Entscheidungsstichwort (Thema)
Kindergeld. Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt eines ausländischen Kindes bei Ausweisung. Zugunstenverfahren
Leitsatz (amtlich)
1. Der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthalt eines Kindes ausländischer Staatsangehörigkeit im Inland als Voraussetzung eines Anspruches auf Kindergeld enden bei einer Ausweisung durch die Ausländerbehörde auch dann, wenn dagegen ein Rechtsbehelf eingelegt wird.
2. Wird die Ausweisung nachträglich aufgehoben, kann die Rechtmäßigkeit des Aufenthalts im Zugunstenverfahren nach § 44 SGB 10 geltend gemacht werden.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
BKGG § 2 Abs. 5 S. 1; SGB I § 30 Abs. 3 S. 2; AuslG 1990 § 56 Abs. 1, § 72 Abs. 2 Sätze 1-2; SGB X § 44 Abs. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Beklagten werden die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 10. August 1995 und des Sozialgerichts Speyer vom 5. Oktober 1994 aufgehoben. Die Klage wird abgewiesen.
Kosten des Rechtsstreits sind in allen Instanzen nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger ist Albaner aus dem ehemaligen Jugoslawien (sog Kosovo-Albaner) und kam 1981 in die Bundesrepublik Deutschland, um hier zu arbeiten, wofür er eine Aufenthaltserlaubnis hatte. 1987 zogen seine Ehefrau, eine Tochter und der 1978 geborene Sohn F. nach. Ehefrau und Tochter wurden 1989 wieder abgeschoben, während F. beim Kläger blieb und die Schule besuchte. 1991 wies die Ausländerbehörde auch F. aus (Verfügung vom 25. November 1991), setzte nach Einlegung des Widerspruchs den Vollzug aber bis zum Abschluß des Asylverfahrens aus, das seine inzwischen wieder nach Deutschland eingereiste Mutter für sich in Gang gesetzt hatte. F. erhielt solange eine Duldung. Die Beklagte zahlte dem Kläger vergleichsweise Kindergeld (Kg) für F. bis Ende 1993, lehnte dies wegen des ungesicherten Aufenthaltsrechts von F. aber für die Folgezeit ab (Bescheid vom 29. April 1994; Widerspruchsbescheid vom 24. Mai 1994). Das Sozialgericht (SG) hat der Klage stattgegeben (Urteil vom 5. Oktober 1994), das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung zurückgewiesen (Urteil vom 10. August 1995). Das LSG hat ausgeführt, der Kläger habe für F. einen Anspruch auf Kg, weil dieser seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland habe. Bis zu seinem 16. Lebensjahr habe er als Staatsangehöriger des ehemaligen Jugoslawien für einen Aufenthalt bei einem Elternteil, der eine Aufenthaltsgenehmigung besessen habe, keiner Aufenthaltsgenehmigung bedurft. Die Ausreiseverfügung sei nicht bindend geworden. Wegen dieses Schwebezustandes sei es gerechtfertigt, den Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt auch nach Vollendung des 16. Lebensjahres als fortbestehend anzusehen.
Mit ihrer Revision rügt die Beklagte die Verletzung von § 2 Abs 5 Bundeskindergeldgesetz (BKGG) iVm § 30 Abs 3 Sozialgesetzbuch – Erstes Buch – (SGB I). F. gehöre nicht zum Personenkreis der Sonderregelung nach § 2 Abs 2 Nr 2 der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes (AuslGDV) vom 18. Dezember 1990 (BGBl I 2983), da die dort genannte Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien (SFRJ) nicht mehr existiere und eine Anwendung auf die Nachfolgestaaten nicht in Betracht komme. Auch bedeute die Befreiung von der formellen Genehmigungspflicht kein materielles Aufenthaltsrecht. Nach § 30 Abs 3 SGB I könne ein Kind einen gewöhnlichen Aufenthalt nur dann begründen, wenn die Umstände erkennen ließen, daß es an diesem Ort nicht nur vorübergehend verweile. Bei einer bloßen Duldung könne von einem dauerhaften Aufenthalt nicht ausgegangen werden. Das LSG habe insoweit die Tatbestandswirkung ausländerbehördlicher Entscheidungen verkannt.
Die Beklagte beantragt,
die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 10. August 1995 sowie des Sozialgerichts Speyer vom 5. Oktober 1994 abzuändern und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist begründet. Dem Kläger steht kein Anspruch auf Kg zu, weil F. im streitigen Zeitraum keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Bundesgebiet mehr hatte.
Nach § 1 Abs 1 Satz 1 Nr 1 iVm Abs 3 Satz 1 BKGG in der für den streitigen Zeitraum ab 1. Januar 1994 maßgeblichen Fassung des Ersten Gesetzes zur Umsetzung des Spar-, Konsolidierungs- und Wachstumsprogrammes (1. SKWPG) vom 21. Dezember 1993 (BGBl I 2353) hat ein Ausländer Anspruch auf Kg, wenn er selbst im Geltungsbereich des BKGG einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat und im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis ist. Diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger. Nach § 2 Abs 5 Satz 1 BKGG werden Kinder, die weder einen Wohnsitz noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Geltungsbereich des BKGG haben, nicht berücksichtigt. Mit der Annahme, F. habe seinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland gehabt, weil er sich bis zum 16. Lebensjahr ohne förmliche Aufenthaltsgenehmigung hier habe aufhalten dürfen und gegen die ausgesprochene Ausreiseverfügung einen Rechtsbehelf eingelegt habe, hat das LSG die Rechtswirkung der Ausreiseverfügung nicht ausreichend gewürdigt. Mit der Ausweisung wurde der weitere Aufenthalt von F. im Bundesgebiet rechtswidrig; er war dadurch zur Ausreise verpflichtet. Die aufschiebende Wirkung des eingelegten Widerspruchs hat daran ebensowenig geändert wie die Duldung des weiteren Aufenthalts. Ein rechtswidriger Aufenthalt kann aber keine Grundlage für die Gewährung staatlicher Sozialleistungen wie Kg sein und deshalb nicht zur Annahme eines Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes im Inland führen (BSGE 65, 261, 263 = SozR 7833 § 1 Nr 7 zum Erziehungsgeld; BSG SozR 3-6710 Art 1 Nr 1; SozR 3-2600 § 56 Nr 7 zur Anerkennung von Kindererziehungszeiten).
Das LSG ist allerdings zutreffend davon ausgegangen, daß jemand seinen gewöhnlichen Aufenthalt dort hat, wo er sich unter Umständen aufhält, die erkennen lassen, daß er an diesem Ort oder in diesem Gebiet nicht nur vorübergehend verweilt (§ 30 Abs 3 Satz 2 SGB I). Diese Legaldefinition gilt für alle Sozialleistungsbereiche des SGB, soweit sich nicht aus seinen besonderen Teilen etwas anderes ergibt (§ 37 Satz 1 SGB I). Die im Gesetz vorgesehene Möglichkeit, abweichende Regelungen zu treffen, schließt nicht aus, daß auch aus dem besonderen Regelungszusammenhang der gesetzlichen Bestimmungen folgen kann, daß der allgemeine Begriff des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthaltes durch ungeschriebene Merkmale eingeschränkt werden muß. Infolgedessen hat das Bundessozialgericht (BSG) die Frage, wann ein Ausländer seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, ungeachtet der allgemeinen Definition des gewöhnlichen Aufenthalts in § 30 Abs 3 SGB I, für den Bereich verschiedener Sozialgesetze zwar unterschiedlich beantwortet (BSGE 57, 93 = SozR 2200 § 205 Nr 56 und Urteil vom 30. April 1997 – 12 RK 30/96 – für den Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung; BSGE 53, 294 = SozR 5870 § 1 Nr 10 und Nr 14 für das Kg; BSGE 67, 243 = SozR 3-7833 § 1 Nr 2 für das Erziehungsgeld), jedoch stets verlangt, daß es sich um einen rechtmäßigen Aufenthalt handeln muß. Als Voraussetzung für einen Anspruch auf Kg haben Ausländer danach nicht bereits dann einen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland, wenn sie sich faktisch mit dem Willen zum dauernden Verbleiben auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland aufhalten, sondern erst dann, wenn ihr Aufenthalt im Inland auch ausländerrechtlich gestattet ist. Auch Asylbewerbern ist zur Durchführung des Asylverfahrens der Aufenthalt im Bundesgebiet gestattet (Aufenthaltsgestattung – § 55 Asylverfahrensgesetz ≪AsylVfG≫). Bei diesen war in der Vergangenheit allerdings häufig zweifelhaft, ob der erlaubte Aufenthalt nur vorübergehend oder angesichts der Praxis der Ausländerbehörden, auch abgelehnte Asylbewerber nicht abzuschieben, dauerhaft war. Dies war nach der bis zum 31. Dezember 1990 geltenden Fassung des § 1 BKGG von den Kg-Behörden und den Tatsachengerichten im Wege einer vorausschauenden Betrachtung zu entscheiden (BSGE 72, 8 = SozR 3-5870 § 1 Nr 2; BSGE 65, 84 = SozR 1200 § 30 Nr 17; BSGE 63, 47 = SozR 5870 § 1 Nr 14). Nach den verschiedenen Änderungen des BKGG durch das Gesetz zur Neuregelung des Ausländerrechts vom 9. Juli 1990 (BGBl I 1354) und durch das 1. SKWPG sind die mit einer Prognose verbundenen Schwierigkeiten und Unsicherheiten in der Weise behoben worden, daß der Ausländer nunmehr im Besitz einer Aufenthaltsberechtigung oder Aufenthaltserlaubnis sein muß, also selbst ein rechtmäßiger Aufenthalt auf der Grundlage einer Aufenthaltsbewilligung (§ 28 Ausländergesetz ≪AuslG≫), einer Aufenthaltsbefugnis (§ 30 AuslG) oder einer Aufenthaltsgestattung (§ 55 AsylVfG) nicht mehr ausreicht.
Das Erfordernis eines besonderen Aufenthaltstitels ist allerdings nicht auch auf das Aufenthaltsrecht des Kindes eines Ausländers erstreckt worden. Hier gilt nach wie vor, daß das Kind lediglich einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland haben muß. Daraus kann aber nicht geschlossen werden, daß es allein auf den faktischen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt des Kindes, ohne Rücksicht auf sein Aufenthaltsrecht, ankommt. Daß bei Kindern anläßlich der Gesetzesänderungen von dem Erfordernis eines bestimmten Aufenthaltstitels abgesehen worden ist, läßt sich damit erklären, daß nach § 2 Abs 2 AuslGDV bis zum 15. Januar 1997 die Einreise und der Aufenthalt von Staatsbürgern unter 16 Jahren aus Bosnien und Herzegowina, der Bundesrepublik Jugoslawien, Kroatien, Marokko, Mazedonien, Slowenien, der Türkei und Tunesien keiner Genehmigung bedurften. Diese Befreiung wurde durch Verordnung des Bundesministeriums des Innern vom 11. Januar 1997 (BGBl I 4) mit Wirkung vom 15. Januar 1997 aufgehoben; mit Wirkung vom 10. April 1997 ist nach Bestätigung der befristeten Verordnung durch den Bundesrat eine entsprechende Anschlußverordnung vom 2. April 1997 (BGBl I 751) mit unbefristeter Geltungsdauer in Kraft getreten. Das früher bestehende Recht von Jugendlichen unter 16 Jahren aus den sog Anwerbestaaten, ohne förmliche Aufenthaltsgenehmigung einzureisen und sich in Deutschland aufzuhalten, besagte nicht, daß diese damit auch ein dauerhaftes materielles Aufenthaltsrecht hatten. Ob dies der Fall und damit ein Wohnsitz oder gewöhnlicher Aufenthalt im Inland zu bejahen war, war vielmehr unter Anwendung des Ausländerrechts festzustellen. Soweit ausländerbehördliche Entscheidungen getroffen worden waren, waren auch hier die von ihnen ausgehenden Auswirkungen auf den Aufenthaltsstatus zu beachten.
Mit der Annahme, F. habe sich im streitigen Zeitraum rechtmäßig in Deutschland aufgehalten, hat das LSG die Rechtswirkung der Ausreiseverfügung der Ausländerbehörde vom 25. November 1991 verkannt. Damit wurde F. ausreisepflichtig und sein weiterer Aufenthalt rechtswidrig. Der von ihm eingelegte Widerspruch hatte nach § 72 Abs 2 Satz 1 AuslG lediglich die Wirkung, daß die Abschiebung, also die Vollstreckung der Ausweisung, einstweilen unterblieb; die Wirksamkeit der Ausweisung, die die Rechtmäßigkeit des Aufenthaltes beendete, blieb davon unberührt. Auch die Duldung, die F. für seinen weiteren Aufenthalt erteilt wurde, machte diesen Aufenthalt nicht wieder zu einem rechtmäßigen; seine Ausreisepflicht blieb bestehen (§ 56 Abs 1 AuslG). Infolge der ausdrücklichen Anordnung des Gesetzes, daß der Aufenthalt eines ausgewiesenen Ausländers auch dann rechtswidrig ist, wenn er einen Rechtsbehelf gegen die Ausweisung eingelegt hat, bedarf es keiner weiteren Überlegung dazu, ob die Ausweisungsverfügung zu Recht ergangen ist. Schwerwiegende Fehler, die ihre Nichtigkeit zur Folge haben könnten (§ 44 Verwaltungsverfahrensgesetz), sind nicht erkennbar.
Allerdings tritt nach § 72 Abs 2 Satz 2 AuslG die Unterbrechung der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts nicht ein, wenn der Verwaltungsakt durch eine behördliche oder unanfechtbare gerichtliche Entscheidung aufgehoben wird. Danach ist nicht auszuschließen, daß der Aufenthalt von F. nachträglich als rechtmäßig anzusehen ist, falls er mit seinem Rechtsbehelf gegen die Ausweisung Erfolg hat. Das ist aber kein Grund, den Ausgang jenes Verfahrens abzuwarten und den anhängigen Rechtsstreit gemäß § 114 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz (SGG) auszusetzen. Denn der Rechtsstreit ist entscheidungsreif, und der Kläger wird für den Fall, daß das Aufenthaltsrecht des Kindes nachträglich bestätigt wird, durch eine Entscheidung des Rechtsstreits zum jetzigen Zeitpunkt nicht endgültig von einem Kg-Anspruch ausgeschlossen. Nach § 44 Abs 1 Sozialgesetzbuch – Zehntes Buch – hat er dann das Recht, nachträglich geltend zu machen, daß die Verwaltung von einem Sachverhalt ausgegangen ist, der sich als unrichtig erwiesen hat, und hat auf diese Weise die Möglichkeit, die Aufhebung des bestandskräftigen Verwaltungsaktes und die Nachzahlung der vorenthaltenen Leistungen zu erreichen.
Die Kostenentscheidung entspricht § 193 SGG.
Fundstellen
SozR 3-5870 § 2, Nr.39 |
SozSi 1998, 280 |