Beteiligte
Landesversicherungsanstalt Rheinprovinz |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. Mai 1998 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
I
Streitig ist die Gewährung von Altersruhegeld (ARG) sowie die Zulassung zur Nachentrichtung freiwilliger Rentenversicherungsbeiträge. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob der Kläger als (ehemaliger) Angehöriger des deutschen Sprach- und Kulturkreises (dSK) anzusehen ist.
Der Kläger ist anerkannter Verfolgter iS des Bundesentschädigungsgesetzes (BEG). Er wurde am 13. Mai 1914 in K. geboren, das damals zu Österreich-Ungarn und später zur Tschechoslowakei gehörte. Von 1921 bis 1928 besuchte er in seinem Heimatort die Volksschule mit tschechischer Umgangssprache, absolvierte von 1928 bis 1931 eine Bäckerlehre in P. und arbeite in diesem Beruf von Januar 1932 bis Mai 1936. In der Nachkriegszeit war er von November 1946 bis September 1948 in der damaligen Tschechoslowakei als angestellter Koch tätig. Anschließend wanderte er nach Israel aus und erwarb 1949 die israelische Staatsangehörigkeit.
Im Januar 1990 beantragte der Kläger die Gewährung von ARG wegen Vollendung des 65. Lebensjahres und die Zulassung zur Nachentrichtung von Beiträgen zur deutschen Rentenversicherung. Nach umfangreichen Ermittlungen lehnte die Beklagte den Antrag auf Gewährung von ARG mit Bescheid vom 20. November 1995 idF des Widerspruchsbescheides vom 19. März 1996 ab. Zur Begründung führte sie im wesentlichen aus: Auf die Wartezeit anrechenbare Versicherungszeiten seien nicht vorhanden, eine Anerkennung der im Herkunftsgebiet zurückgelegten Versicherungszeiten nach dem Fremdrentengesetz (FRG) iVm § 20 des Gesetzes zur Regelung der Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts in der Sozialversicherung (WGSVG) sei wegen der fehlenden Zugehörigkeit des Klägers zum dSK nicht möglich. Dies weise das Ergebnis der beim israelischen Finanzministerium durchgeführten Sprachprüfung aus, wonach der Kläger nicht Deutsch schreiben könne.
Im Klageverfahren hat die Beklagte einen Antrag des Klägers auf Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen zur deutschen Rentenversicherung sowie auf Zahlung von ARG nach dem Zusatzabkommen vom 12. Februar 1995 zum Abkommen vom 17. Dezember 1973 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über Soziale Sicherheit (ZAbk Israel SozSich) wegen Fehlens einer damaligen Zugehörigkeit des Klägers zum dSK abgelehnt (Bescheid vom 10. September 1996). Klage und Berufung blieben ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts Düsseldorf ≪SG≫ vom 27. November 1997; Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen ≪LSG≫ vom 15. Mai 1998). Das LSG hat sein Urteil im wesentlichen auf folgende Erwägungen gestützt:
Der Bescheid vom 20. November 1995 betreffend die Ablehnung der Gewährung von ARG sei zu Recht ergangen. Der Kläger habe keinen Anspruch auf Gewährung von ARG. Nach der hier noch anzuwendenden Vorschrift der Reichsversicherungsordnung ≪RVO≫ (§ 1248 Abs 7 Satz 3) habe er die vorgeschriebene Wartezeit von 60 Kalendermonaten nicht erfüllt. Anrechenbare Versicherungszeiten nach dem FRG habe er nicht zurückgelegt, weil seine Zugehörigkeit zum dSK nicht glaubhaft sei. Der Senat mache insoweit von der Möglichkeit nach § 153 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) Gebrauch, von der weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe abzusehen. Ergänzend werde ausgeführt, der Kläger habe weder zur Zeit der Ausdehnung des nationalsozialistischen Einflußbereiches auf sein Heimatgebiet, noch zum Zeitpunkt der Auswanderung im Jahre 1948/49 dem dSK angehört. Zwar beherrsche er nach dem Ergebnis der beim israelischen Finanzministerium durchgeführten Sprachprüfung die deutsche Sprache mündlich und vermöge auch einen leichten deutschen Text mit Verständnis zu lesen. Er sehe sich jedoch nicht in der Lage, eine deutsche Schriftprobe abzugeben, da er niemals eine deutsche Schule besucht und auch im Elternhaus keinen Unterricht in der deutschen Schriftsprache erhalten habe. Dieses Prüfungsergebnis spreche gegen die Beherrschung der deutschen Sprache wie eine Muttersprache. Die Verwendung einer Sprache erschöpfe sich nicht darin, sie zu sprechen und lesen zu können, muttersprachliche Verwendung umschließe vielmehr auch, sie schreiben zu können.
Der Kläger sei auch nach seiner schulischen und beruflichen Ausbildung offensichtlich kein Analphabet. Angesichts des siebenjährigen Besuches einer Volksschule mit tschechischer Unterrichtssprache und einer daran anschließenden Lehre als Bäcker sei davon auszugehen, daß er die tschechische Unterrichtssprache nicht nur gesprochen und gelesen, sondern auch geschrieben habe. Soweit er seine Fähigkeit, leichte deutsche Texte langsam, aber mit Verständnis zu lesen, mit der Verfügbarkeit deutschsprachiger Lektüre im Elternhaus erklärt habe, schränke dies die Indizwirkung der fehlenden Fähigkeit zur schriftlichen Äußerung nicht ein. Im Gegenteil: Angesichts der wichtigen Rolle, die die deutsche Sprache im Elternhaus nach seinem eigenen Vortrag gespielt habe, wäre zu erwarten gewesen, daß er diese Sprache – sollte sie seine Muttersprache gewesen sein – auch in der Schrift erlernt hätte. Auf die hierfür angegebenen Gründe, wie das Fehlen einer deutschsprachigen Schule und die zeitliche Beanspruchung der Eltern, die sie an einer Unterrichtung des Klägers in der Schriftsprache entgegengestanden hätten, komme es nicht an.
Aus diesem Grunde sei auch die Versagung der Zulassung zur Nachentrichtung freiwilliger Beiträge durch den Bescheid der Beklagten vom 10. September 1996 als rechtmäßig anzusehen. Denn auch nach den hierfür maßgeblichen Vorschriften sei die Zugehörigkeit des Klägers zum dSK erforderlich.
Mit seiner vom erkennenden Senat zugelassenen Revision macht der Kläger im wesentlichen geltend: Die Rechtsauffassung des LSG stehe nicht mit der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) im Einklang. Allerdings sei vom BSG bisher nur der Fall einer fehlerhaften Schriftprobe und nicht die Problematik behandelt worden, daß überhaupt keine Schriftprobe abgelegt worden sei, weil der Antragsteller niemals Deutsch schreiben gelernt habe. Bereits bei konsequenter Anwendung der Rechtsprechung zur fehlerhaften Schriftprobe dürfe nicht danach unterschieden werden, ob eine Schriftprobe derart fehlerhaft sei, daß der Beweiswert gegen das Beherrschen der deutschen Sprache spreche, oder ob auf die Schriftprobe wegen geringer Bildung verzichtet werden müsse. Bei Personen niedrigerer Bildungsschicht dürfe es daher ausschließlich auf den mündlichen Sprachgebrauch ankommen.
Es sei zuzugeben, daß der Verzicht auf die Schriftprobe als Indiz im Rahmen der Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zum dSK negativ zu berücksichtigen sei, aber eben nur als ein Indiz von mehreren anderen, deren Rang die Instanzgerichte nach den Umständen des Einzelfalles unter Berücksichtigung aller relevanten Tatsachen prüfen müßten. Keinesfalls sei es zulässig, die Entscheidung präkludierend auf die Tatsache zu stützen, daß der Antragsteller niemals Deutsch schreiben gelernt habe, wenn dieser wegen fehlenden Besuchs einer Schule mit deutscher Unterrichtssprache oder wegen geringen Bildungsniveaus innerhalb der Familie keine zumutbare Gelegenheit gehabt habe, die deutsche Schriftsprache zu erlernen. Hier seien die Besonderheiten der Familiengeschichte, zB die dSK-Zugehörigkeit der Eltern oder anderer Familienangehöriger, die individuellen Verhältnisse des Umfeldes im Herkunftsland bzw die Bindungen an den dSK, zu ermitteln und umfassend zu würdigen. Zeugenaussagen und andere Beweismittel müßten unbedingt herangezogen werden, wenn sie vorhanden seien und irgendeinen Aufschluß über das Gewicht des mündlichen Sprachgebrauchs gegenüber möglicherweise fehlendem Lese- und Schreibvermögen geben könnten.
Wenn das niedrige Bildungsniveau oder das Fehlen eines ausreichenden deutschsprachigen Unterrichtsangebots (oder besondere familiäre, kulturelle, religiöse oder politische Verhältnisse) eine deutsche Schriftschulung nicht hätten erwarten lassen, könne es auf die Schreib- und Lesekenntnisse nicht ankommen. Vielfach habe für die jüdische Bevölkerung wegen ihrer Religionszugehörigkeit keine tatsächliche Gelegenheit bestanden, die deutsche Volksschule zu besuchen, während deutsche Privatschulen wiederum von den Eltern meistens nicht zu finanzieren gewesen seien. Schließlich hätten in einigen Orten überhaupt keine deutschsprachigen Bildungseinrichtungen oder Schulen mit dem Nebenfach Deutsch bestanden.
Das LSG hätte sich nicht mit der Feststellung fehlenden Schreibvermögens begnügen dürfen, sondern bewerten müssen, aus welchem Grunde der Kläger nicht Deutsch schreiben gelernt habe. Die Biographie des Klägers, das Ergebnis der Sprachprüfung, die Erklärung des Zeugen G. und insbesondere der Nichtgebrauch der jiddischen Sprache belegten die Zugehörigkeit des Klägers zum dSK.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. Mai 1998 und das Urteil des Sozialgericht Düsseldorf vom 27. November 1997 aufzuheben und die Beklagte
- unter Aufhebung des Bescheides vom 20. November 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. März 1996 zu verurteilen, ihm Altersruhegeld nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen zu gewähren,
- unter Aufhebung des Bescheides vom 10. September 1996 zu verurteilen, ihn zur Nachentrichtung von freiwilligen Beiträgen zur deutschen Rentenversicherung nach dem Zusatzabkommen vom 12. Februar 1995 zum Abkommen vom 17. Dezember 1973 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Israel über Soziale Sicherheit zuzulassen.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie bezieht sich im wesentlichen auf die Gründe des angefochtenen Urteils, die sie für zutreffend hält. Darüber hinaus trägt sie vor: Das LSG habe der Fähigkeit, Deutsch schreiben zu können, ausdrücklich nur eine Indizwirkung für die Frage der Muttersprache beigelegt. Es habe gewürdigt, welche Sprachfähigkeit der Kläger bei der Sprachprüfung nachgewiesen habe, wie seine Schul- und Lehrausbildung ausgesehen habe und wie lange seine Auswanderung aus dem Herkunftsgebiet zurückliege. Danach sei das LSG unter Abwägung aller vorgetragenen Umstände davon ausgegangen, daß der Kläger Deutsch im Herkunftsgebiet nicht wie seine Muttersprache gebraucht habe und es wahrscheinlich aus diesem Grund auch nicht schreiben gelernt habe. Die Grenzen der freien Beweiswürdigung seien damit nicht verletzt worden. Auch habe das in Bezug genommene Urteil des SG die fehlende Schreibfähigkeit des Klägers bewertet, wonach es nicht nachvollziehbar sei, warum seine Eltern, die Deutsch hätten lesen und schreiben können, ihn nicht im schriftlichen Gebrauch der deutschen Sprache unterwiesen hätten. Vielmehr komme dem Deutschschreiben eine maßgebliche Bedeutung zu. Der Kläger sei mehrsprachig aufgewachsen. Er habe über das Sprechen und Lesen der tschechischen Sprache Zugang zum tschechischen Kulturkreis. Diese Sprache habe er wie eine Muttersprache beherrscht oder als Muttersprache gesprochen. Nur in dieser Sprache habe er geschrieben. Deshalb habe er zu der tschechischen Kultur einen erweiterten Zugang. Durch das Schreibenlernen einer Sprache werde die Beziehung zu dieser Sprache intensiviert. Im Regelfall könne man nicht von der Benutzung des Deutschen wie eine Muttersprache sprechen, wenn für das Schreiben in allen Lebensbereichen eine andere von Kindheit an gesprochene Sprache benutzt werde.
II
Die zulässige Revision des Klägers ist iS einer Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet. Die vorinstanzlichen Tatsachenfeststellungen reichen nicht für eine Entscheidung darüber aus, ob bei dem Kläger die Nachentrichtung freiwilliger Beiträge zur deutschen Rentenversicherung und die Gewährung von ARG aus der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung in Betracht kommen.
Zu Recht haben die Vorinstanzen den nach Klageerhebung ergangenen Bescheid der Beklagten vom 10. September 1996 hinsichtlich der Zulassung zur Nachentrichtung freiwilliger Rentenversicherungsbeiträge mit in die Entscheidung einbezogen, da dieser gemäß § 96 SGG Gegenstand des erstinstanzlichen Verfahrens geworden ist. Gegenstand des Revisionsverfahrens sind damit sowohl die mit Bescheid vom 20. November 1995 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 19. März 1996 abgelehnte Gewährung von ARG wegen Vollendung des 65. Lebensjahres als auch die mit Bescheid vom 10. September 1996 versagte Zulassung zur Nachentrichtung freiwilliger Rentenversicherungsbeiträge sowie Zahlung von ARG nach dem ZAbk Israel SozSich.
Der Rentenanspruch des Klägers richtet sich noch nach den Vorschriften des Vierten Buches der RVO, da der Rentenantrag bereits im Januar 1990 – also bis zum 31. März 1992 – gestellt worden ist und sich auch auf die Zeit vor dem 1. Januar 1992 bezieht (vgl § 300 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch). Gemäß dem danach anzuwendenden § 1248 Abs 5 RVO erhält ARG ein Versicherter, der das 65. Lebensjahr vollendet und die Wartezeit nach Abs 7 Satz 3 dieser Vorschrift erfüllt hat, also eine Versicherungszeit von 60 Kalendermonaten zurückgelegt hat. Während der Kläger bereits im Mai 1979 die Altersgrenze von 65 Jahren erreicht hat, ist zwischen den Beteiligten streitig, ob er auch die erforderliche Wartezeit vorweisen kann.
Auf die allgemeine Wartezeit von 60 Kalendermonaten (vgl § 1248 Abs 7 Satz 3 RVO) werden neben Beitragszeiten auch Ersatzzeiten angerechnet (§ 1250 Abs 1 Buchst a und b RVO). Anrechenbare Beitragszeiten iS der §§ 1249, 1250 RVO sind nach den Feststellungen des LSG nicht gegeben. Zum Vorliegen von Ersatzzeiten fehlt es an berufungsgerichtlichen Ausführungen. Die Anrechenbarkeit von Ersatzzeittatbeständen nach § 1251 Abs 1 RVO setzt nach Abs 2 der Vorschrift das vorige Bestehen einer Versicherung oder die spätere Aufnahme einer versicherungspflichtigen Beschäftigung oder Tätigkeit voraus. Dafür besteht im Falle des Klägers kein Anhalt, soweit es um Versicherungszeiten nach der RVO geht.
Beim Kläger könnte allerdings die Berücksichtigung von Versicherungszeiten nach §§ 15, 16 FRG in Betracht kommen, wodurch zugleich eine Anrechnung von Ersatzzeiten möglich würde. § 15 Abs 1 Satz 1 FRG sieht vor, daß Beitragszeiten, die bei einem nichtdeutschen Träger der gesetzlichen Rentenversicherung zurückgelegt sind, den nach Bundesrecht zurückgelegten Beitragszeiten gleichstehen. Nach Maßgabe des § 16 FRG gilt Entsprechendes für Beschäftigungszeiten in Vertreibungsgebieten. Zwar gehört der Kläger – soweit ersichtlich – nicht zu dem gemäß § 1 FRG begünstigten Personenkreis. Insbesondere ist er offenbar kein anerkannter Vertriebener iS von § 1 des Bundesvertriebenengesetzes (BVFG). Ihm kann jedoch die Regelung des § 20 WGSVG zugute kommen, die durch Art 21 Nr 4 des Rentenreformgesetzes 1992 (RRG 1992) rückwirkend zum 1. Februar 1971 (vgl § 20 Abs 3 Satz 1 WGSVG) neu gefaßt worden ist. Nach Abs 1 Satz 1 dieser Vorschrift stehen bei Anwendung des FRG den anerkannten Vertriebenen iS des BVFG vertriebene Verfolgte gleich, die lediglich deswegen nicht als Vertriebene anerkannt sind oder anerkannt werden können, weil sie sich nicht ausdrücklich zum deutschen Volkstum bekannt haben. Für die Feststellung der danach erheblichen Tatsachen genügt es, wenn sie glaubhaft gemacht sind (vgl § 4 FRG; § 3 WGSVG).
Nach den Feststellungen des LSG ist der Kläger Verfolgter iS des § 1 BEG. Da er vor dem 1. Juli 1990 die ehemalige Tschechoslowakei verlassen hat, kann er auch Vertriebener (Aussiedler) iS von § 1 Abs 2 Nr 3 BVFG sein. Das weitere Tatbestandsmerkmal dieser Norm, nämlich die (damalige) deutsche Volkszugehörigkeit (vgl dazu § 6 BVFG), wird dadurch ersetzt, daß § 20 Abs 1 Satz 2 WGSVG auf § 19 Abs 2 Buchst a Halbsatz 2 WGSVG verweist. Danach genügt es, soweit es auf die deutsche Volkszugehörigkeit ankommt, daß Verfolgte im Zeitraum des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem dSK angehört haben.
Zum Begriff des dSK hat der Bundesgerichtshof (BGH) in seiner grundlegenden Entscheidung vom 25. März 1970 (in RzW 1970, 503, 505) allgemein ausgeführt: Nach der Fassung des Gesetzes (dort § 150 Abs 2 BEG) stehe die Zugehörigkeit zum deutschen Kulturkreis gleichwertig neben der Zugehörigkeit zum deutschen Sprachkreis. Diese Gleichsetzung lasse jedoch die besonderen Beziehungen zwischen Sprache und Kultur außer acht. Nach den Erkenntnissen der Sprachwissenschaft erschließe sich jedem, der eine Sprache als Muttersprache spreche oder im persönlichen Bereich ständig gebrauche, das Weltbild dieser Sprache. Dieser geistige Prozeß beginne mit dem Erlernen der Sprache, er gehe durchweg unbewußt vor sich. Da jeder Sprache eine bestimmte Art, die Welt gedanklich zu erfassen, eigentümlich sei, liege in der Spracherlernung die Eingliederung in die Denkwelt der Sprache. Daher erhalte jeder, der mit der deutschen Sprache weitgehend vertraut sei und sie in seinem persönlichen Lebensbereich spreche, einen Zugang zu der durch die Sprache vermittelten Kultur. In Wechselwirkung hierzu werde die Sprache durch neue kulturelle Leistungen bereichert. Dabei mache es keinen Unterschied, ob der Deutschsprechende nur über den Wortschatz und die Ausdrucksmöglichkeiten verfüge, die für ein Familienleben und die tägliche Berufsarbeit ausreichten, oder ob ihm die Sprache den Zugang zu Bereichen eröffne, die der Religion, Wissenschaft sowie insbesondere der Dichtung angehörten. Da jede Kultur mit dem Bestreben beginne, die Grundbedürfnisse des einzelnen Menschen und der menschlichen Gemeinschaft zu befriedigen, und im Streben nach diesen Leistungen der Anfang aller weiteren Kulturentwicklung liege, hätten auch die Frühstufen der Kultur ihre sprachlichen Ausdrucksformen. Deshalb dürfe nicht unterschieden werden, welche Schicht des kulturellen Lebens sich der Angehörige der Sprachgemeinschaft durch den Gebrauch der Sprache erschließe.
Auf dieser gedanklichen Grundlage ist der BGH zu dem Ergebnis gelangt, daß der Gebrauch des Deutschen im Bereich des persönlichen Lebens im Regelfall ausreichendes Anzeichen für die Zugehörigkeit zum dSK sei (RzW 1970, 503, 505; vgl auch BGH RzW 1973, 266; 1974, 247). Dieser Betrachtungsweise hat sich das BSG in ständiger Rechtsprechung angeschlossen (vgl zB BSG SozR 5070 § 20 Nr 2; BSGE 50, 279 = SozR 5070 § 20 Nr 3; BSG SozR 5070 § 20 Nrn 5, 13; BSG SozR 3-5070 § 20 Nr 1). Sie gilt nicht nur für die Begründung, sondern auch für die Fortdauer einer Zugehörigkeit zum dSK (vgl zB BSGE 50, 279, 281 f = SozR 5070 § 20 Nr 3 S 9). Allerdings vermittelt der Gebrauch der deutschen Sprache im persönlichen Lebensbereich dann nicht (mehr) die der deutschen Sprache eigene Denk- und Gefühlswelt, wenn sich der Betreffende bewußt von der deutschen Kultur ab- und einer fremden Kultur zugewandt hat (vgl BGH RzW 1970, 503, 505; 1973, 266; 1974, 247; dazu auch BSGE 50, 279, 281 f = SozR 5070 § 20 Nr 3 S 9; BSG SozR 5070 § 20 Nr 5 S 18).
Grundsätzlich muß der Verfolgte (noch) im Zeitpunkt des Verlassens des Vertreibungsgebietes dem dSK angehört haben; hat er sich vorher aus Verfolgungsgründen davon abgewandt, so ist bei der Beurteilung auf den Beginn der Verfolgungsmaßnahmen in seinem Herkunftsgebiet abzustellen (vgl BSG SozR 5070 § 20 Nrn 2, 9). In Fällen, in denen sich der Gebrauch der deutschen Sprache im persönlichen Bereich aus anderen Gründen (zB Heirat eines nicht deutschsprachigen Ehegatten) in rechtserheblichem Umfang verringert hat, geht die Zugehörigkeit jedenfalls dann, wenn Deutsch die Muttersprache ist, erst nach einer Übergangszeit verloren, deren Dauer sich nach den Verhältnissen des Einzelfalles richtet (vgl BSGE 50, 279, 282 = SozR 5070 § 20 Nr 3; BSG SozR 5070 § 20 Nrn 5, 13; BSG SozR 3-5070 § 20 Nr 1). Da das LSG eine Zugehörigkeit des Klägers zum dSK generell verneint hat, erübrigt sich nach dem gegenwärtigen Stand des Verfahrens eine genaue zeitliche Festlegung.
Da es für die Zugehörigkeit zum dSK vorrangig auf die Sprache ankommt, ist im einzelnen zu prüfen, inwieweit der Verfolgte die deutsche Sprache beherrscht und gebraucht hat. Was die im maßgeblichen Zeitpunkt vorhandenen Deutschkenntnisse anbelangt, so gehört das Beherrschen der Schriftsprache nicht zu den objektiven Mindestanforderungen einer Zugehörigkeit zum dSK (zur ähnlichen Problematik bei der Einbürgerung von Ehegatten deutscher Staatsangehöriger vgl BVerwGE 79, 94, 99). Zwar weist die Beklagte zutreffend darauf hin, daß das Erlernen der Schrift einen erweiterten Zugang zu der durch die Sprache vermittelten Kultur eröffnet, der Begriff des dSK unterscheidet jedoch nicht danach, welche Schicht des kulturellen Lebens sich der Angehörige der Sprachgemeinschaft durch den Gebrauch der Sprache erschließt (vgl BGH RzW 1980, 22, 23; BSG SozR 5070 § 20 Nr 4 S 15; allgemein dazu auch BVerwGE 102, 214, 220). Vielmehr ist in diesem Zusammenhang auf die subjektiven Verhältnisse, insbesondere den Bildungsgrad des Verfolgten abzustellen. Insofern können auch Analphabeten zum dSK gehören (vgl BGH RzW 1980, 22, 23; BSG SozR 5070 § 20 Nr 4 S 15). Andererseits reichen bloße Sprachkenntnisse für eine Zugehörigkeit zum dSK nicht aus; denn Deutsch kann auch als Fremdsprache erlernt und nur für bestimmte Zwecke (zB im Beruf) verwendet worden sein (vgl dazu BGH RzW 1970, 503, 506). Zu fordern ist daher ein ständiger Gebrauch im persönlichen Bereich, wozu neben Ehe und Familie auch der Freundes- und Bekanntenkreis gehört (vgl BSG SozR 5070 § 20 Nr 13 S 49 f).
Ein besonderes Problem stellt die Mehrsprachigkeit von Verfolgten wie dem Kläger dar. Dieser Personenkreis kann dem dSK zugerechnet werden, wenn er die deutsche Sprache wie eine Muttersprache beherrscht und sie in seinem persönlichen Bereich überwiegend verwendet hat (vgl BGH RzW 1970, 503, 505; 1972, 266; 1974, 247; BSG SozR 5070 § 20 Nrn 4, 13; BSG SozR 3-5070 § 20 Nrn 1, 2). Konnte ein Verfolgter seinerzeit zwar in einer anderen Sprache schreiben und lesen, nicht jedoch in der deutschen Sprache, so schließt ihn dieser Umstand – entgegen der Auffassung des LSG – für sich allein nicht von einer Zugehörigkeit zum dSK aus. Maßgebend ist auch hier eine umfassende Würdigung der besonderen Verhältnisse des Einzelfalles.
Wenn es darum geht, die deutsche Sprache „wie eine Muttersprache” zu beherrschen, so wird man allerdings grundsätzlich erwarten können, daß die Deutschkenntnisse mindestens ebenso gut sind wie die Kenntnisse in einer anderen Sprache (vgl dazu OLG München RzW 1970, 255, 256). Insofern hat der 5. Senat des BSG zu Recht Zweifel an der Zugehörigkeit zum dSK geäußert, wenn jemand für persönliche Aufzeichnungen und den Schriftverkehr eine andere Sprache als Deutsch benutzt hat (vgl BSG, Urteil vom 13. September 1990 - 5 RJ 3/90 -, Umdr S 6). Ausschlaggebend sind jedoch die jeweiligen individuellen Lebensumstände. Zunächst ist insoweit zu unterscheiden, ob Deutsch die Muttersprache des Verfolgten ist oder nicht. Ein Verfolgter mit einer anderen Muttersprache kann dem dSK zugerechnet werden, wenn er die deutsche Sprache in Wort und Schrift in gleicher Weise beherrscht hat wie ein entsprechender Verfolgter aus einem deutschsprachigen Elternhaus (vgl BGH RzW 1974, 243). Bei deutscher Muttersprache kommt es insbesondere darauf an, ob für den Verfolgten eine zumutbare Möglichkeit bestanden hat, die deutsche Schriftsprache zu erlernen (vgl BGH RzW 1980, 22, 23; LVA Rheinprovinz, AmtlMittLVARheinpr 1986, 225, 229; allgemein dazu auch BVerwG Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr 64). Dies hängt vornehmlich davon ab, ob er eine deutsche Schule besuchen oder zumindest schulischen Deutschunterricht erhalten konnte (vgl BSG, Urteil vom 28. Juni 1990 - 4 RA 40/88 - Umdr S 9 f; Urteil vom 16. August 1990 - 4 RA 18/89 - Umdr S 9 f; Urteil vom 17. Dezember 1992 - 4 RA 2/91 - Umdr S 9; allgemein dazu auch von Schenckendorff, Vertriebenen- und Flüchtlingsrecht, § 6 BVFG Anm 4d). War das nicht der Fall, ist weiter zu prüfen, ob die Eltern in der Lage waren, dem Betreffenden Deutsch nicht nur mündlich zu vermitteln, sondern ihm auch das Lesen und Schreiben dieser Sprache beizubringen bzw durch Privatunterricht beibringen zu lassen. Schließlich kann in diesem Zusammenhang auch eine allgemeine Unterdrückung der deutschen Sprache im Herkunftsgebiet des Verfolgten von Bedeutung sein (vgl zB BVerwG Buchholz 412.3 § 6 BVFG Nr 86).
Das zweite sprachbezogene Merkmal des dSK betrifft den Sprachgebrauch. Bei der Frage, ob die deutsche Sprache im persönlichen Lebensbereich zumindest überwiegend benutzt worden ist, sind grundsätzlich alle Formen der sprachlichen Kommunikation (Sprechen, Hören, Lesen und Schreiben) in Betracht zu ziehen (vgl dazu allgemein BGH RzW 1970, 503, 506; LVA Rheinprovinz, AmtlMittLVARheinpr 1986, 225, 230). Dazu können neben dem mündlichen Austausch in der Familie auch die Lektüre von Büchern und Zeitschriften, das Verfassen persönlicher Aufzeichnungen sowie der Briefwechsel mit Verwandten und Bekannten gehören. Auch in diesem Zusammenhang ist wiederum auf die persönlichen Verhältnisse des Verfolgten abzustellen. Ausgehend von der Gesamtheit seiner individuellen Kommunikation im persönlichen Lebensbereich ist mithin zu prüfen, ob dabei die deutsche Sprache überwiegend Verwendung gefunden hat.
Gemessen an diesen Kriterien erlauben die Tatsachenfeststellungen des LSG, das sich insoweit im wesentlichen auf die Ausführungen des SG gestützt hat, keine abschließende Beurteilung dazu, ob die damalige Beherrschung und der Gebrauch der deutschen Sprache durch den Kläger ausreichen, um ihn dem deutschen Sprachkreis zuzurechnen. Was das Beherrschen des Deutschen wie eine Muttersprache anbelangt, so hat sich das LSG darauf beschränkt festzustellen, daß der Kläger nicht gelernt habe, Deutsch zu schreiben. Dagegen hat es die Gründe, warum das so war – nach den Angaben des Klägers zB wegen Fehlens einer deutschsprachigen Schule und der zeitlichen Beanspruchung der Eltern –, ausdrücklich als unbeachtlich angesehen. Vielmehr ist allein der Umstand, daß der Kläger in einer anderen Sprache als Deutsch schreiben gelernt hat, für die Vorinstanz ausreichend gewesen, dessen dSK-Zugehörigkeit zu verneinen. Folglich hat sich das LSG nicht ausreichend mit der Frage befaßt, ob der Kläger überhaupt die Möglichkeit gehabt, aber nicht genutzt hat, die deutsche Schriftsprache zu erlernen. Die fehlenden Feststellungen zu den Gründen der mangelnden Schreibkenntnisse hat es auch nicht durch die Bezugnahme gemäß § 153 Abs 2 SGG ersetzt, da das SG hierzu ebenfalls keine Feststellungen getroffen hat. Darüber hinaus hat das LSG es unterlassen, den Gesamtbereich der privaten mündlichen und schriftlichen Kommunikation des Klägers konkret zu erfassen und in Beziehung zu setzen zum Umfang seines (nur mündlichen) Gebrauchs der deutschen Sprache.
Kann demnach die Zugehörigkeit des Klägers zum dSK noch nicht sicher beurteilt werden, so vermag dieser auch aus dem am 1. Juli 1990 in Kraft getretenen § 17a FRG keine Rechte herzuleiten. Denn diese Bestimmung begünstigt ebenfalls nur Personen, die dem dSK angehört haben. Ebensowenig ergibt sich aus dem Abk Israel SozSich ein Anspruch des Klägers auf Anrechnung seiner in der damaligen Tschechoslowakei zurückgelegten Beschäftigungszeiten in der deutschen gesetzlichen Rentenversicherung.
Entsprechendes gilt, soweit der Kläger die Zulassung zur Nachentrichtung freiwilliger Rentenversicherungsbeiträge sowie eine Rentenzahlung nach dem ZAbk Israel SozSich begehrt. Durch Art 1 dieses ZAbk ist dem Schlußprotokoll des Abk Israel SozSich eine Nr 11 angefügt worden, wonach die in Art 3 Abs 1 Buchst a und b des Abk bezeichneten Personen, die bis zu dem Zeitpunkt, in dem der nationalsozialistische Einflußbereich sich auf ihr jeweiliges Heimatgebiet erstreckt hat, ua dem dSK angehört haben, auf Antrag freiwillige Beiträge zur deutschen Rentenversicherung nachentrichten können, sofern für sie durch die Anwendung des § 17a FRG erstmals Beitragszeiten oder Beschäftigungszeiten nach dem FRG zu berücksichtigen sind. Ob der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 10. September 1996 zu Recht erfolgt ist, hängt in erster Linie davon ab, ob der Kläger im maßgeblichen Zeitpunkt zum dSK gehört hat. Dies kann ohne weitere Feststellungen des LSG nicht entschieden werden.
Da der erkennende Senat die insoweit erforderlichen Ermittlungen im Revisionsverfahren nicht selbst durchführen kann (vgl § 163 SGG), ist das Berufungsurteil gemäß § 170 Abs 2 Satz 2 SGG aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen. Dieses Gericht wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen