Entscheidungsstichwort (Thema)
Berufskrankheit. Unterlassungszwang. Schutzmaßnahme des Arbeitgebers. Bagatellerkrankung. Präventionszweck. Auslegung. teleologische Reduktion. Krankenschwester. Latexallergie. schwere Hauterkrankung
Leitsatz (amtlich)
Dem Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung einer Berufskrankheit nach BKV Anl Nr 5101 steht nicht entgegen, dass der Versicherte infolge von Schutzmaßnahmen seines Arbeitgebers in der Lage ist, seine bisherige Tätigkeit in vollem Umfang weiterzuführen, wenn die berufsbedingte Erkrankung iS dieser Vorschrift im Zeitpunkt des Wirksamwerdens der Schutzmaßnahmen bereits eine MdE um mindestens 10 vH bedingt.
Normenkette
BKV Anl 1 Nr. 5101; SGB VII § 9 Abs. 1 S. 2 Hs. 2
Verfahrensgang
Tatbestand
Streitig ist, ob die Klägerin Anspruch auf Gewährung von Verletztenrente unter Anerkennung ihrer Hauterkrankung als Berufskrankheit (BK) nach Nr 5101 der Anlage zur Berufskrankheiten-Verordnung (BKV) hat.
Die im Jahre 1965 geborene Klägerin ist seit 1. Januar 1992 auf der Frühgeborenen-Intensivpflegestation (Neonatologie) der Universitäts-Frauenklinik H. als Fachschwester für Anästhesie und Intensivpflege beschäftigt. Im Juli 1997 übersandte das Arbeitsamt H. der Beklagten den mit dem Vorliegen einer Latexallergie begründeten Antrag der Klägerin auf Gewährung von beruflichen Rehabilitationsleistungen. Nachdem der Pflegedienstleitung der Universitäts-Frauenklinik von Seiten der Betriebsärzte nahe gebracht worden war, dass für den Einsatz der Klägerin eine Ausrüstung mit latexfreien Handschuhen sichergestellt sein, wegen der zunehmenden allergischen Symptomatik mit asthmatischen Beschwerden in ihrem beruflichen Umfeld ausschließlich mit ungepuderten Latexhandschuhen gearbeitet werden und möglichst auch eine Umstellung der gesamten Abteilung auf latexfreie Handschuhe erfolgen sollte, um den gefahrlosen Verbleib der Klägerin auf der Station zu gewährleisten, erfolgte eine solche Umstellung im Februar 1998.
Die Beklagte gewährte der Klägerin Rente in Höhe von 20 vH der Vollrente als vorläufige Entschädigung für eine obstruktive Atemwegserkrankung als BK nach Nr 4301 der Anlage zur BKV; nicht als Folge der BK anerkannt wurde ua eine Hautkrankheit (Bescheid vom 26. August 1999). Auf den von der Klägerin hiergegen eingelegten Widerspruch lehnte die Beklagte ausdrücklich die Anerkennung einer BK nach Nr 5101 der Anlage zur BKV ab, weil ein Zwang zur Aufgabe der Tätigkeit aufgrund der beruflich erworbenen Latexallergie nicht vorliege und auch eine Aufgabe jeglicher hautgefährdender Tätigkeit nicht erfolgt sei (Bescheid vom 23. September 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 1999).
Das Sozialgericht (SG) Mannheim hat die von der Klägerin hiergegen erhobene Klage abgewiesen (Gerichtsbescheid vom 25. Juli 2000). Der nach Nr 5101 der Anlage zur BKV erforderliche Unterlassungszwang liege solange nicht vor, wie durch den Einsatz technischer oder organisatorischer Maßnahmen sowie durch persönliche oder medizinische Schutzmaßnahmen sicher gewährleistet sei, dass die berufliche Tätigkeit weiterhin ohne die Gefahr der Verschlimmerung oder des Wiederauflebens der Erkrankung durch die berufliche Einwirkung ausgeübt werden könne. Nur wenn auch so nicht sicher ausgeschlossen werden könne, dass die Erkrankung wieder auflebe oder sich verschlimmere, sei der erforderliche Unterlassungszwang gegeben. Dies sei bei der Klägerin seit dem Tragen entsprechender Schutzhandschuhe nicht (mehr) der Fall.
Das Landessozialgericht (LSG) Baden-Württemberg hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen (Urteil vom 21. November 2002). Es hat unter Bezugnahme auf die Ausführungen im erstinstanzlichen Gerichtsbescheid ausgeführt, es "unterstelle", dass die Klägerin an einer schweren (Minderung der Erwerbsfähigkeit ≪MdE≫ um 20 vH) beruflich erworbenen Hauterkrankung im Sinne von Nr 5101 der Anlage zur BKVO leide. Da die Klägerin im Hinblick auf die auf ihrer Station durchgeführten Schutzmaßnahmen in der Lage sei, ihre versicherte berufliche Tätigkeit als Schwester im gleichen Umfang auszuüben wie ihre nicht an einer entsprechenden Hautkrankheit leidenden Kolleginnen und bei ihr nach ihren eigenen Bekundungen seit Februar 1998 keine weiteren - einschlägigen - Hauterscheinungen aufgetreten seien, sehe es die weitere gutachterliche Beurteilung von Dr. W. als widerlegt an, wonach sonstige schädigende Einwirkungen wie Feuchtarbeit, Händedesinfektion usw die Aufgabe der beruflichen Tätigkeit erforderten. Bereits daraus ergebe sich, dass die Klägerin ihre berufliche Tätigkeit auch nicht aufgegeben habe.
Der entgegenstehenden Auffassung des Bundessozialgerichts (BSG) im Urteil vom 26. März 1986 - 2 RU 3/85 - folge es nicht, sondern es schließe sich der Auffassung von Pöhl (BG 2000, 475, 477) an, spätestens seit Inkrafttreten des § 9 Abs 1 Satz 2 Halbs 2 des Siebten Buches Sozialgesetzbuch (SGB VII) stehe der Einsatz geeigneter Mittel zur Gefahrenabwehr ausnahmslos der Notwendigkeit der Unterlassung aller gefährdenden Tätigkeiten des Versicherten entgegen.
Bei der Klägerin, die weiterhin ihren versicherten Beruf verrichte, bestehe kein Zwang für das Unterlassen ihrer versicherten Tätigkeit, die sie auch nicht aufgegeben habe. Sie habe deshalb keinen Anspruch auf Feststellung und Entschädigung ihrer Latexallergie als BK nach Nr 5101 der Anlage zur BKV. Es könne dahingestellt bleiben, ob der Klägerin überhaupt eine Entschädigung zu gewähren wäre, da die durch die BK Nr 5101 bedingten Einschränkungen im gesamten Erwerbsleben schon durch die gleiche Einschränkungen bedingende BK nach Nr 4301 gedeckt wären.
Mit ihrer - vom LSG zugelassenen - Revision macht die Klägerin geltend, das LSG verkenne mit seiner Forderung, dass sie eine berufliche Tätigkeit infolge ihrer Latexallergie hätte aufgeben müssen, den Wortlaut des § 9 Abs 1 Satz 2 Halbs 2 SGB VII, der in Nr 5101 der Anlage zur BKV wortgleich übernommen werde. Danach müsse nicht eine berufliche, sondern lediglich die schädigende Tätigkeit aufgegeben werden. Es sei mithin unerheblich, ob sie ihren Beruf weiterhin ausüben könne oder nicht. Die schädigende Tätigkeit - Tragen von Latexhandschuhen bzw Aufenthalt in durch Tragen von Latexhandschuhen durch die Kollegen kontaminierten Räumen - habe sie aber gerade aufgegeben. Nachdem außer Streit stehe, dass die bei ihr vorliegenden Hautveränderungen schwer seien, lägen die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Anerkennung einer BK gemäß § 9 Abs 1 SGB VII vor; das in Satz 2 aaO aufgenommene Kriterium des Unterlassungszwangs sei lediglich ein Mittel zur Ausgrenzung von Bagatellfällen. Nach dem hier zu berücksichtigenden Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung bei BKen sei die Einschränkung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt - nicht auf dem konkreten Arbeitsplatz - zu bewerten. Angesichts der Verbreitung von Latex sei indes eine starke Einschränkung ohne Weiteres zu erkennen, da sie wegen der Schwere ihrer Latexallergie strikt jeden Arbeitsplatz mit einer potentiellen Latexkontamination zu meiden habe und die beruflich erworbenen Allergien außerdem zu drastischen Einschränkungen im privaten Bereich führten. Schließlich stelle sich gesellschaftspolitisch die Frage, ob die gesundheitlichen Folgeschäden der beruflich erworbenen Latexallergie der Kranken- oder der Arbeitslosenversicherung aufgebürdet werden könnten, da doch eher bei geklärter Kausalität der Unfallversicherungsträger die zuständige Stelle sei.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des LSG Baden-Württemberg vom 21. November 2002, den Gerichtsbescheid des SG Mannheim vom 25. Juli 2000 sowie die Bescheide vom 26. August 1999 (teilweise) und vom 23. September 1999 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 16. November 1999 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, die bei ihr bestehende Latexallergie als BK der Nr 5101 der Anlage zur BKV anzuerkennen und ihr eine Rente nach einer MdE um 20 vH zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
Die Revision der Klägerin ist insoweit begründet, als das angefochtene Berufungsurteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist. Die vom LSG festgestellten Tatsachen reichen für eine abschließende Entscheidung über den von der Klägerin geltend gemachten Anspruch nicht aus.
Der Anspruch der Klägerin richtet sich gemäß § 212 SGB VII nach den Vorschriften des Ersten bis Neunten Kapitels des SGB VII (§§ 1 bis 211 SGB VII); denn den bindenden Feststellungen (§ 163 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) des LSG ist zu entnehmen, dass der geltend gemachte Versicherungsfall frühestens im Februar 1998 und damit nach dem Inkrafttreten des SGB VII (1. Januar 1997) eingetreten ist (Art 36 des Unfallversicherungs-Einordnungsgesetzes).
Nach § 56 Abs 1 Satz 1 SGB VII haben Versicherte bei Minderung ihrer Erwerbsfähigkeit infolge eines Versicherungsfalls über die 26. Woche nach dem Versicherungsfall hinaus um wenigstens 20 vH Anspruch auf eine Rente. Versicherungsfälle sind Arbeitsunfälle und BKen (§ 7 Abs 1 SGB VII). BKen sind Krankheiten, die die Bundesregierung durch Rechtsverordnung mit Zustimmung des Bundesrates als BKen bezeichnet und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 SGB VII begründenden Tätigkeit erleiden (§ 9 Abs 1 Satz 1 SGB VII). Die hier allein in Streit stehende BK nach Nr 5101 der Anlage zur BKV vom 31. Oktober 1997 (BGBl I 2623) wird wie folgt definiert: "Schwere oder wiederholt rückfällige Hauterkrankungen, die zur Unterlassung aller Tätigkeiten gezwungen haben, die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlich waren oder sein können".
Ob diese Tatbestandsvoraussetzungen im vorliegenden Fall gegeben sind, kann anhand der Feststellungen des LSG nicht abschließend entschieden werden. Das Berufungsgericht hat in den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils "unterstellt", dass die Klägerin an einer schweren Hauterkrankung iS der Definition der BK nach Nr 5101 leidet, die eine MdE um 20 vH bedingt und "beruflich erworben" ist. Damit hat es lediglich eine Fiktion aufgestellt, aber keine tatsächlichen Feststellungen getroffen, auf die eine Sachentscheidung gestützt werden kann, wenn die betreffenden Tatsachen entscheidungserheblich sind. Das LSG sah sich zur Tatsachenfeststellung insoweit nicht veranlasst, weil der Anspruch der Klägerin bereits an dem tätigkeitsbezogenen Merkmal dieser BK, dem Zwang zur Unterlassung aller in der Nr 5101 aufgeführten Tätigkeiten, scheitere. Die dieser Annahme zugrundeliegende Rechtsauffassung trifft indes nicht zu, so dass es für die Entscheidung auf das Vorliegen der lediglich "unterstellten" Tatbestandsmerkmale weiterhin ankommt.
Das LSG hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, die Klägerin sei in der Lage, ihre versicherte Tätigkeit seit Februar 1998 - dem Zeitpunkt der Entfernung aller allergisierenden latexhaltigen Produkte aus ihrer beruflichen Umgebung - weiterhin in gleichem Umfang wie ihre nicht an einer Hautkrankheit leidenden Kolleginnen auszuüben; damit bestehe kein Zwang zur Aufgabe der versicherten Tätigkeit und sie habe ihre berufliche Tätigkeit auch nicht aufgegeben. Zwar habe das BSG in seinem Urteil vom 26. März 1986 - 2 RU 3/85 - (= HV-Info 1986, 883) entschieden, der Grundsatz der - erforderlichen - Berufsaufgabe betreffe nur diejenigen Fälle, bei denen zur Zeit des Wirksamwerdens von Schutzmaßnahmen die BK noch keine die Erwerbsfähigkeit des Versicherten mindernden Folgen gehabt habe. Dieser vom BSG nicht begründeten und in der Literatur umstrittenen Rechtsauffassung sei nicht zu folgen; Ausnahmen von dem Grundsatz des Eintritts des Versicherungsfalls erst bei Aufgabe aller gefährdenden Tätigkeiten fänden im Gesetz keine Stütze.
In der vom LSG zitierten Entscheidung (aaO) hat das BSG bei einem Lagerarbeiter, der sich bei seiner versicherten Tätigkeit durch den Kontakt mit allergisierenden Stoffen eine obstruktive Atemwegserkrankung (MdE um 30 vH) zugezogen hatte und der seine bisherige Arbeit wegen der Verlagerung der allergisierenden Stoffe in ein anderes Gebäude ohne Einschränkung weiter verrichten konnte, das Unterlassen aller gefährdenden Tätigkeiten bejaht, obwohl eine BK mit Unterlassungszwang nicht vorliege, wenn dem Unterlassen durch geeignete Schutzmaßnahmen begegnet werden könne. Dies betreffe nur diejenigen Fälle, bei denen zur Zeit des Wirksamwerdens von Schutzmaßnahmen die BK noch keine die Erwerbsfähigkeit mindernden Folgen habe; dem Versicherten, der an einer beruflich bedingten Atemwegserkrankung leide, die seine Erwerbsfähigkeit um 30 vH mindere, könne eine Entschädigung nicht versagt werden, wenn er zwar seine Tätigkeit fortsetze, aber unter eine weitere Schädigung ausschließenden Bedingungen. Dem LSG ist insoweit zuzustimmen, als diese Entscheidung keine Begründung enthält und sie in der Literatur auf Kritik gestoßen ist (zum Streitstand s Peter Becker, Der Unterlassungszwang bei Berufskrankheiten, Dissertation, Heidelberg 2003, S 122). Gleichwohl sieht der Senat keine Veranlassung, diese Rechtsprechung aufzugeben.
Zwar ist dem Wortlaut des § 9 Abs 1 Satz 2 Halbs 2 SGB VII, der in Nr 5101 der Anlage zur BKV wortgleich übernommen ist, keine Ausnahme in dem vom BSG aufgezeigten Sinne zu entnehmen. Daraus ist allerdings entgegen der Ansicht des LSG nicht ohne weiteres zu schließen, dass die darin enthaltene Regel ausnahmslos gilt (so aber Pöhl BG 2000, 475, 477). Es ist allgemein anerkannt, dass bei der Auslegung von Rechtsnormen nicht am buchstäblichen Sinne des Ausdrucks zu haften, sondern der Sinn einer Norm zu erforschen ist. Schon die Frage, ob der Wortlaut einer Vorschrift tatsächlich eindeutig ist, lässt sich ohne Auslegung nicht beantworten. Maßgeblich für das Verständnis einer Rechtsvorschrift ist der in ihrem Wortlaut zum Ausdruck gekommene objektivierte Wille des Gesetz- oder Verordnungsgebers, dh die ratio legis oder der Sinn und Zweck der Vorschrift, so dass der teleologischen, am Normzweck ausgerichteten Auslegung wesentliches Gewicht zukommt. Um den Sinn und Zweck einer Norm zu ermitteln, sind wiederum ihr Bedeutungszusammenhang und ihre Entstehungsgeschichte zu berücksichtigen (vgl BSG SozR 3-4100 § 134 Nr 9 mwN). Grundsätzlich zulässig ist in den danach zu ziehenden Grenzen eine sog teleologische Reduktion, dh eine Auslegung, die zu einer Einschränkung des Anwendungsbereichs einer Norm gegenüber ihrem Wortlaut führt (vgl BSG SozR 3-5671 Anl 1 Nr 4104 Nr 1 mwN; BVerwG DVBl 1995, 1309; Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl, 391 ff; Brandenburg, Die teleologische Reduktion, 1983). Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) gehört die teleologische Reduktion zu den anerkannten Auslegungsregeln und ist von Verfassungswegen nicht zu beanstanden (vgl ua BVerfGE 88, 145, 166/167 und BVerfGE 97, 186, 196/197).
Sinn und Zweck des Unterlassungszwangs gebieten eine Einschränkung dahin, dass die durch Schutzmaßnahmen des Arbeitgebers ermöglichte Fortsetzung der bisherigen Berufstätigkeit der Anerkennung und Entschädigung einer beruflich bedingten Erkrankung als BK nicht entgegensteht, wenn die Erwerbsfähigkeit des Versicherten durch diese Erkrankung zuvor bereits in einem entschädigungspflichtigen Ausmaß gemindert war.
Der Unterlassungszwang hat zwei Funktionen: Zum einen soll damit eine typisierende Festlegung des Schweregrades der Krankheit erfolgen, um Bagatellerkrankungen, auch wenn sie kausal auf berufliche Einwirkungen zurückzuführen sind, von einer Anerkennung und Entschädigung als BK auszuschließen. Vor allem aber soll ein Verbleiben des Versicherten auf dem ihn gefährdenden Arbeitsplatz verhindert und dadurch eine Verschlimmerung der Krankheit mit der Folge einer erhöhten Entschädigungspflicht verhütet werden (vgl BSGE 84, 30, 39 = SozR 3-2200 § 551 Nr 12 S 44; BSG SozR 2200 § 551 Nr 10, 24; Peter Becker, aaO, S 81 ff mwN). Der zuletzt genannte Zweck wird nicht nur dann erreicht, wenn der Versicherte seine Berufstätigkeit aufgibt, sondern auch dann, wenn die schädigenden Einwirkungen am Arbeitsplatz durch geeignete Schutzmaßnahmen beseitigt werden und deshalb die Gefahr einer Verschlimmerung oder des Wiederauflebens der Krankheit durch Fortsetzung der Berufstätigkeit nicht mehr droht. Von daher böte es sich an, die Formulierung in § 9 Abs 1 Satz 2 Halbs 2 SGB VII bzw in den einschlägigen Vorschriften der BKV auf die konkreten Arbeitsbedingungen zu beziehen und das Unterlassungserfordernis als erfüllt anzusehen, wenn der Arbeitsplatz so umgestaltet wurde, dass die für die Entstehung, die Verschlimmerung oder das Wiederaufleben der Krankheit ursächlichen Faktoren vollständig und dauerhaft ausgeschaltet sind.
Diese von der Revision befürwortete und mit dem Wortlaut der in Rede stehenden Definition durchaus vereinbare Auslegung hat der Senat jedoch in früheren Entscheidungen abgelehnt und festgestellt, dass es für die Anerkennung einer BK, welche die Aufgabe der beruflichen Beschäftigung zur Voraussetzung hat, grundsätzlich nicht ausreicht, wenn zwar die Berufstätigkeit bei Fortbestehen der bisherigen, krankmachenden Arbeitsbedingungen hätte aufgegeben werden müssen, diese Konsequenz aber durch Beseitigung der schädlichen Einwirkungen vermieden werden konnte (Urteil vom 26. März 1986 - 2 RU 3/85 in HV-Info 1986, 883; siehe früher bereits Urteil vom 8. Dezember 1983 = BSGE 56, 94, 98 = SozR 5677 Anl 1 Nr 46 Nr 12 S 25 sowie Urteil des 7. Senats vom 27. April 1972 = SozR Nr 2 zu Anl 46 der 6. BKVO). Er hat damit dem Umstand Rechnung getragen, dass andernfalls das zweite Regelungsziel (Ausschluss von Bagatellerkrankungen) verfehlt worden wäre, weil dann auch geringfügige, die Erwerbsfähigkeit nicht oder nicht nennenswert beeinträchtigende beruflich bedingte Erkrankungen iS der BKV als BKen anerkannt werden müssten, obwohl infolge geeigneter Schutzmaßnahmen eine weitere gesundheitliche Gefährdung nicht mehr zu besorgen wäre (zum Anspruch auf Feststellung einer BK unabhängig vom Vorliegen eines Leistungsfalls: BSG SozR 2200 § 551 Nr 35).
Keines der mit dem Unterlassungszwang verfolgten Ziele vermag es indessen zu rechtfertigen, eine beruflich erworbene Erkrankung, die zu einer - unter Umständen erheblichen - Einschränkung der Erwerbsfähigkeit geführt hat, anders als vergleichbare Folgen eines Arbeitsunfalls nur deshalb nicht zu entschädigen, weil der Versicherte dank einer die Krankheitsursachen beseitigenden Änderung der Arbeitsbedingungen seine Berufstätigkeit weiter ausüben kann. Ein solches Ergebnis würde gegen das dem Rechtsstaatsprinzip immanente Gebot der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Der Unterlassungszwang ist zwar als solcher ein geeignetes Instrument zur Verwirklichung der vom Verordnungsgeber angestrebten Zwecke und genügt auch sonst den vom BVerfG formulierten Anforderungen an die Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns (dazu näher: Peter Becker, aaO, S 173). Für die hier gegebene besondere Fallkonstellation trifft das indessen nicht zu. Denn die Aufgabe der Berufstätigkeit ist hier weder zur Ausgrenzung von Bagatellerkrankungen (um eine solche handelt es sich gerade nicht) noch zur Vermeidung weiterer Gesundheitsschäden erforderlich und geeignet, nachdem die Versicherte bei Fortsetzung ihrer bisherigen Tätigkeiten infolge der Schutzmaßnahmen keiner weiteren Schädigung mehr ausgesetzt ist. Bei dieser Sachlage wäre es unverhältnismäßig, für die Anerkennung als BK gleichwohl die Aufgabe dieser Tätigkeiten zu verlangen (Peter Becker, aaO, S 180).
Das Argument, nachdem jetzt in § 9 Abs 1 Satz 2 SGB VII der Unterlassungszwang als mögliche einschränkende Voraussetzung in den BK-Tatbeständen ausdrücklich vorgesehen sei, könnten Ausnahmefälle keinesfalls mehr anerkannt werden, denn es sei davon auszugehen, dass dem Gesetzgeber die - eine Korrektur des Wortlauts darstellende - Rechtsprechung bekannt gewesen sei und dass er eine entsprechende Ergänzung hinzugefügt hätte, falls er weiterhin solche Ausnahmen gewollt hätte (vgl Pöhl, BG 2000, 475, 477; Mehrtens / Perlebach, BKV, § 9 SGB VII RdNr 27.2), ist dem gegenüber nicht überzeugend. Vielmehr kann aus der Übernahme des unveränderten Wortlauts in Kenntnis der genannten Rechtsprechung auch gefolgert werden, dass der Gesetzgeber damit gerade auch die zu diesem Wortlaut ergangene Rechtsprechung bestätigen wollte und daher eine Änderung nicht für notwendig hielt. Für die letztere Alternative sprechen jedenfalls die Gesetzesmaterialien eher, da die Aufnahme des Unterlassungszwangs als mögliche Anerkennungsvoraussetzung für BKen in § 9 Abs 1 Satz 2 Halbs 2 SGB VII nach der Gesetzesbegründung (BT-Drucks 13/2204, S 77) nur klarstellenden Charakter hatte, mithin die bisherige Rechtslage samt der Rechtsprechung damit festgeschrieben werden sollte (vgl Peter Becker, aaO, S 176).
Als Ergebnis dieser Erwägungen ist festzuhalten, dass es dem Anspruch auf Anerkennung und Entschädigung einer BK nach Nr 5101 der Anlage zur BKV weiterhin nicht entgegensteht, dass der an einer beruflich bedingten Hauterkrankung iS dieser Vorschrift leidende Versicherte seine bisherige Tätigkeit infolge von Schutzmaßnahmen seines Arbeitgebers unter Bedingungen fortsetzt, die eine weitere Schädigung ausschließen, wenn die Erkrankung zur Zeit des Wirksamwerdens der Schutzmaßnahmen bereits eine MdE in rentenberechtigendem Ausmaß, also mindestens um 10 vH (vgl § 56 Abs 1 Satz 3 SGB VII), bedingt.
Da die Klägerin nach dem Akteninhalt möglicherweise zur Zeit des Wirksamwerdens der Schutzmaßnahmen - Umstellung auf Latex im Februar 1998 - bereits an einer Hauterkrankung iS der Nr 5101 der Anlage zur BKV litt, die eine MdE um 20 vH bedingte, könnte ihr Anspruch demnach begründet sein. Indes fehlen hierzu die erforderlichen tatsächlichen Feststellungen, und das BSG als Revisionsgericht kann diese nicht selbst treffen (§ 163 SGG); ihm ist daher eine abschließende Entscheidung der Sache nicht möglich. Auf die Revision der Klägerin war daher das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 1 SGG). Das LSG wird nunmehr die genannten fehlenden Feststellungen nachzuholen und unter Beachtung der hier festgelegten Grundsätze neu zu entscheiden haben.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen
NZA 2004, 782 |
NZS 2004, 382 |
SozR 4-5671 Anl.1, Nr.5101, Nr.1 |
PflR 2004, 252 |