Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 15.06.1993) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. Juni 1993 aufgehoben.
Der Rechtsstreit wird zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der im Jahre 1940 geborene Kläger ist seit Jahren freiwillig versichertes Mitglied der beklagten Krankenkasse (KK). Er ist seit 1973 querschnittsgelähmt mit Blasen-und Mastdarmlähmung und auf die Benutzung eines Rollstuhls angewiesen. Deswegen ist er als Schwerbehinderter mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 anerkannt. Vom Sozialamt bezieht er neben laufender Hilfe zum Lebensunterhalt Pflegegeld nach § 69 Bundessozialhilfegesetz. Seinen Antrag, ihm ab 1. Januar 1991 wegen Schwerpflegebedürftigkeit Pflegegeld zu gewähren, lehnte die Beklagte ab, weil der Kläger nach den getroffenen ärztlichen Feststellungen trotz seiner Behinderung noch in der Lage sei, die alltäglichen Verrichtungen weitgehend selbständig auszuführen (Bescheid vom 5. Februar 1991; Widerspruchsbescheid vom 31. Juli 1991). Auf die Klage hat das Sozialgericht (SG) die Beklagte verurteilt, dem Kläger ab 1. Januar 1991 monatlich 400,00 DM Pflegegeld zu gewähren. Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) die Klage abgewiesen (Urteil vom 15. Juni 1993). Es ist nach Anhörung des Klägers zu dem Ergebnis gekommen, daß der Gesamtpflegebedarf des Klägers nicht so hoch anzusetzen sei, daß das gesetzliche Erfordernis „in sehr hohem Maße” erfüllt sei.
Dagegen wendet sich der Kläger mit der vom LSG zugelassenen Revision. Er rügt eine Verletzung der §§ 53 und 57 Sozialgesetzbuch – Fünftes Buch – (SGB V). Das LSG habe den Begriff der Schwerpflegebedürftigkeit zu eng ausgelegt. Aufgrund der vom LSG festgestellten Tatsachen ergebe sich eine Hilfsbedürftigkeit nicht nur in einigen Teilbereichen, sondern im weitaus größeren Bereich des täglichen Lebens. Bei Schwerbehinderten mit einem GdB von 100 sei Schwerpflegebedürftigkeit stets zu bejahen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. Juni 1993 abzuändern und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 28. April 1992 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist iS der Zurückverweisung des Rechtsstreits begründet. Mit der rechtlichen Begründung des angefochtenen Urteils durfte die Klage nicht abgewiesen werden. Aufgrund der bisherigen Tatsachenfeststellungen ist nicht zu beurteilen, ob dem Kläger Pflegegeld iHv 400,00 DM monatlich gemäß § 57 SGB V zu zahlen ist.
Nach dieser Vorschrift kann die KK auf Antrag des schwerpflegebedürftigen Versicherten anstelle der häuslichen Pflegehilfe einen Geldbetrag von 400,00 DM je Kalendermonat zahlen, wenn der Schwerpflegebedürftige die Pflege durch eine Pflegeperson in geeigneter Weise und in ausreichendem Umfang selbst sicherstellen kann. Der Anspruch auf häusliche Pflegehilfe hängt ferner davon ab, daß gemäß § 54 SGB V eine bestimmte Mindestversicherungszeit erfüllt ist. Von den genannten Voraussetzungen ist hier nur streitig, ob der Kläger schwerpflegebedürftig ist. Dem Anspruch auf Pflegegeld steht insbesondere nicht entgegen, daß er, soweit erforderlich, Pflegehilfe nicht durch eine, sondern durch mehrere Personen in Anspruch nimmt.
Schwerpflegebedürftig sind nach § 53 Abs 1 SGB V solche Versicherte, die nach ärztlicher Feststellung wegen einer Krankheit oder Behinderung so hilflos sind, daß sie für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer in sehr hohem Maße der Hilfe bedürfen. Schon der 1. Senat des Bundessozialgerichts (BSG) hat mit Urteil vom 8. Juni 1993 – 1 RK 17/92 – (SozR 3-2500 § 53 Nr 2), das ebenfalls eine Querschnittslähmung mit Mastdarm- und Blasenlähmung betraf, entschieden, daß das Vorliegen von Schwerpflegebedürftigkeit revisionsgerichtlich überprüfbar ist. Er hat dazu ausgeführt, daß die Zugehörigkeit zu einer Behindertengruppe, der die Pflegezulage des § 35 Bundesversorgungsgesetz (BVG) nach den Stufen 4 bis 6 zusteht, wie das bei der Gruppe der Querschnittsgelähmten mit Blasen- und Mastdarmlähmung der Fall ist, ein Anzeichen für das Vorliegen von Schwerpflegebedürftigkeit ist. Der 4. Senat hat in seinem Urteil vom 30. September 1993 – 4 RK 1/92 – (zur Veröffentlichung bestimmt) die für die Beurteilung der Schwerpflegebedürftigkeit erforderlichen Tatsachenfeststellungen unabhängig von dem GdB iS des Schwerbehindertenrechts und unabhängig von einer Zugehörigkeit zu einer der genannten Behindertengruppen iS des BVG nach Maßgabe des Pflegebedarfs im Tagesablauf umschrieben. Der erkennende Senat hat sich dieser Rechtsprechung angeschlossen und sie dahin zusammengefaßt, daß auch bei der Zugehörigkeit zu einer der im Versorgungsrecht genannten Behindertengruppen die vom 4. Senat nach Maßgabe eines Punktekatalogs geforderten Feststellungen zu treffen sind (Urteil vom 9. Februar 1994 – 3/1 RK 45/92 – zur Veröffentlichung bestimmt).
Der 4. Senat hat einen Katalog von achtzehn Verrichtungen und von bestimmten Gleichstellungssachverhalten entwickelt. Dieser Katalog ist auch nach Auffassung des erkennenden Senats geeignet, eine umfassende Sicht auf den gesamten Pflegebedarf im Tagesablauf zu sichern und eine gleichmäßige Handhabung des Begriffs der Schwerpflegebedürftigkeit zu ermöglichen.
Schwerpflegebedürftig ist danach, wer
- bei vierzehn oder mehr Verrichtungen des täglichen Lebens aus den nachfolgend genannten achtzehn Verrichtungen im wesentlichen krankheits- oder behinderungsbedingt der Hilfe einer anderen Person bedarf oder
- neben einem Hilfebedarf von neun bis dreizehn dieser Verrichtungen beim Vorliegen besonderer Gleichstellungssachverhalte einen entsprechenden Gesamtpflegebedarf hat.
Für die erste Feststellung, bei wie vielen Verrichtungen der Versicherte fremder Hilfe bedarf, kommt es auf die Intensität der erforderlichen Hilfe grundsätzlich nicht an (für Besonderheiten bei geistigen Behinderungen ohne motorische Ausfälle vgl Urteil vom heutigen Tage 3/1 RK 23/93). Nur wenn bei mehr als acht der genannten Verrichtungen ein Hilfebedarf auftritt, ist eine Gesamtabwägung erforderlich, die auch die Intensität der jeweils geforderten Hilfeleistung berücksichtigt.
Im einzelnen handelt es sich um folgende Verrichtungen:
I. Verrichtungen des Grundbedarfs:
1. Aufstehen/Zubettgehen, 2. Gehen, 3. Stehen, 4. Treppensteigen, 5. Waschen oder Duschen oder Baden, 6. Mundpflege, 7. Haarpflege, 8. An- und Auskleiden, 9. Nahrungsaufnahme, 10. Nahrungszubereitung, 11. Benutzung der Toilette, 12. Sprechen, 13. Sehen, 14. Hören.
II. Verrichtungen des hauswirtschaftlichen Versorgungsbedarfs:
15. Einkauf von Nahrungs- und Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens, 16. Wohnungsreinigung, 17. Reinigung und Pflege der Wäsche, 18. sonstige hauswirtschaftliche Arbeiten (zB Reinigung von Haushaltsgegenständen; Einräumen von Wäsche, Geschirr etc; Versorgung der Heizung).
Nach den unangefochtenen und damit bindenden Feststellungen (§ 163 Sozialgerichtsgesetz) des LSG liegt bei dem Kläger ein Hilfebedarf bei neun Verrichtungen vor. Ob er aufgrund des besonderen Gewichts seines Pflegebedarfs im Bereich der Hygiene als schwerpflegebedürftig einzustufen ist, obwohl er mit neun Verrichtungen des Katalogs nur den unteren Rand des Übergangsbereichs erreicht, ist anhand der bisherigen Feststellungen nicht zu entscheiden. Im einzelnen ist der Kläger nach den Feststellungen des LSG auf fremde Hilfe angewiesen beim Gehen, Stehen, Treppensteigen, Waschen oder Duschen oder Baden, bei der Nahrungszubereitung, der Benutzung der Toilette, der Wohnungsreinigung, der Reinigung und Pflege der Wäsche sowie bei sonstigen hauswirtschaftlichen Arbeiten. Der Kläger ist zwar mit einem Rollstuhl versorgt, der ihm ohne fremde Hilfe eine gewisse Bewegungsfreiheit innerhalb und außerhalb der Wohnung ermöglicht. Durch dieses Hilfsmittel werden aber die Funktionen des Gehens, des Stehens und des Treppensteigens nicht vollständig ausgeglichen. Der Ausfall dieser Funktionen ist deshalb nach dem Katalog der Verrichtungen mitzuberücksichtigen, weil er dazu führt, daß der Kläger jedenfalls zeitweise auf fremde Hilfe angewiesen bleibt. Zu berücksichtigen ist auch der Pflegebedarf des Klägers beim Duschen oder Baden, selbst wenn dies nicht immer der Fall ist. Dasselbe gilt für die Benutzung der Toilette, bei der der Kläger jedenfalls zwei- bis dreimal in der Woche nach der Einnahme von Abführmitteln wegen des nicht zu beherrschenden Stuhlabgangs auf fremde Hilfe bei der Körperreinigung angewiesen ist. Ob auch für das Einkaufen gilt, daß der Kläger in nicht unerheblichem Maße auf fremde Hilfe angewiesen ist, läßt sich hingegen den Feststellungen nicht entnehmen; insbesondere ist nicht nachvollziehbar, weshalb er behinderungsbedingt nur bei günstiger Witterung in der Lage ist, dies selbst zu erledigen. Daß der Kläger nach den Feststellungen des Tatsachengerichtes außerdem Hilfe bei der Fußpflege benötigt, hat hingegen außer Betracht zu bleiben, weil diese unter keine der im Katalog enthaltenen Verrichtungen fällt. Dies gibt auch keine Veranlassung, den Katalog aus gegebenem Anlaß um diese Verrichtung zu erweitern. Denn bei der Fußpflege handelt es sich um keine Verrichtung, die im Ablauf des täglichen Lebens regelmäßig wiederkehrt,
sondern nur in bestimmten zeitlichen Intervallen erforderlich ist wie etwa das Haareschneiden. Soweit für solche Verrichtungen nicht auch von gesunden Personen ohnehin fremde Hilfe in Anspruch genommen wird, handelt es sich um einen Pflegebedarf, der für die Beurteilung von Schwerpflegebedürftigkeit außer Betracht gelassen werden kann.
Auch die vom LSG festgestellte Pflegebedürftigkeit des Klägers die dadurch auftritt, daß es etwa einmal jährlich im Bereich der Aufliegestellen des Körpers zu Druckgeschwüren kommt, ist nicht iS der Erweiterung des Katalogs zu berücksichtigen. Denn die Versorgung der Druckgeschwüre ist einmal keine Verrichtung, die im Ablauf des täglichen Lebens auch bei Gesunden regelmäßig vorkommt, zum anderen wird sie auch beim Kläger nur in unregelmäßigen, längeren Abständen erforderlich. Das Auftreten von Druckgeschwüren in größeren Abständen mit der Folge einer Bettlägerigkeit von vier bis sechs Wochen ist auch kein Umstand, der als besonders erschwerend auf der zweiten Stufe der Prüfung der Schwerpflegebedürftigkeit zu berücksichtigen wäre. Das LSG hat dazu zutreffend ausgeführt, daß dem dadurch entstehenden besonderen Pflegebedarf des Klägers mit dem Anspruch auf häusliche Krankenpflege nach § 37 SGB V Rechnung getragen wird. Ob eine durchgehende außergewöhnlich zeitaufwendige vorbeugende Behandlung von Druckgeschwüren ein erschwerender Umstand sein kann, der zur Anerkennung der Schwerpflegebedürftigkeit führt (vgl dazu BSG Urteil vom 8. Juni 1993 – 1 RK 17/92 – aaO), kann hier offenbleiben, weil dies beim Kläger nicht der Fall ist.
Die besonderen Umstände, die zur Bejahung der Schwerpflegebedürftigkeit des Klägers führen können, liegen darin, daß er wegen seiner Mastdarmlähmung keine Kontrolle über den Stuhlabgang hat und zwei- bis dreimal wöchentlich jeweils für einen ganzen Tag beim Toilettengang auf die Hilfe einer Person angewiesen ist, die ihm bei der Reinigung hilft und dabei möglicherweise unvermeidlich mit den Körperausscheidungen in Kontakt kommt. Es bedarf keiner näheren Ausführung, daß dies zeitlich und wegen der psychischen und physischen Belastung hohe Anforderungen an die Pflegebereitschaft einer Person stellen kann, was auch der 4. Senat in dem erwähnten Urteil als besonderen Umstand für die Bejahung der Schwerpflegebedürftigkeit ausdrücklich hervorgehoben hat. Eine weitere Belastung der Pflegeperson kann dadurch eintreten, daß die in hohem Maße anfallende Schmutzwäsche gereinigt werden muß. Hier kommt es ganz auf die Umstände des Einzelfalls an, die vom LSG im einzelnen so festzustellen und zu beschreiben sind, daß die Wertung, ob die Schwerpflegebedürftigkeit wegen besonderer Belastungen der Pflegeperson zu bejahen ist, vom Revisionsgericht nachzuvollziehen ist (zu den Grenzen der Revisibilität der Schwerpflegebedürftigkeit vgl im einzelnen Urteil vom heutigen Tag – 3/1 RK 12/93 – zur Veröffentlichung vorgesehen).
Bei entsprechendem Pflegebedarf kommt es nicht darauf an, ob der Kläger im übrigen aktiv an einer Behindertensportgemeinschaft teilnimmt und sogar überregionale Erfolge beim Sportkegeln erzielt hat, worauf die Beklagte in der Tatsacheninstanz bereits hingewiesen hat, ohne daß das LSG dazu – von seiner Rechtsauffassung konsequent – Feststellungen getroffen hat. Der Schwerpflegebedürftigkeit steht nicht entgegen, daß der Kläger mit den ihm verbliebenen Fähigkeiten und Kräften in der Lage ist, außerhalb des häuslichen Bereichs noch Freizeitaktivitäten nachzugehen, die geeignet sind, seine körperliche und geistige Leistungsfähigkeit zu erhalten und damit einer Erhöhung des bereits vorhandenen Pflegebedarfs vorzubeugen.
Sofern die Anspruchsvoraussetzungen zu bejahen sind, wird das LSG auch dazu Stellung nehmen müssen, ob der Beklagten noch ein Ermessen bei der Leistungsgewährung zusteht, oder ob – wie vom SG angenommen – eine „Ermessensschrumpfung auf Null” eingetreten ist (vgl dazu ebenfalls Urteil vom heutigen Tage – 3/1 RK 12/93 –).
Auch die abschließende Kostenentscheidung bleibt dem LSG vorbehalten.
Fundstellen