (BSG vom 4.4.2017 - B 11 AL 19/16 R - SozR 4-4300 § 144 Nr 25 RdNr 22 - auch zum Folgenden). Damit ein Beteiligter sich im Vorverfahren sachgerecht äußern kann, muss der angefochtene Bescheid alle für die Entscheidung wesentlichen Gesichtspunkte erkennen lassen. Dies ist hier der Fall, weil der Beklagte im Bescheid vom 14.3.2013 auf den Umstand der Einkommenserzielung, die zumindest grob fahrlässige Verletzung der Mitteilungspflicht und die mit der Einkommenserzielung verbundene Anspruchsminderung hingewiesen hat.
Unschädlich ist, dass der Beklagte den Kläger nicht zu den Voraussetzungen des einschlägigen § 45 SGB X angehört hat, sondern nur zu den Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 und 3 SGB X. Nach der Rechtsprechung des Senats kommt es für die Ordnungsgemäßheit der Anhörung nur darauf an, dass die Behörde zu den nach ihrer materiellrechtlichen Rechtsauffassung erheblichen Umständen anhört (BSG vom 26.7.2016 - B 4 AS 47/15 R - BSGE 122, 25 = SozR 4-1500 § 114 Nr 2, RdNr 15), auch wenn diese falsch sein sollte (BSG vom 12.10.2016 - B 4 AS 60/15 R - SozR 4-4200 § 7 Nr 51 RdNr 16).
bb) Der Umstand, dass der Beklagte seine Rücknahmeverfügungen fehlerhaft auf § 48 SGB X gestützt hat, führt nicht zur Rechtswidrigkeit der streitgegenständlichen Bescheide. Stützt die Behörde ihre Entscheidung auf eine falsche Rechtsgrundlage, sind aber für den Erlass des Verwaltungsaktes die Voraussetzungen der zutreffenden Rechtsgrundlage erfüllt, handelt es sich bei gebundenen Verwaltungsakten lediglich um eine unzutreffende Begründung des Verwaltungsaktes (BSG vom 29.6.2000 - B 11 AL 85/99 R - BSGE 87, 8, 12 = SozR 3-4100 § 152 Nr 9 S 30 f - juris RdNr 23 mwN; BSG vom 24.6.2020 - B 4 AS 10/20 R - SozR 4-1300 § 45 Nr 23 RdNr 25). Weil die §§ 45, 48 SGB X auf dasselbe Ziel, nämlich die Aufhebung eines Verwaltungsaktes, gerichtet sind, ist das "Auswechseln" dieser Rechtsgrundlagen durch das Gericht grundsätzlich zulässig (BSG vom 21.6.2011 - B 4 AS 21/10 R - BSGE 108, 258 = SozR 4-4200 § 11 Nr 39, RdNr 34 mwN; BSG vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 23; BSG vom 24.6.2020 - B 4 AS 10/20 R - SozR 4-1300 § 45 Nr 23 RdNr 25).
cc) Die angefochtenen Rücknahmeverfügungen im Bescheid vom 14.3.2013 in der Fassung des Bescheides vom 18.7.2014 genügen den Anforderungen an die Bestimmtheit von Verwaltungsakten.
Nach § 33 Abs 1 SGB X muss ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein. Dieses Erfordernis bezieht sich sowohl auf den Verfügungssatz der Entscheidung als auch auf den Adressaten eines Verwaltungsaktes (BSG vom 16.5.2012 - B 4 AS 154/11 R - SozR 4-1300 § 33 Nr 1 RdNr 16; BSG vom 29.11.2012 - B 14 AS 6/12 R - BSGE 112, 221 = SozR 4-1300 § 45 Nr 12, RdNr 25; BSG vom 24.6.2020 - B 4 AS 10/20 R - SozR 4-1300 § 45 Nr 23 RdNr 22 auch zum Folgenden). Erfolgt eine teilweise Leistungsaufhebung, muss sich der Aufhebungsverfügung entnehmen lassen, für welche Monate die Leistungsbewilligung in welcher Höhe aufgehoben werden soll (BSG vom 14.5.2020 - B 14 AS 10/19 R - juris RdNr 18 - zur Veröffentlichung in SozR vorgesehen).
Nach diesen Maßstäben bestehen keine Bedenken gegen die Bestimmtheit des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides vom 14.3.2013 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 18.7.2014 und in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 6.5.2015. Im Änderungsbescheid vom 18.7.2014 sind die Erstattungsbeträge nach Monaten differenziert aufgeführt; aus diesen Beträgen ergibt sich zugleich die Höhe der jeweiligen Aufhebungsentscheidungen. Dass dies im Bescheid vom 14.3.2013 noch nicht der Fall war, ist unschädlich, weil Bestimmtheitsmängel auch im Rechtsbehelfsverfahren noch beseitigt werden können (vgl für das Klageverfahren BSG vom 31.1.1989 - 2 RU 16/88 - SozR 1300 § 48 Nr 54 = juris RdNr 18; vgl für das Widerspruchsverfahren BSG vom 29.1.1997 - 6 RKa 24/96 - BSGE 80, 48, 49 = SozR 3-2500 § 85 Nr 19 S 119 - juris RdNr 14; BSG vom 18.2.2010 - B 14 AS 76/08 R - SozR 4-4200 § 11 Nr 27 RdNr 13; vgl auch BVerwG vom 14.12.1990 - 7 C 5.90 - BVerwGE 87, 241, 244 f = Buchholz 406.27 § 77 BBergG Nr 1 - juris RdNr 26 f; BVerwG vom 21.6.2006 - 4 B 32.06 - juris RdNr 1). Dem steht nicht entgegen, dass Bestimmtheitsmängel im Katalog des § 41 Abs 1 SGB X nicht aufgeführt sind, denn diese Norm regelt nur die Heilung von Verfahrens- und Formfehlern; bei den Anforderungen an die Bestimmtheit (§ 33 Abs 1 SGB X) handelt es sich aber um eine materiellrechtliche Vorgabe (BSG vom 10.9.2013 - B 4 AS 89/12 R - BSGE 114, 188 = SozR 4-4200 § 11 Nr 62, RdNr 15).
dd) Die Voraussetzungen für die zwingende Rücknahme der Leistungsbewilligungen mit Wirkung für die Vergangenheit sind auch insoweit gegeben, als die Bewilligungen auf zumindest grob fahrlässigen Angaben des Klägers iS des § 45 Abs 2 Satz 3 Nr 2 SGB X beruhten. Der Vater des Klägers hatte nach den Feststellungen des LSG zumindest grob fahrlässig bei der Antragstellung am 14.8.2012 (und damit vor Bekanntgabe der hier maßgeblichen Bewilligungsbescheide) nicht angegeben, dass der Kläger seit 1.8.2012 eine Ausbildung absolviert und daraus Einkünfte erzielt. Anhaltspunkte dafür, dass das LSG dabei den revisionsrechtlich nur eingeschränkt überprüfbaren Spielraum bei der Feststellung der groben Fahrlässigkeit überschritten hat (vgl BSG vom 4.4.2017 - B 11 AL 19/16 R - SozR 4-4300 § 144 Nr 25 RdNr 41 mwN), sind nicht ersichtlich. Dies wird vom Kläger auch nicht in Frage gestellt.
Diese fehlenden Angaben des Vaters muss sich der Kläger zurechnen lassen. Unabhängig davon, ob sich eine solche Zurechnung bereits aus § 38 SGB II ergibt (verneinend BSG vom 7.7.2011 - B 14 AS 144/10 R - juris RdNr 16), hat der Vater des Klägers nach den Feststellungen des LSG als Vertreter des Klägers - zumindest im Rahmen einer sog Duldungsvollmacht - gehandelt (§ 13 Abs 1 SGB X). Wer es duldet, dass ein anderer für ihn wie ein Vertreter auftritt, muss sich nach den Grundsätzen der Duldungs- oder Anscheinsvollmacht dessen Verhalten zurechnen lassen, selbst wenn er keinen Bevollmächtigungswillen gehabt hätte (BSG vom 21.2.2002 - B 3 KR 4/01 R - SozR 3-2500 § 60 Nr 6 S 37 = juris RdNr 18; vgl auch BSG vom 15.11.2016 - B 2 U 19/15 R - SozR 4-2700 § 131 Nr 2 RdNr 15; BSG vom 8.8.2019 - B 3 KR 18/18 R - juris RdNr 31). Das Handeln des Vertreters ist dem Vertretenen dann nach § 164 Abs 1, § 166 Abs 1, § 278 BGB zuzurechnen (vgl Aubel in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB II, 5. Aufl 2020, § 38 RdNr 36; A. Loose in Hohm, Gemeinschaftskomm zum SGB II, § 38 RdNr 31, Stand Dezember 2012; Schütze in ders, SGB X, 9. Aufl 2020, § 45 RdNr 59; Udsching/Link, SGb 2007, 513, 517; zur Zurechnung des Handelns des gesetzlichen Vertreters BSG vom 24.6.2020 - B 4 AS 10/20 R - SozR 4-1300 § 45 Nr 23 RdNr 32). Es besteht keine Veranlassung, denjenigen, der für sich durch einen Dritten handeln lässt, besser zu stellen als denjenigen, der selbst handelt.
ee) Die Jahresfrist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X ist gewahrt. Danach muss die Behörde den Verwaltungsakt in den Fällen von Abs 2 Satz 3 und Abs 3 Satz 2 innerhalb eines Jahres seit Kenntnis der Tatsachen, welche die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes für die Vergangenheit rechtfertigen, zurücknehmen. Nach den Feststellungen des LSG hat der Beklagte am 12.3.2013 Kenntnis vom Zufluss der zwischen September 2012 und März 2013 ausgezahlten Ausbildungsvergütungen erlangt. Die Jahresfrist begann zu dem Zeitpunkt des Erlasses des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides vom 14.3.2013, weil der Beklagte zu diesem Zeitpunkt der Ansicht war, dass die ihm vorliegenden Tatsachen für eine Rücknahme bzw Aufhebung der Bewilligung genügten (vgl BSG vom 6.4.2006 - B 7a AL 64/05 R - juris RdNr 13; BSG vom 26.7.2016 - B 4 AS 47/15 R - BSGE 122, 25 = SozR 4-1500 § 114 Nr 2, RdNr 31). Die Jahresfrist endete damit am 14.3.2014 (§ 26 SGB X iVm § 187 Abs 1, § 188 Abs 2 Var 1 BGB).
(1) Dass der Bescheid vom 14.3.2013 hinsichtlich der Bestimmtheit seine rechtmäßige Gestalt erst durch den Bescheid vom 18.7.2014 erhalten hat und das Widerspruchsverfahren erst mit Bescheid vom 6.5.2015 abgeschlossen worden ist, ist für die Wahrung der Jahresfrist des § 45 Abs 4 SGB X unerheblich. Für die Wahrung der Jahresfrist kommt es, wie der Senat bereits ausgesprochen hat, allein auf den erstmaligen Rücknahmebescheid an (BSG vom 24.6.2020 - B 4 AS 10/20 R - SozR 4-1300 § 45 Nr 23 RdNr 33). Die Wahrung der Jahresfrist ist Voraussetzung für die Rechtmäßigkeit des Rücknahmebescheides, die Rechtmäßigkeit des Rücknahmebescheides ist aber nicht Voraussetzung für die Wahrung der Jahresfrist. Hierfür spricht auch die Begründung des Gesetzentwurfes der Bundesregierung vom 4.8.1978 (BT-Drucks 8/2034 S 34 f zu § 43 Entwurfsfassung), wo allein darauf abgestellt wird, ob die Behörde innerhalb der Jahresfrist "tätig geworden ist".
Auf dieser Prämisse beruht auch das Urteil des BSG vom 25.10.2017 (B 14 AS 9/17 R - SozR 4-1300 § 45 Nr 19 RdNr 30): Dort hat das BSG für die Bestimmtheit eines Rücknahmebescheides unter anderem darauf abgestellt, dass dieser spätestens durch den (über ein Jahr nach Erlass des Rücknahmebescheides ergangenen) Widerspruchsbescheid konkretisiert worden sei, ohne insoweit die Wahrung der Jahresfrist des § 45 Abs 4 SGB X zu problematisieren. Es kann auch keinen Unterschied machen, ob eine Korrektur des mit dem Widerspruch angefochtenen ersten Rücknahmebescheides durch einen gesonderten Bescheid während des Vorverfahrens erfolgt oder im Widerspruchsbescheid selbst.
Dieses Ergebnis ergibt sich aus dem Zweck des § 45 Abs 4 SGB X. Die Regelung betrifft die zeitliche Dimension des (subjektiven) Vertrauensschutzes (vgl BSG vom 11.8.2015 - B 9 SB 2/15 R - SozR 4-1300 § 48 Nr 31; BSG vom 15.5.2019 - B 6 KA 65/17 R - SozR 4-2500 § 106a Nr 24 RdNr 24 mwN) und dient zugleich der (objektiven) Rechtssicherheit (vgl BSG vom 25.1.1994 - 7 RAr 14/93 - BSGE 74, 20, 26 = SozR 3-1300 § 48 Nr 32 S 62 - juris RdNr 28). Auch Personen, die eigentlich keinen Vertrauensschutz genießen, weil sie schuldhaft iS des § 45 Abs 2 Satz 3 SGB X gehandelt haben, erwerben den Vertrauensschutz ein Jahr nach Kenntnis der zuständigen Behörde und müssen dann nicht mehr mit einer Rücknahme der Begünstigung rechnen (Padé in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl 2017, § 45 RdNr 110). Diesem Vertrauen ist aber bereits im Zeitpunkt der ersten Rücknahmeentscheidung im Umfang der Rücknahme die Grundlage entzogen (ähnlich BSG vom 23.10.1985 - 9a RV 1/84 - SozR 1300 Art 2 § 40 Nr 8 = juris RdNr 12; BSG vom 26.8.1987 - 11a RA 30/86 - BSGE 62, 103, 108 = SozR 1300 § 48 Nr 39 S 116 f - juris RdNr 23). Für diese Erschütterung des Vertrauens ist eine auf die monatlichen Beträge bezogene Bestimmtheit des Aufhebungs- und Erstattungsbescheides nicht erforderlich. Aus Sicht des Bescheidadressaten und damit für seinen Vertrauenstatbestand kommt es insofern allein auf den Gesamtaufhebungs- und Erstattungsbetrag an. Soweit die Behörde ihre erste Rücknahmeentscheidung - wie hier - innerhalb dieser betragsmäßigen Grenze korrigiert, kann sich der Bescheidadressat nicht mehr darauf berufen, er habe noch Vertrauen in den Bestand der ursprünglichen Entscheidung gehabt. Der Große Senat des BSG hat bereits ausgeführt, dass ein Bürger kein berechtigtes und schützenswertes Vertrauen darauf habe, dass eine im Zeitpunkt der Klageerhebung begründete Klage nicht durch den Erlass eines in den materiellen Folgen inhaltsgleichen Verwaltungsaktes nachträglich unbegründet werde (BSG vom 6.10.1994 - GS 1/91 - BSGE 75, 159, 167 = SozR 3-1300 § 41 Nr 7 S 15 f - juris RdNr 19). Diese Erwägung ist auf die vorliegende Konstellation übertragbar. Dagegen kann auch nicht argumentiert werden, dass nach Ablauf der Jahresfrist des § 45 Abs 4 SGB X in jedem Fall Rechtssicherheit herrschen müsse, so dass spätere Bescheide außer Betracht zu bleiben hätten. Denn - mit Blick auf § 44 SGB X ohnehin nur relative - Rechtssicherheit tritt nach Einlegung eines Rechtsbehelfs nicht durch bloßen Zeitablauf ein, sondern erst mit Bestandskraft des jeweils angefochtenen Bescheides.
Eine andere Sichtweise würde im Übrigen zu einem Konflikt mit § 41 Abs 1 und 2 SGB X führen, wonach bestimmte Verfahrens- oder Formfehler bis zur letzten Tatsacheninstanz eines sozial- oder verwaltungsgerichtlichen Verfahrens nachgeholt werden können. Würde die Wahrung der Jahresfrist des § 45 Abs 4 SGB X einen in jeder Hinsicht rechtmäßigen Verwaltungsakt voraussetzen, würde § 41 Abs 1 und 2 SGB X insofern regelmäßig leerlaufen.
Der Einwand des Klägers, er stünde besser, wenn er den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 14.3.2013 hätte bestandskräftig werden lassen und nach Ablauf der Jahresfrist einen Zugunstenantrag nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X gestellt hätte, greift nicht durch. Nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X ist ein Verwaltungsakt, auch nachdem er unanfechtbar geworden ist, mit Wirkung für die Vergangenheit zurückzunehmen, soweit sich im Einzelfall ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsaktes das Recht unrichtig angewandt oder von einem Sachverhalt ausgegangen worden ist, der sich als unrichtig erweist, und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht oder Beiträge zu Unrecht erhoben worden sind. Zwar ist nach der Rechtsprechung des BSG § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X auch auf Rücknahme- und Erstattungsbescheide entsprechend anwendbar (BSG vom 13.2.2014 - B 4 AS 19/13 R - BSGE 115, 121 = SozR 4-1300 § 44 Nr 29, RdNr 14 mwN). Der Rücknahmeanspruch nach § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X setzt aber voraus, dass die vorenthaltenen Sozialleistungen materiell zu Unrecht nicht erbracht worden sind(dazu näher BSG vom 22.3.1989 - 7 RAr 122/87 - SozR 1300 § 44 Nr 38 = juris RdNr 23 f; BSG vom 3.5.2018 - B 11 AL 3/17 R - SozR 4-1300 § 44 Nr 37 RdNr 19 mwN). Im Zugunstenverfahren muss einem Betroffenen (nur) diejenige Leistung gewährt werden, die ihm nach materiellem Recht bei von Anfang an zutreffender Rechtsanwendung zugestanden hätte (BSG vom 4.2.1998 - B 9 V 16/96 R - SozR 3-1300 § 44 Nr 24 = juris RdNr 16; ähnlich BSG vom 22.3.1989 - 7 RAr 122/87 - SozR 1300 § 44 Nr 38 = juris RdNr 24; BSG vom 3.5.2018 - B 11 AL 3/17 R - SozR 4-1300 § 44 Nr 37 RdNr 19). Die Konsequenz hieraus ist, dass auf die leistungsrechtlichen Normen abzustellen ist. Ob überdies auch die Vertrauensschutzvorschriften der §§ 45 ff SGB X erfasst sind, kann hier dahinstehen (zum Streitstand etwa BSG vom 24.4.2014 - B 13 R 3/13 R - SozR 4-1300 § 44 Nr 30 RdNr 30 f mwN, wo diese Frage ebenfalls offengelassen wird). Jedenfalls die Vorgabe über die Bestimmtheit von Verwaltungsakten ist trotz ihrer Zugehörigkeit zum sonstigen - nicht leistungsrechtlichen - materiellen Recht davon nicht erfasst. § 33 Abs 1 SGB X, der anordnet, dass ein Verwaltungsakt inhaltlich hinreichend bestimmt sein muss, bezweckt, dass Behörde und Adressat ihre daraus erwachsenden Rechte und Pflichten eindeutig erkennen und ggf aus dem Bescheid vollstrecken können (vgl BSG vom 7.7.2011 - B 14 AS 153/10 R - BSGE 108, 289 = SozR 4-4200 § 38 Nr 2, RdNr 36; BSG vom 10.9.2013 - B 4 AS 89/12 R - BSGE 114, 188 = SozR 4-4200 § 11 Nr 62, RdNr 15; Littmann in Hauck/Noftz, SGB X, § 33 RdNr 1, Stand Dezember 2016). Es handelt sich um eine materielle Norm, die aufgrund ihrer beschriebenen dienenden Funktion eine besondere Nähe zum Verfahrensrecht aufweist, aber keine Aussage über die von § 44 SGB X intendierte "materielle Gerechtigkeit" (BSG vom 4.2.1998 - B 9 V 16/96 R - SozR 3-1300 § 44 Nr 24 = juris RdNr 16 mwN; BSG vom 13.2.2014 - B 4 AS 22/13 R - BSGE 115, 126 = SozR 4-1300 § 44 Nr 28, RdNr 19 mwN; BSG vom 30.1.2020 - B 2 U 2/18 R - SozR 4-2700 § 8 Nr 70 RdNr 18 - zur Veröffentlichung auch in BSGE vorgesehen) enthält.
Der Kläger hätte auch keinen Rücknahmeanspruch aus § 44 Abs 2 Satz 1 SGB X gehabt, wenn er den Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 14.3.2013 hätte bestandskräftig werden lassen. Da dieser Aufhebungs- und Erstattungsbescheid die Erbringung von Sozialleistungen regelt, ist allein der Anwendungsbereich des § 44 Abs 1 SGB X eröffnet und der Anwendungsbereich des § 44 Abs 2 SGB X gesperrt (vgl BSG vom 10.12.1985 - 10 RKg 14/85 - SozR 5870 § 2 Nr 44 S 149 = juris RdNr 25; Merten in Hauck/Noftz, SGB X, § 44 RdNr 78, Stand April 2018; für Ausschließlichkeitsverhältnis auch BSG vom 28.5.1997 - 14/10 RKg 25/95 - SozR 3-1300 § 44 Nr 21 S 40 = juris RdNr 14). Dies gilt auch, wenn der Rücknahmeanspruch im konkreten Fall daran scheitert, dass - wie hier - die Sozialleistungen nicht materiell zu Unrecht nicht erbracht worden sind (BSG vom 10.12.1985 - 10 RKg 14/85 - SozR 5870 § 2 Nr 44 S 149 = juris RdNr 25). Würde die Nichterfüllung dieses Tatbestandsmerkmals die Anwendbarkeit des § 44 Abs 2 SGB X eröffnen, liefen die einschränkenden Voraussetzungen des § 44 Abs 1 Satz 1 SGB X weitgehend leer (im Ergebnis ebenso BSG vom 24.4.2014 - B 13 R 3/13 R - SozR 4-1300 § 44 Nr 30 RdNr 21, wonach die Einschränkungen des § 44 Abs 1 Satz 1 Halbsatz 2 SGB X auch bei § 44 Abs 2 Satz 1 SGB X anzuwenden sind).
(2) Der Bescheid vom 18.7.2014 ist nicht an § 45 SGB X zu messen und musste daher auch die Jahresfrist nicht (erneut) wahren. § 45 SGB X gilt nur für Verwaltungsakte, mit denen begünstigende Verwaltungsakte zu Lasten des Adressaten zurückgenommen werden. Wenn nach Erlass eines Rücknahmebescheides im weiteren Verlauf - sei es im Vorverfahren, im gerichtlichen Verfahren oder in einem neuen Verwaltungsverfahren - eine Verwaltungsentscheidung ergeht, die einen Rücknahmebescheid modifiziert, ist zu differenzieren: Wird die ursprüngliche Entscheidung in größerem Umfang als bisher zu Lasten des Bescheidadressaten zurückgenommen, ist hinsichtlich der zusätzlichen Rücknahme die Jahresfrist des § 45 Abs 4 SGB X zu wahren, denn es liegt dann ein weiterer Eingriff in die Rechtssphäre des Betroffenen vor. Wird die Rücknahmeentscheidung hingegen - wie hier - zu Gunsten des Bescheidadressaten modifiziert, liegt keine an § 45 SGB X zu messende Rücknahme der ursprünglichen begünstigenden Entscheidung vor, sondern eine Teilaufhebung der ersten (belastenden) Rücknahmeentscheidung und damit ein begünstigender Verwaltungsakt. Diese Teilaufhebung ist aber nicht fristgebunden, wenn sie - wie hier - als Teilabhilfeentscheidung während eines - auch aus Klägersicht gerade auf die Herbeiführung eines rechtmäßigen Bescheides gerichteten - Rechtsbehelfsverfahrens ergeht, und nur an den Fristen des § 44 Abs 4 SGB X (ggf bereichsspezifisch modifiziert) zu messen, wenn sie außerhalb eines Rechtsbehelfsverfahrens gegen den ursprünglichen Rücknahmebescheid ergeht.
(3) Soweit das BSG und im Anschluss daran das BVerwG entschieden haben, dass ein zweiter Aufhebungs- oder Rücknahmebescheid nur innerhalb der Frist des § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X ergehen darf, betraf dies nur Fälle, in denen der erste Aufhebungs- oder Rücknahmebescheid während des gerichtlichen Verfahrens aufgehoben und entweder durch einen erneut belastenden Verwaltungsakt ersetzt worden ist oder noch gar kein zweiter Rücknahmebescheid ergangen war (BSG vom 27.7.1989 - 11/7 RAr 115/87 - BSGE 65, 221 = SozR 1300 § 45 Nr 45; BSG vom 27.7.1989 - 11 RAr 7/88 - SozR 4100 § 103 Nr 42; BSG vom 15.2.1990 - 7 RAr 28/88 - BSGE 66, 204 = SozR 3-1300 § 45 Nr 1; BSG vom 6.4.2006 - B 7a AL 64/05 R - juris RdNr 10; BVerwG vom 19.12.1995 - 5 C 10.94 - BVerwGE 100, 199, 203 f = Buchholz 435.12 § 45 SGB X Nr 12 - juris RdNr 15; anders noch BSG vom 26.8.1987 - 11a RA 30/86 - BSGE 62, 103, 108 = SozR 1300 § 48 Nr 39 - juris RdNr 23; BSG vom 4.2.1988 - 11 RAr 26/87 - BSGE 63, 37, 43 = SozR 1300 § 45 Nr 34 S 112, wonach es auch nach Ablauf der Jahresfrist ausreicht, wenn der neue Bescheid unverzüglich bzw alsbald nach Aufhebung des ersten Bescheides erlassen wird; anders auch zu § 48 Abs 4 Satz 1 VwVfG BVerwG vom 20.5.1988 - 7 B 79.88 - Buchholz 316 § 48 VwVfG Nr 56 = juris RdNr 3; BVerwG vom 28.6.2012 - 2 C 13.11 - BVerwGE 143, 230, 238 = Buchholz 239.1 § 52 BeamtVG Nr 2 - juris RdNr 30) oder in denen der erste Bescheid gar nicht wirksam bekanntgegeben worden war (BSG vom 2.7.1997 - 9 RV 14/96 - BSGE 80, 283 = SozR 3-1300 § 50 Nr 19). Ob in den erstgenannten Fällen davon auszugehen ist, dass das Vertrauen in den Bestand des Ausgangsverwaltungsaktes gleichsam - zumindest für eine logische Sekunde - wieder auflebt, kann dahinstehen, denn so verhält es sich hier nicht. Der Aufhebungs- und Erstattungsbescheid vom 14.3.2013 ist zu keinem Zeitpunkt aufgehoben worden, sondern durch den Bescheid vom 18.7.2014 nur modifiziert worden.
c) Nach dem Gesamtzusammenhang der Feststellungen des LSG steht fest, dass die Rücknahmeentscheidung auch der Höhe nach rechtmäßig gewesen ist, weil die streitgegenständlichen Rücknahmeentscheidungen zu einer Leistungsbewilligung in Höhe der dem Kläger leistungsrechtlich zustehenden Beträge geführt haben.
d) Die Erstattungsforderung findet ihre Grundlage in § 40 Abs 1 Satz 1 SGB II iVm § 50 Abs 1 Satz 1 SGB X. Danach sind, soweit - wie hier - ein Verwaltungsakt aufgehoben worden ist, bereits erbrachte Leistungen zu erstatten.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 Satz 1, Abs 4 SGG.
Fundstellen
Haufe-Index 14366274 |
BSGE 2021, 128 |
FEVS 2021, 563 |
NDV-RD 2021, 109 |
SGb 2021, 97 |
ZfF 2021, 166 |
ZfSH/SGB 2021, 263 |
info-also 2021, 139 |
info-also 2021, 89 |