Entscheidungsstichwort (Thema)
Verletzung der Sachaufklärungspflicht. Einholung ärztlicher Gutachten. Ausschöpfen der möglichen medizinischen Diagnostik. ausländisches medizinisches Gutachten
Orientierungssatz
Das Gericht verletzt seine Aufklärungspflicht, wenn es ausländische medizinische Gutachten (hier aus Polen), die von deutschen ärztlichen Sachverständigen lediglich ausgewertet worden sind, zur Grundlage seiner Entscheidung macht, ohne zuvor versucht zu haben, den Kläger in der Bundesrepublik Deutschland untersuchen zu lassen und ein dem hier üblichen Standard entsprechendes medizinisches Gutachten einzuholen. Dies gilt jedenfalls, seitdem es für polnische Staatsbürger grundsätzlich möglich ist, für solche Zwecke nach Deutschland einzureisen.
Normenkette
SGG § 103 S. 1, § 160 Abs. 2 Nr. 3
Verfahrensgang
SG Stuttgart (Entscheidung vom 15.09.1988; Aktenzeichen S 11 V 2304/87) |
LSG Baden-Württemberg (Entscheidung vom 13.12.1989; Aktenzeichen L 8 V 500/89) |
Tatbestand
Der in Polen lebende Kläger deutscher Volkszugehörigkeit wurde am 7. Februar 1945 in T. -G. als Kind beim Spielen mit anderen Kindern durch eine aufgefundene Handgranate verletzt. Mit seinem im Jahre 1983 gestellten Versorgungsantrag machte er als Schädigungsfolgen Gesundheitsstörungen im Bereich der rechten Schulter sowie eine beidseitige Schwerhörigkeit geltend. Die Versorgungsverwaltung erkannte nach Einholung ärztlicher Gutachten aus Polen Splitternarben an der rechten Schulter mit geringer Bewegungseinschränkung der Schulter als Schädigungsfolgen an, lehnte dagegen die Anerkennung des Gehörleidens als Schädigungsfolge sowie die Zahlung einer Rente ab (Bescheid vom 13. Januar 1986). Klage und Berufung, mit denen der Kläger sein Begehren auf Anerkennung des Gehörleidens als Schädigungsfolge und Gewährung einer Rente weiterverfolgte, blieben erfolglos (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ vom 15. September 1988; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 13. Dezember 1989). Das LSG hat sich auf die im Verwaltungsverfahren und Gerichtsverfahren eingeholten polnischen Behandlungsunterlagen, die aufgrund der Aktenlage abgegebenen versorgungsärztlichen Stellungnahmen und auf das in erster Instanz ebenfalls nach Aktenlage erstattete Gutachten von Dr. D. (D.) gestützt und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß nicht festgestellt werden könne, ob es durch die Handgranatenexplosion auch zu einer Gehörschädigung gekommen sei, deren Folge die jetzt beim Kläger vorhandene beidseitige Schwerhörigkeit sei. Nach der Explosion sei lediglich eine Behandlung wegen der Schulterverletzung bescheinigt, hingegen werde erstmals im Jahre 1952 eine chronische Mittelohrentzündung dokumentiert, auf deren Basis sich die Schwerhörigkeit des Klägers entwickelt habe. Ohne Feststellung einer Trommelfellverletzung im unmittelbaren Anschluß an die Explosion könne die spätere Mittelohrentzündung nicht als Folge der Handgranatenexplosion angesehen werden.
Dagegen richtet sich die vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene Revision des Klägers, mit der er eine unzureichende Aufklärung des medizinischen Sachverhalts rügt.
Der Kläger beantragt,
unter Änderung der angefochtenen Urteile und Aufhebung des angefochtenen Bescheides den Beklagten zu verurteilen, eine beidseitige Hörstörung als weitere Schädigungsfolge anzuerkennen und Rente ab 1. Mai 1983 zu gewähren,
hilfsweise, unter Aufhebung des Urteils des LSG den Rechtsstreit zu erneuter Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält den Sachverhalt für hinreichend geklärt und das Begehren auf Feststellung weiterer Schädigungsfolgen und Gewährung einer Rente für unbegründet.
Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.
Entscheidungsgründe
Die Revision ist im Sinne einer Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an die Vorinstanz begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Der Kläger rügt zu Recht als Verfahrensfehler, daß das LSG seiner Verpflichtung zur Aufklärung des Sachverhalts nicht genügt hat (§ 103 SGG). Auf der Grundlage des bisherigen Beweisergebnisses durfte die Anerkennung des Gehörleidens als Schädigungsfolge nicht versagt werden.
Das LSG hat nicht alle nach dem heutigen Stand der medizinischen Wissenschaft zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel ausgewertet, um die Frage zu klären, ob das jetzt beim Kläger vorhandene Gehörleiden durch die Explosion der Handgranate im Jahre 1945 verursacht worden ist (vgl dazu Feldmann, Das Gutachten des Hals-, Nasen- Ohrenarztes, 2. Aufl 1984, S 118 f). Insbesondere sind die bisher eingeholten polnischen ärztlichen Gutachten, die von deutschen ärztlichen Sachverständigen ohne eigene Befunderhebung lediglich ausgewertet worden sind, für eine abschließende Beurteilung des Ursachenzusammenhanges nicht ausreichend. Es fehlt bereits an einer sorgfältigen Befunderhebung und genauen Beschreibung des Gehörleidens. Die durchgeführten Untersuchungen entsprechen nicht annähernd den modernen apparativen Möglichkeiten ärztlicher Diagnostik. Es ist nicht ausgeschlossen, daß sich durch eine eingehendere ärztliche Diagnostik, insbesondere durch Röntgenuntersuchungen und durch audiometrische Messungen, weitere Hinweise auf die Ursache des Leidens ergeben könnten. Neben der unzureichenden Diagnostik fehlt es bislang aber auch an einer sorgfältigen Anamnese insbesondere darüber, wann erstmalig über Hörstörungen geklagt worden ist. Dies ist, wie der vom SG gehörte Sachverständige Dr. D. ausgeführt hat, für die Beurteilung des Zusammenhangs von besonderer Bedeutung. Das LSG durfte deshalb seine Entscheidung nicht auf die unzureichenden polnischen Gutachten stützen, ohne zuvor versucht zu haben, den Kläger in der Bundesrepublik Deutschland untersuchen zu lassen und ein dem hier üblichen Standard entsprechendes medizinisches Gutachten einzuholen. Dies gilt jedenfalls, seitdem es für polnische Staatsbürger grundsätzlich möglich ist, für solche Zwecke nach Deutschland einzureisen.
Das LSG wird deshalb die weitere medizinische Sachaufklärung nachzuholen haben. Sofern danach noch Unklarheiten bestehen, könnte sich die Frage stellen, inwieweit auch die Angaben des Klägers als Beweismittel zu verwerten sind (§ 15 des Gesetzes über das Verwaltungsverfahren der Kriegsopferversorgung).
Das LSG wird auch abschließend erneut über die Kosten zu entscheiden haben.
Fundstellen