Entscheidungsstichwort (Thema)
Bemessung des Arbeitslosengeldes. Zuflußtheorie
Orientierungssatz
Ein fehlender Zufluß des Arbeitsentgelts rechtfertigt es nach der reinen Zuflußtheorie nicht, auf frühere Lohnabrechnungszeiträume zurückzugreifen (vgl BSG vom 23.11.1988 - 7 RAr 38/87 = SozR 4100 § 112 Nr 43). Das im Bemessungszeitraum erzielte Arbeitsentgelt beträgt dann nach der Zuflußtheorie 0,00 DM. In diesem Fall bestimmt sich das Arbeitslosengeld nach § 112 Abs 7 AFG.
Normenkette
AFG § 112 Abs 2; AFG § 112 Abs 3; AFG § 112 Abs 7
Verfahrensgang
Tatbestand
Mit der Revision erstrebt die Klägerin die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils, in dem die beklagte Bundesanstalt für Arbeit (BA) unter entsprechender Aufhebung ihrer Bescheide verurteilt wurde, der Klägerin Arbeitslosengeld (Alg) nach Maßgabe des Tariflohns und nicht nach Maßgabe des niedrigeren tatsächlich gezahlten Lohnes zu gewähren.
Die Klägerin arbeitete vom 1. Oktober 1984 bis zum 18. September 1986 als Bandagistin in einem Sanitätshaus. Gemäß Lohn-Tarifvertrag für das Orthopädie-Mechanikerhandwerk vom 6. August 1985 betrug der Stundenlohn für das vierte Gesellenjahr ab 1. August 1985 14,17 DM. Da ihr Arbeitgeber jedoch nur einen Stundenlohn von 12,50 DM zahlte, erhob sie vor dem Arbeitsgericht Klage auf Zahlung des Differenzbetrages zum tariflichen Stundenlohn und auf Zahlung des Lohnes für Januar bis März 1986. Das Arbeitsgericht gab der Klage im Urteil vom 10. September 1986 mit der Begründung statt, die Vereinbarung des niedrigeren Lohnes sei unwirksam gewesen, weil sie gegen den Lohntarifvertrag verstoßen habe, wonach abweichende Lohnvereinbarungen der Zustimmung der Tarifvertragsparteien bedurften. Die Berufung des Arbeitgebers wies das Landesarbeitsgericht (LAG) mit Urteil vom 16. Januar 1987 rechtskräftig zurück. Zum 18. September 1986 kündigte die Klägerin das Arbeitsverhältnis fristlos; am 19. September meldete sie sich arbeitslos. Die BA bewilligte ihr Alg ab 19. September 1986 nach einem Bruttoarbeitsentgelt von monatlich 2.100,00 DM entsprechend dem vom Arbeitgeber in der Arbeitsbescheinigung vom 3. Oktober 1986 angegebenen Stundenlohn von 12,50 DM (Bescheid vom 30. Oktober 1986, Widerspruchsbescheid vom 3. Februar 1987).
Das Sozialgericht (SG) hat die Beklagte verurteilt, Alg entsprechend der tariflichen Lohnhöhe zu gewähren (Urteil vom 20. Mai 1988). Auf die vom SG zugelassene Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) die Klage abgewiesen (Urteil vom 24. Februar 1989).
Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Klägerin eine Verletzung des § 112 Abs 2 und 3 AFG. Sie beruft sich auf die Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), wonach sich die Berechnung des Alg bei einer falschen Abrechnung des Arbeitsentgelts nach dem ohne Rechenfehler oder Versehen abgerechneten und zugeflossenen Entgelt richte. Nichts anders könne gelten, wenn der Arbeitgeber aufgrund einer unwirksamen Lohnvereinbarung einen niedrigeren Lohn berechnet habe, als dem Arbeitnehmer zustehe, obwohl dieser schon vor dem Ende des Beschäftigungsverhältnisses die Abrechnung nach dem neuen Tariflohn gefordert habe und die neue Tariflage dem Arbeitgeber bekannt gewesen sei. Die Höhe des Alg könne nicht davon abhängen, was der Arbeitgeber offenkundig fehlerhaft in die Lohnabrechnung eingetragen habe, weil er bewußt eine untertarifliche Bezahlung vorgenommen habe, zumal die Beklagte nach § 112 Abs 7 AFG verpflichtet sei, von dem für die Klägerin in Betracht kommenden Tariflohn bzw dem ortsüblichen Arbeitsentgelt auszugehen.
Die Klägerin beantragt,
unter Aufhebung des Urteils des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 24. Februar 1989 die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Speyer vom 20. Mai 1988 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie schließt sich der Rechtsauffassung des LSG an.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz -SGG-).
Entscheidungsgründe
Auf die Revision der Klägerin war das der Klage stattgebende Urteil des SG wiederherzustellen. Das SG hat die Beklagte zu Recht verurteilt, der Klägerin das nach dem Arbeitsentgelt entsprechend dem Urteil des LAG Rheinland-Pfalz vom 16. Januar 1987 - 6 Sa 961/86 - zu bemessende Alg zu gewähren. Hiernach hat die Klägerin Anspruch auf den Tariflohn von 14,17 DM je Stunde nach Maßgabe der Arbeitszeit, und ihr standen statt des vereinbarten festen Monatslohnes von 2.100,00 DM im Jahre 1986 für Januar 2.770,35 DM, für Februar 2.338,05 DM und für März 2.380,56 DM Monatslohn zu.
Bei der Berechnung des Alg ist nach § 112 Abs 2 und 3 idF des Siebten Gesetzes zur Änderung des AFG vom 20. Dezember 1985, die gemäß § 242h Abs 7 AFG auf das hier streitige Alg ab 18. September 1986 anzuwenden ist, von dem im Bemessungszeitraum "erzielten" Arbeitsentgelt auszugehen, gegebenenfalls unter Berücksichtigung des § 112 Abs 7 AFG. Bemessungszeitraum sind nach § 112 Abs 3 AFG die letzten vor dem Ausscheiden des Arbeitnehmers aus dem Beschäftigungsverhältnis abgerechneten, insgesamt 60 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt umfassenden Lohnabrechnungszeiträume der letzten die Beitragspflicht begründenden Beschäftigung vor der Entstehung des Anspruchs. Das LSG hat sich mit der Feststellung begnügt, der bisherige Arbeitgeber habe nach einem Stundenlohn von 12,50 DM abgerechnet, ohne den Abrechnungszeitraum näher zu bezeichnen. Die Beteiligten haben es auf Anfrage des Senats übereinstimmend als unstreitig bezeichnet, daß beim Ausscheiden der Klägerin am 18. September 1986 die Monate Juni, Juli und August 1986 abgerechnet waren und daß der Lohn für August 1986 am 19. September 1986, der für Juni und Juli 1986 am 22. Oktober 1986 mit Scheck gezahlt wurde. Der Senat kann dies seiner Entscheidung zugrunde legen, da kein Anlaß ersichtlich ist, an der Richtigkeit dieser Angaben zu zweifeln (vgl SozR 1300 § 150 Nr 15; BSGE 65, 48, 50 f = SozR 2200 § 1264 Nr 10).
Hiernach hat das SG der Klage zu Recht stattgegeben, wenn dasjenige Arbeitsentgelt im Bemessungszeitraum "erzielt" ist, das der Arbeitslose für den Bemessungszeitraum zu beanspruchen hat.
Der Tariflohn ist aber auch dann maßgebend, wenn gemäß der Zuflußtheorie nur das tatsächlich ausgezahlte Arbeitsentgelt als erzielt angesehen wird, mit der Einschränkung, daß ein höherer Lohnanspruch nur berücksichtigt werden darf, wenn er vor dem Ende der Beschäftigung geltend gemacht und eingeklagt wurde (modifizierte Zuflußtheorie; erörtert in BSG Urteil vom 16. März 1983 - 7 RAr 25/82 - DBl BA R § 112 AFG Nr 2847; vgl auch BSG SozR 4100 § 112 Nr 43). Denn die Klägerin hatte bei Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses bereits ein - wenn auch noch nicht rechtskräftiges - Urteil des Arbeitsgerichts erstritten.
Der Tariflohn ist wegen der besonderen Umstände hinsichtlich der tatsächlichen Lohnzahlung im vorliegenden Fall aber auch dann maßgebend, wenn der reinen Zuflußtheorie zu folgen wäre. Der Senat braucht deshalb auf die gegen die Zuflußtheorie erhobenen erheblichen Bedenken (vgl hierzu Pitschas SGb 1990, 208ff) nicht näher einzugehen und kann hier offen lassen, ob er sich bei Ablehnung der reinen Zuflußtheorie für die modifizierte Zuflußtheorie oder für die Anspruchs-Theorie entscheiden würde.
Der Klägerin ist nämlich auch bei Anwendung der reinen Zuflußtheorie für den Bemessungszeitraum kein Arbeitsentgelt zugeflossen. Allerdings muß der Zufluß auch bei Anwendung der reinen Zuflußtheorie nicht im Bemessungszeitraum erfolgt sein. Für die Zwecke des § 112 Abs 2 AFG genügt es hiernach, wenn der Arbeitnehmer bis zum Tage des Ausscheidens aus dem Beschäftigungsverhältnis das Entgelt tatsächlich "in die Hand" bekommen hat. Dem steht es gleich, wenn es aufgrund der bis dahin erfolgten Abrechnung nur noch des (einer entsprechend wirksamen Verfügung des Arbeitgebers folgenden) technischen Überweisungsvorgangs bedarf, damit der Arbeitnehmer über das Entgelt verfügen kann (BSG SozR 4100 § 112 Nr 43 S 206). Damit bleibt nach der reinen Zuflußtheorie nur die Dauer des technischen Überweisungsvorgangs unbeachtet, so daß die wirksame Verfügung des Arbeitgebers noch vor Ende des Beschäftigungsverhältnisses erfolgt sein muß. Das gilt nach der angeführten Entscheidung allgemein und nicht nur für den damals beurteilten Fall, in dem der Lohn wegen Zahlungsunfähigkeit überhaupt nicht ausgezahlt wurde.
Auch wenn hiernach nicht nur im Falle der Überweisung, sondern ähnlich bei einer Zahlung durch Scheck die Dauer des technischen Überweisungsvorgangs unberücksichtigt zu lassen ist, ist die für die Monate Juni und Juli 1986 nach Beendigung des Beschäftigungsverhältnisses zum 18. September 1986 am 22. Oktober 1986 erfolgte Aushändigung des Schecks kein (rechtzeitiger) Zufluß. Ob die Aushändigung des Schecks am 19. September 1986 für August 1986 nicht als Zufluß gewertet werden kann, oder ob die Berücksichtigung der Dauer einer üblichen Überweisung im Falle einer kontinuierlichen Lohnzahlung, an der es hier fehlt, gerechtfertigt ist, kann ebenfalls dahinstehen.
Ist aber der Lohn für alle drei Monate nicht zugeflossen, so bleibt der Bemessungszeitraum hiervon unberührt. Ein fehlender Zufluß rechtfertigt es nach der reinen Zuflußtheorie nicht, auf frühere Lohnabrechnungszeiträume zurückzugreifen (BSG SozR 4100 § 112 Nr 43). Das im Bemessungszeitraum erzielte Arbeitsentgelt beträgt dann nach der Zuflußtheorie 0,00 DM.
Es bedarf keiner näheren Begründung, daß das daraus berechnete Bemessungsentgelt von ebenfalls 0,00 DM in Ansehung des § 112 Abs 7 AFG mit Rücksicht auf die von dem Arbeitslosen in den letzten drei Jahren vor der Arbeitslosmeldung überwiegend ausgeübte berufliche Tätigkeit unbillig hart wäre. Die Klägerin war vor der Arbeitslosmeldung am 19. September 1986 vom 1. Oktober 1984 bis zum 18. September 1986 als Bandagistin beschäftigt, ab August 1985 im 4. Gesellenjahr. Mit Rücksicht auf den von Oktober 1984 bis einschließlich April 1986 und damit für mehr als die Hälfte der Dreijahresfrist ausgezahlten Lohn ist ein Bemessungsentgelt von 0,00 DM eine unbillige Härte. Dies hat zur Folge, daß gemäß § 112 Abs 7 AFG von dem am Wohnsitz der Klägerin maßgeblichen tariflichen Arbeitsentgelt derjenigen Beschäftigung auszugehen ist, für die die Klägerin nach ihrem Lebensalter und ihrer Leistungsfähigkeit unter billiger Berücksichtigung ihres Berufes und ihrer Ausbildung nach Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes in Betracht kam. Insoweit ist zumindest der Tariflohn für die zuletzt ausgeübte Tätigkeit, wie er im LAG-Urteil ermittelt ist, zugrunde zu legen. Es ist nicht daran zu zweifeln, daß die Klägerin auch weiterhin für eine solche Tätigkeit in Betracht kam.
Der Tariflohn nach § 112 Abs 7 AFG ist schließlich auch dann maßgebend, wenn der am 19. September 1986 eingegangene Scheck als eine vor Ende der Beschäftigung erfolgte Zahlung gewertet wird. Die Klägerin hätte dann den für Juli und August zustehenden Lohn nur zur Hälfte erhalten. Sie bleibe damit hinter dem in den letzten drei Jahren überwiegend erzielten Vollohn deutlich zurück (vgl SozR 4100 § 112 Nr 19; BSGE 62, 43, 48 = SozR 4100 § 112 Nr 31; SozR 4100 § 112 Nr 35; BSGE 63, 153, 162 = SozR 4100 § 112 Nr 39).
Dabei bedarf es keiner Entscheidung, ob bei einem festen Monatslohn, wie ihn die Klägerin bezogen hat, der Lohn für zwei Monate 60 Tage mit Lohnanspruch umfaßt, wie der bisherigen Berechnung zugrunde gelegt, oder ob erst drei Monate 60 Arbeitstage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt ergeben, wie dies bei einer Abrechnung im Stundenlohn der Fall ist. Wären die letzten drei Monate Bemessungszeitraum, so hätte die Klägerin bei Berücksichtigung des am 19. September 1986 erhaltenen Schecks den für die letzten drei Monate abgerechneten Lohn nur zu einem Drittel erhalten. Dann aber wäre die Annahme einer unbilligen Härte erst recht gerechtfertigt. Das SG hat somit die Beklagte auch bei Zugrundelegung der modifizierten Zuflußtheorie zutreffend verurteilt.
Der Revision der Klägerin war daher mit der Kostenfolge aus § 193 SGG stattzugeben.
Fundstellen