Verfahrensgang
Sächsisches LSG (Urteil vom 22.10.1992) |
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Chemnitz vom 22. Oktober 1992 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger begehrt höheres Arbeitslosengeld (Alg) ab 1. Juli 1991.
Der 1940 geborene, verheiratete Kläger, auf dessen Lohnsteuerkarte für das Jahr 1991 die Lohnsteuerklasse IV/0 eingetragen war, war nach den Feststellungen des Landessozialgerichts (LSG) vom 1. Januar 1968 bis 30. Juni 1990 bei einer Maschinenbaufirma in Sachsen als Ingenieur (Bruttogehalt als Entwicklungstechnologe im April 1990 1.385,– M) und danach bei derselben Arbeitgeberin als Instandhalter für Meßmittel (Bruttolohn im Juli 1990 1.195,– DM und im Dezember 1990 1.594,31 DM) beschäftigt gewesen. Er meldete sich am 27. Juni 1991 mit Wirkung zum 1. Juli 1991 arbeitslos und beantragte Alg. Dabei gab er an, er befinde sich seit 1. Januar 1991 in „Kurzarbeit-Null”. Die Beklagte bewilligte ab 1. Juli 1991 Alg auf der Basis von Angaben in der Arbeitgeberbescheinigung (Bruttoarbeitsentgelt vom 1. April bis 30. Juni 1991 iHv 5.044,– DM bei 65 Arbeitstagen, 520 bezahlten Arbeitsstunden und einer Arbeitszeit von 40 Wochenstunden) iHv wöchentlich 179,40 DM (Bescheid vom 9. Juli 1991; Widerspruchsbescheid vom 14. November 1991). Ab 31. Dezember 1991 erhielt der Kläger Alg iHv wöchentlich 210,– DM aufgrund eines dynamisierten Arbeitsentgeltes (Bescheid vom 7. Januar 1992).
Während das Kreisgericht die Klage abgewiesen hat (Urteil vom 2. Juni 1992), hat das LSG „die Beklagte unter Abänderung des Bescheides vom 9. Juli 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. November 1991 sowie der folgenden Dynamisierungsbescheide” verurteilt, „dem Kläger ab 1. Juli 1991 ein höheres Arbeitslosengeld unter Zugrundelegung eines monatlichen Bruttolohnes von 2.227,– DM zu gewähren” (Urteil vom 22. Oktober 1992). Die Entscheidung wurde damit begründet, daß es mit Rücksicht auf die vom Kläger in den letzten drei Jahren vor Arbeitslosmeldung überwiegend ausgeübte berufliche Tätigkeit unbillig hart sei, vom Arbeitsentgelt der letzten drei Monate vor Arbeitslosmeldung auszugehen. Der Kläger sei im maßgeblichen Dreijahres-Zeitraum vor dem 1. Juli 1991 überwiegend als Ingenieur beschäftigt gewesen; in dieser Tätigkeit – hätte er sie weiter ausgeübt – hätte er bei seiner früheren Arbeitgeberin in den letzten drei Monaten vor Arbeitslosmeldung ein Bruttomonatsentgelt von 2.227,– DM erzielen können. Dieser Verdienst müsse nach § 112 Abs 7 Arbeitsförderungsgesetz (AFG) der Bemessung des Alg zugrunde gelegt werden. Daß der Kläger als Ingenieur tatsächlich weniger verdient habe als zuletzt, stehe dem nicht entgegen. Wegen der aus der Wiedervereinigung des geteilten Deutschland resultierenden gravierenden Umbrüche und Strukturveränderungen im wirtschaftlichen sowie Tarif- bzw Lohnsystem der früheren Deutschen Demokratischen Republik könne zur Beurteilung der von § 112 Abs 7 AFG geforderten Unbilligkeit nicht der frühere tatsächliche Verdienst mit dem Regelentgelt verglichen werden, sondern es müsse auf die Tätigkeit als solche abgestellt werden.
Mit der Revision rügt die Beklagte eine Verletzung des § 112 Abs 7 AFG. Die Feststellung einer unbilligen Härte iS dieser Vorschrift erfordere entgegen der Ansicht des LSG einen Vergleich der tatsächlichen Verdienste. Das vom Kläger im Bemessungszeitraum erzielte Entgelt von 1.690,– DM liege jedoch höher als sein früheres Ingenieurgehalt. Allenfalls könne entsprechend § 10 der Anordnung des Verwaltungsrats der Beklagten über die Beurteilung der Zumutbarkeit einer Beschäftigung Unbilligkeit unter Berücksichtigung der besonderen Situation der neuen Bundesländer angenommen werden, wenn das für den Bemessungszeitraum festzustellende fiktive Entgelt aus der höherwertigen Tätigkeit das Regelentgelt aus der geringerwertigen Tätigkeit um mindestens 20% überschreite. Grundlage des dem Kläger zu zahlenden Alg dürfe dann aber nicht der fiktive Verdienst bei der letzten Arbeitgeberin sein, sondern es müsse nach § 112 Abs 7 AFG vom tariflichen, ersatzweise vom ortsüblichen Arbeitsentgelt derjenigen Beschäftigung ausgegangen werden, für die der Kläger nach seinem Lebensalter und seiner Leistungsfähigkeit unter billiger Berücksichtigung seines Berufes und seiner Ausbildung nach Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes in Betracht komme.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des LSG aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Kreisgerichts zurückzuweisen.
Der Kläger hat weder einen Antrag gestellt noch sich zur Sache geäußert.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist iS der Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫), da den Rechtsausführungen des LSG zu § 112 Abs 7 AFG nicht zu folgen ist und der Senat mangels ausreichender tatsächlicher Feststellungen nicht zu entscheiden vermag, ob dem Kläger aus anderen Gründen höheres Alg zusteht.
Gegenstand des Revisionsverfahrens ist der Bewilligungsbescheid der Beklagten vom 9. Juli 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 14. November 1991, gegen den sich der Kläger mit der kombinierten Anfechtungs- und Leistungsklage (§ 54 Abs 1 Satz 1 und Abs 4 SGG) insoweit wendet, als ihm höheres Alg versagt wurde; Gegenstand des Revisionsverfahrens ist in gleicher Weise der Bescheid der Beklagten vom 7. Januar 1992, der gemäß § 96 Abs 1 SGG Gegenstand des Klageverfahrens geworden ist. Ob weitere sog Dynamisierungsbescheide (§§ 112a, 249c Abs 13 AFG) bis zum Erlaß der zweitinstanzlichen Entscheidung ergangen sind, bedarf keiner näheren Untersuchung, da die Sache ohnedies an das LSG zurückzuverweisen ist. Das LSG, das im Urteilstenor mehrere Dynamisierungsbescheide abgeändert, aber nur den vom 7. Januar 1992 in den Entscheidungsgründen benannt hat, wird die genaueren Feststellungen hierzu nachzuholen haben.
Verfahrenshindernisse, die einer Sachentscheidung entgegenstehen, liegen nicht vor. Insbesondere war die Berufung des Klägers statthaft gemäß § 143 SGG iVm Art 8 und Anl I Kap VIII Sachgebiet D Abschn III Nr 4 des Einigungsvertrages (EinigVtr) vom 31. August 1990 (BGBl II 889) und Art 1 des Einigungsvertragsgesetzes vom 23. September 1990 (BGBl II 885) – bis 28. Februar 1993 geltend (vgl Art 14 Abs 3 und Art 15 Abs 1 des Gesetzes zur Entlastung der Rechtspflege vom 11. Januar 1993 – BGBl I 50). Danach war die Anwendung der §§ 144 bis 149 SGG ausgeschlossen und es bedurfte in den neuen Bundesländern – Ostberlin ausgenommen – entsprechend Art 2 § 4 Abs 1 des Gesetzes zur Entlastung der Gerichte in der Verwaltungs- und Finanzgerichtsbarkeit (EntlG) einer Zulassung der Berufung durch das Sozialgericht (SG), wenn der Beschwerdewert von 500,– DM nicht überschritten war und keine wiederkehrenden Leistungen für mehr als ein Jahr betroffen waren; vorliegend ist jedoch höheres Alg für einen Zeitraum von mehr als einem Jahr streitig, so daß es einer Berufungszulassung unabhängig davon schon nicht bedurfte, daß Art 2 EntlG mit Wirkung ab 1. Januar 1991 aufgehoben worden ist.
Grundlage des möglichen Anspruchs auf höheres Alg sind § 111 AFG (hier idF des am 1. Januar 1989 in Kraft getretenen Gesundheits-Reformgesetzes vom 20. Dezember 1988 – BGBl I 2477) und § 112 AFG (hier idF des EinigVtr). Nach § 111 Abs 1 AFG beträgt das Alg für Arbeitslose, die mindestens ein Kind iS des § 32 Abs 1, 4 und 5 des Einkommensteuergesetzes (EStG) haben, sowie für Arbeitslose, deren Ehegatte mindestens ein Kind iS des § 32 Abs 1, 4 und 5 des EStG hat, wenn beide Ehegatten einkommensteuerpflichtig sind und nicht dauernd getrennt leben, 68 vH, für die übrigen Arbeitslosen 63 vH des um die gesetzlichen Abzüge, die bei Arbeitnehmern gewöhnlich anfallen, verminderten Arbeitsentgeltes (§ 112 AFG). Gemäß § 111 Abs 2 AFG bestimmt der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung die Leistungssätze unter Berücksichtigung der Steuerklasse und anderer Kriterien jeweils für ein Kalenderjahr durch Rechtsverordnung. Arbeitsentgelt iS des § 111 Abs 1 AFG ist nach § 112 Abs 1 AFG das Arbeitsentgelt, das der Arbeitslose im Bemessungszeitraum durchschnittlich in der Woche erzielt hat. Nach § 112 Abs 2 AFG umfaßt der Bemessungszeitraum die beim Ausscheiden des Arbeitnehmers abgerechneten Lohnabrechnungszeiträume der letzten drei Monate der die Beitragspflicht begründenden Beschäftigungen vor der Entstehung des Anspruchs, in denen der Arbeitslose Arbeitsentgelt erzielt hat (Satz 1). Enthalten die Lohnabrechnungszeiträume dabei weniger als 60 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt, so verlängert sich der Bemessungszeitraum um weitere Lohnabrechnungszeiträume, bis 60 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt erreicht sind (Satz 3).
Die Höhe des Alg wird folglich durch drei Kriterien beeinflußt: durch den Familienstatus, der für den Alg-Satz in Gestalt eines bestimmten Prozentwertes des um die gewöhnlichen gesetzlichen Abzüge verminderten Arbeitsentgeltes maßgeblich ist, durch die Lohnsteuerklasse, die für die Leistungsgruppe der aufgrund von § 111 Abs 2 AFG erlassenen Leistungsverordnung bestimmend ist, und durch das durchschnittlich im Bemessungszeitraum erzielte wöchentliche Arbeitsentgelt (Bemessungsentgelt). Zu dessen Berechnung wird das im Bemessungszeitraum durchschnittlich in der Arbeitsstunde erzielte Arbeitsentgelt (Lohnfaktor) mit der Zahl der Arbeitsstunden vervielfacht (Zeitfaktor), die sich als Durchschnitt der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit der Beschäftigungsverhältnisse im Bemessungszeitraum ergibt (§ 112 Abs 3 Satz 1 AFG).
Ob und für welchen Zeitraum dem Kläger unter Beachtung dieser Regelungen ein Anspruch auf höheres Alg zusteht, kann nicht entschieden werden. Zwar hat der Kläger seine Einwände gegen die Alg-Bewilligung damit begründet, daß gemäß § 112 Abs 7 AFG wegen unbilliger Härte bei der Bemessung des Alg von einem höheren (fiktiven) Verdienst als Ingenieur auszugehen sei. Da er jedoch mit der Klage eine höhere Leistung begehrt, ist der geltend gemachte Anspruch unter jeglichen rechtlichen und tatsächlichen Gesichtspunkten zu prüfen. Dabei ist das Gericht weder an das tatsächliche und rechtliche Vorbringen des Klägers gebunden, noch darf es seine Prüfung hierauf beschränken, wenn weitere Anspruchsmerkmale von Bedeutung sind (BSGE 67, 20, 21 = SozR 3-4100 § 138 Nr 3; BSG SozR 4100 § 136 Nr 5; SozR 4100 § 138 Nrn 14 und 24).
Für eine abschließende Entscheidung über die Höhe des dem Kläger zustehenden Alg fehlt es an ausreichenden Feststellungen des LSG. Dies gilt bereits für die der Leistungsbemessung zugrunde zu legende Lohnsteuerklasse (§§ 111 Abs 2, 113 AFG). Das LSG hat insoweit ausschließlich festgestellt, daß auf der Lohnsteuerkarte des Klägers für das Jahr 1991 die Lohnsteuerklasse IV eingetragen war. Wegen der Möglichkeit einer Lohnsteuerklassenänderung ab 1992 ist dies nicht ausreichend. Es fehlen zudem sichere Feststellungen zum Familienstatus des Klägers und insbesondere zum wöchentlichen Arbeitsentgelt iS des § 112 AFG.
Hierzu hat das LSG lediglich ausgeführt, die Arbeitgeberin des Klägers habe in ihrer Bescheinigung vom 25. Juni 1991 für den Zeitraum vom 1. April bis 30. Juni 1991 ein Bruttoarbeitsentgelt von 5.044,– DM bei 65 bezahlten Arbeitstagen, 520 bezahlten Arbeitsstunden und bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von 40 Stunden mitgeteilt. Ein eigenes Urteil hat es sich darüber indes nicht gebildet. Dies wird dadurch verdeutlicht, daß ohne jede Wertung gleichzeitig die der Arbeitsbescheinigung entgegenstehende Angabe des Klägers wiedergegeben ist, er habe sich seit 1. Januar 1991 in „Kurzarbeit-Null” befunden. Nimmt man diese Erklärung wörtlich, so hat der Kläger auch im vom LSG offenbar angenommenen Bemessungszeitraum von April bis Ende Juni 1991 überhaupt nicht gearbeitet. Dafür spräche die in der Akte des Kreisgerichts befindliche Vereinbarung vom 18. Dezember 1990 zwischen der Arbeitgeberin und dem Kläger, nach der ab 1. Januar 1991 Kurzarbeitergeld (Kug) gezahlt werden sollte, und zwar in Höhe von 63% des Nettodurchschnittsverdienstes durch das Arbeitsamt (ArbA) und in Höhe von 22% durch das Unternehmen selbst.
Soweit das ArbA nach dem 31. Dezember 1990 Kug gezahlt haben sollte, wäre dies kein Arbeitsentgelt iS des § 112 Abs 1 AFG (vgl §§ 14, 17 Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung – ≪SGB IV≫ iVm der Arbeitsentgeltverordnung), sondern eine Sozialleistung. Hätte der Kläger dementsprechend von April bis Ende Juni 1991 nur Kug bezogen, würde sich der Bemessungszeitraum gemäß § 112 Abs 2 Satz 3 AFG um weitere (frühere) Lohnabrechnungszeiträume verlängern, bis 60 Tage mit Anspruch auf Arbeitsentgelt erreicht sind. Dies würde selbst dann gelten, wenn zum Kug ein Zuschuß durch die Arbeitgeberin iHv 22% des Nettodurchschnittsverdienstes gewährt worden wäre. Dieser Zuschuß wäre nämlich kein in der Arbeitsstunde erzieltes Arbeitsentgelt (§ 112 Abs 3 AFG), sondern Entschädigung für ausgefallene Arbeitsstunden, also seiner Natur nach gerade kein Lohn (vgl zu dieser Voraussetzung BSG SozR § 112 Nr 30). Ob bei „Kurzarbeit-Null” ein beitragspflichtiges Beschäftigungsverhältnis überhaupt noch besteht, bedarf damit keiner Entscheidung. Sollte der Kläger mithin seit 1. Januar 1991 nur Kug und uU einen Zuschuß seiner Arbeitgeberin hierzu erhalten haben, so läge der Bemessungszeitraum der letzten drei abgerechneten Lohnabrechnungszeiträume zwangsläufig vor dem 1. Januar 1991.
Damit läßt sich weder das für den Klageanspruch maßgebliche Arbeitsentgelt iS des § 112 Abs 1 bis 3 AFG ermitteln, noch kann über die Voraussetzungen des § 112 Abs 7 AFG befunden werden. Nach § 112 Abs 7 AFG ist vom am Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthaltsort des Arbeitslosen maßgeblichen tariflichen oder mangels einer tariflichen Regelung vom ortsüblichen Arbeitsentgelt derjenigen Beschäftigung auszugehen, für die der Arbeitslose nach seinem Lebensalter und seiner Leistungsfähigkeit unter billiger Berücksichtigung seines Berufes und seiner Ausbildung nach Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes in Betracht kommt, wenn es mit Rücksicht auf die vom Arbeitslosen in den letzten drei Jahren vor der Arbeitslosmeldung überwiegend ausgeübte berufliche Tätigkeit unbillig hart wäre, vom Arbeitsentgelt nach den Absätzen 1 bis 6 auszugehen (Alternative ≪Alt≫ 1) oder wenn der letzte Tag des Bemessungszeitraums bei Entstehung des Anspruchs länger als drei Jahre zurückliegt (Alt 2).
Die Anwendung des § 112 Abs 7 Alt 2 AFG dürfte ausscheiden, da der Bemessungszeitraum keinesfalls länger als drei Jahre zurückliegen dürfte. Eine abschließende Entscheidung über die Voraussetzungen des § 112 Abs 7 Alt 1 AFG scheitert schon am Fehlen genauerer Feststellungen zum für den nach dieser Vorschrift erforderlichen Vergleich des Arbeitsentgeltes der früheren Tätigkeit als Ingenieur mit dem Regelentgelt vor Arbeitslosigkeit. Da die Vorschrift des § 112 Abs 7 AFG als Ausnahmeregelung konzipiert ist (BSGE 62, 43, 47 = SozR 4100 § 112 Nr 31; BSGE 66, 11, 18 = SozR 4100 § 112 Nr 52; BSGE 72, 177, 183 = SozR 3-4100 § 112 Nr 13), kann nicht beurteilt werden, ob die Zugrundelegung des Regelentgelts unbillig iS des § 112 Abs 7 AFG ist, wenn dieses Regelentgelt nach § 112 Abs 1 bis 3 AFG noch nicht feststeht. Es bedarf somit zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch keiner Entscheidung darüber, mit welchem Verdienst aus überwiegend (vgl zu diesem Begriff BSGE 63, 153, 160 ff = SozR 4100 § 112 Nr 39; BSG SozR 4100 § 112 Nr 47) ausgeübter Tätigkeit das Regelentgelt zu vergleichen ist, ob es auf den Durchschnittsverdienst des gesamten Zeitraums der Tätigkeit als Ingenieur innerhalb der letzten drei Jahre vor Arbeitslosmeldung ankommt, ob möglicherweise ein kürzerer Zeitraum genügt oder ob gar alleine auf den letzten Verdienst der Tätigkeit als Ingenieur abgestellt werden muß. Offenbleiben kann zudem noch, bei welcher Differenz eine unbillige Härte anzunehmen ist (vgl Hennig/Kühl/Heuer/Henke, Komm zum AFG, Stand Februar 1994, § 112 RdNr 41; Gagel, Komm zum AFG, Stand Mai 1993, § 112 RdNrn 360 ff). Keinesfalls ist dem LSG darin zu folgen, daß es bei dem nach § 112 Abs 7 Alt 1 AFG erforderlichen Vergleich unter Berücksichtigung der besonderen Situation in den neuen Bundesländern alleine auf Art und Wert der Tätigkeit als solcher ankommt, wenngleich zuzugestehen ist, daß der Wortlaut der Vorschrift dieser Auslegung nicht entgegenstehen würde.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) baut das gesetzliche System für den Alg-Anspruch auf dem bisherigen Lebensstandard des Arbeitslosen auf (BSGE 53, 186, 189 = SozR 4100 § 112 Nr 20; BSGE 63, 153, 159 f = SozR 4100 § 112 Nr 39; BSGE 66, 11, 15 = SozR 4100 § 112 Nr 52; BSG SozR 4100 § 112 Nr 28). Folglich knüpft die Berechnung des Regelentgelts nach § 112 Abs 1 bis 3 AFG an das aktuell vor Eintritt der Arbeitslosigkeit erzielte Entgelt an, weil davon ausgegangen wird, daß der Arbeitnehmer ohne den Verlust der zugrundeliegenden Beschäftigung jenes Entgelt weitererzielt hätte; ihm soll mithin durch das Alg Lohnersatz auf der Grundlage dieses Entgelts gewährt werden (BSGE 62, 43, 47 = SozR 4100 § 112 Nr 31). Diese Konzeption wahrt die für den Lohnersatzcharakter des Alg gebotene zeitliche Nähe zum aktuellen Entgelt (BSGE 72, 177, 180 = SozR 3-4100 § 112 Nr 13); sie trägt dem Versicherungsprinzip Rechnung (BSGE 62, 43, 47 = SozR 4100 § 112 Nr 31; BSGE 66, 11, 19 = SozR 4100 § 112 Nr 52) und ist Ausdruck der gesetzgeberischen Absicht, das Bemessungsentgelt nach möglichst einfach festzustellenden und objektiv überprüfbaren Maßstäben zu bestimmen (BSG SozR 3-4100 § 112 Nrn 2 und 10). Als Ausnahme von der Regel kann dann § 112 Abs 7 Alt 1 AFG grundsätzlich nur einen Ausgleich dafür schaffen, daß der Arbeitnehmer in einem verhältnismäßig kurzen Bemessungszeitraum ein wesentlich geringeres Arbeitsentgelt erzielt hat als aus seiner eigentlichen, während eines längeren Zeitraums ausgeübten Tätigkeit (BSGE 45, 49, 54 ff = SozR 4100 § 112 Nr 6; BSGE 53, 186, 191 = SozR 4100 § 112 Nr 20; BSGE 62, 43, 48 = SozR 4100 § 112 Nr 31; BSGE 63, 153, 161 = SozR 4100 § 112 Nr 39; BSGE 72, 177, 183 = SozR 3-4100 § 112 Nr 13; BSG SozR Nr 5 zu § 90 AVAVG; SozR 4100 § 112 Nrn 19, 28, 44, 45 und 47; SozR 3-4100 § 112 Nr 2); die Gründe, die zu dem niedrigeren Regelentgelt geführt haben, sind ohne Belang (BSG SozR 3-4100 § 112 Nr 2).
Diese Grundsätze bedürfen keiner Modifizierung im Hinblick auf die besonderen strukturellen Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern vor und nach der Wiedervereinigung. Es mag offenbleiben, ob § 112 Abs 7 AFG in seiner bisher durch die Rechtsprechung gewonnenen Ausprägung Lösungen für alle mit der Wiedervereinigung zusammenhängenden Probleme und Konstellationen bietet; jedenfalls ist kein Grund ersichtlich, bei der Höhe der Lohnersatzleistung „Alg” für Arbeitslose in den neuen Bundesländern unter Hintanstellung von Praktikabilitätserwägungen gerade nicht vom bisherigen Lebensstandard auszugehen. Strukturelle Probleme, deren Auftreten nicht auf die neuen Bundesländer beschränkt ist, können hierfür keine Rechtfertigung liefern; ihnen wird in den neuen Ländern im übrigen schon durch kürzere Dynamisierungsintervalle und höhere Anpassungsraten für das Bemessungsentgelt (§ 249c Abs 13 AFG) Rechnung getragen. Entgegen der Ansicht des LSG kann somit vorliegend die Anwendung des § 112 Abs 7 AFG nicht damit begründet werden, daß der Kläger, wäre er weiterhin als Ingenieur beschäftigt gewesen, mehr verdient hätte, als er tatsächlich im Rahmen der Tätigkeit als Instandhalter für Meßmittel verdient hat. Ohnedies wäre bei Vorliegen einer Härte iS der Vorschrift nicht das konkret erzielbare Bruttoarbeitsentgelt des Klägers bei seiner früheren Arbeitgeberin der Bemessung des Alg zugrunde zu legen, sondern nach dem unzweideutigen Wortlaut der Vorschrift das am Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt erzielbare tarifliche bzw ortsübliche Arbeitsentgelt, für das der Kläger nach Lebensalter, Leistungsfähigkeit, Beruf und Ausbildung nach Lage und Entwicklung des Arbeitsmarktes in Betracht kommt.
Das LSG wird bei seiner erneuten Entscheidung zunächst den streitigen Zeitraum und alle Bescheide, die Gegenstand des Verfahrens (§ 96 SGG) geworden sind, zu ermitteln haben. Dabei sind nicht nur die sog Dynamisierungsbescheide zu berücksichtigen, sondern alle Bescheide, die nach Klageerhebung den ursprünglichen bewilligenden Verwaltungsakt abgeändert oder ersetzt haben, was sogar für eventuelle Alhi-Bescheide gelten würde (vgl BSG vom 14. September 1990 – 7 RAr 18/90 – ≪unveröffentlicht≫). Selbst die erst nach dem aufgehobenen LSG-Urteil ergangenen Bescheide sind nach der Zurückverweisung der Sache an das LSG zu beachten (vgl BSGE 9, 78 f). Das LSG wird außerdem Feststellungen treffen müssen zum Familienstatus für den gesamten Zeitraum; gleiches gilt für die Lohnsteuerklasse. Der Bemessungszeitraum und das darin mindestens an 60 Tagen erzielte Regelentgelt nach § 112 Abs 1 bis 3 AFG sind zu ermitteln. Maßgeblich ist das abgerechnete (BSGE 64, 179, 180 f = SozR 4100 § 112 Nr 43; BSG, Urteil vom 9. August 1990 – 11 RAr 47/89 –, AuB 1992, 58 f) und erzielte (vgl BSG SozR 3-4100 § 112 Nr 10 mwN; BSG NZA 1993, 621 ff) Arbeitsentgelt pro Stunde (Lohnfaktor), vervielfältigt mit der tariflichen regelmäßigen wöchentlichen Arbeitszeit (Zeitfaktor). Erst dieses – uU je nach Lage des Bemessungszeitraums bereits nach §§ 112a, 249c Abs 13 AFG in der bis 31. Dezember 1993 geltenden Fassung dynamisierte – Entgelt kann nach § 112 Abs 7 AFG mit dem früheren – ebenfalls noch zu bestimmenden – Verdienst als Ingenieur verglichen werden, bevor das der Bewilligung zugrunde zu legende Bemessungsentgelt für den gesamten streitigen Zeitraum in den im Gesetz vorgesehenen regelmäßigen Abständen zu dynamisieren ist und als Grundlage für die Höhe des Alg nach der jeweiligen Leistungsverordnung dienen kann. Sollte sich bei der Berechnung ein niedrigerer Betrag als der von der Beklagten bereits bewilligte ergeben, muß es im Hinblick auf § 77 SGG allerdings bei dem höheren verbleiben. Im gegenläufigen Sinne ist eine höhere Leistung nicht zu erbringen, wenn die allgemeinen Voraussetzungen für die Gewährung von Alg entfallen sind (vgl hierzu: BSGE 72, 169, 176 = SozR 3-4100 § 56 Nr 9; BSG SozR 4100 § 115 Nr 1). Schließlich wird das LSG bei seiner erneuten Entscheidung auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu befinden haben.
Fundstellen
BSGE, 96 |
Breith. 1995, 140 |