Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 27. September 1995 abgeändert. Die Berufung des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Itzehoe vom 13. September 1994 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Beklagte den beim Kläger anerkannten Grad der Behinderung (GdB) wegen Heilungsbewährung nach Herzinfarkt herabsetzen durfte.
Nachdem der Kläger im Februar 1987 einen Herzinfarkt erlitten hatte, stellte der Beklagte mit Bescheid vom 18. August 1987 – zusätzlich zu schon früher als Behinderungen mit einem GdB von 30 festgestellten Gesundheitsstörungen – eine „coronare Mangeldurchblutung nach Herzinfarkt” fest und erhöhte den GdB auf 60. Dabei ging er für die neu anerkannte Behinderung von einem Einzel-GdB von 50 aus. Aufgrund von Befundberichten der behandelnden Ärzte überprüfte er in den Jahren 1988 und 1989 den Gesundheitszustand des Klägers. Mit Schreiben vom 13. Juli 1988 und 24. Oktober 1989 teilte er mit, daß „nach dem Ergebnis der von Amts wegen durchgeführten Überprüfung … keine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen eingetreten” sei, weshalb es bei der bisherigen Feststellung verbleibe. Mit Bescheid vom 6. April 1992 stellte der Beklagte nach Anhörung des Klägers statt der 1987 neu festgestellten Behinderung nur noch eine „coronare Eingefäßkrankheit nach Herzinfarkt” fest, legte dafür einen Einzel-GdB von 10 zugrunde und setzte den Gesamt-GdB wegen Heilungsbewährung nach Herzinfarkt von 60 auf 30 herab. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 29. April 1993), ebenso die Klage zum Sozialgericht (SG) Itzehoe (Gerichtsbescheid vom 13. September 1994). Das SG hatte dabei den seit April 1992 bestehenden Gesamt-GdB aufgrund einer ausführlichen kardiologisch-internistischen Begutachtung überprüft und ebenso hoch festgestellt wie der Beklagte.
Auf die Berufung des Klägers hob das Landessozialgericht (LSG) den Gerichtsbescheid des SG und die Bescheide des Beklagten auf. Zur Begründung führte es aus: Es sei keine wesentliche Änderung iS von § 48 Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren (SGB X) eingetreten. Der Kläger sei bereits im April 1987 wieder arbeitsfähig gewesen und habe nach dem Herzinfarkt keiner längeren Schonungszeit als drei Monate bedurft. Zwar bewerteten die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP) 1983 (Nr 26.9 auf S 67) den Zustand nach Herzinfarkt für ein Jahr mit einer MdE um 50 vH. Dies sei nach heutigen medizinischen Erkenntnissen jedoch nicht gerechtfertigt. Nach Meinung aller nunmehr mit der generellen Überarbeitung der AHP befaßten medizinischen Sachverständigen sei es heute nicht mehr angezeigt, nach einem Herzinfarkt eine Heilungsbewährung abzuwarten. Daher sei eine wesentliche Änderung in den gesundheitlichen Verhältnissen des Klägers in der Zeit vom August 1987 bis April 1993, die den Beklagten zur Aufhebung seines Bescheides vom 18. August 1987 hätte berechtigen können, nicht feststellbar.
Mit der – vom LSG zugelassenen – Revision rügt der Beklagte eine Verletzung des § 48 SGB X. Entgegen der Meinung des LSG sei eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten. Das ergebe sich aus Nr 26.9 der AHP 1983. Den AHPn komme eine rechtsnormähnliche Qualität zu. Für die Zeitdauer ihrer Geltung seien sie verbindlicher Bewertungsmaßstab. Änderungen der wissenschaftlichen Erkenntnisse führten nicht automatisch zu Änderungen der AHP. Selbst wenn der Bescheid vom 18. August 1987 in der irrigen Annahme erlassen worden wäre, daß nach dem Herzinfarkt eine einjährige Heilungsbewährung abzuwarten sei, wäre eine zu beachtende Änderung der tatsächlichen Verhältnisse eingetreten, weil sich zumindest die von ihm, dem Beklagten, für wesentlich gehaltenen und seinen Bescheiden zugrunde gelegten tatsächlichen Verhältnisse geändert hätten.
Er beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 27. September 1995 aufzuheben und die Berufung zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 27. September 1995 zurückzuweisen.
Er hält das Urteil des LSG für richtig. Im übrigen habe der Beklagte durch seine Schreiben vom 13. Juli 1988 und 24. Oktober 1989, die beide nach Ablauf der Jahresfrist nach dem Herzinfarkt abgefaßt worden seien, einen Vertrauenstatbestand geschaffen, der aus Gründen der Rechtssicherheit einer Aufhebung des Bescheides vom 1. August 1987 unter dem Gesichtspunkt der Heilungsbewährung entgegenstehe.
Beide Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision des Beklagten ist begründet.
Mit dem Bescheid vom 6. April 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 29. April 1993 hat der Beklagte seinen Bescheid vom 18. August 1987 – einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung – teilweise zu Lasten des Klägers aufgehoben. Die dagegen gerichtete Klage ist eine reine Anfechtungsklage (§ 54 Abs 1 SGG), deren Begründetheit sich nach dem Sach- und Streitstand zur Zeit des Abschlusses des Verwaltungsverfahrens beurteilt (Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl, RdNr 32 zu § 54). Zu dem sonach maßgeblichen Zeitpunkt der Zustellung des Widerspruchsbescheides vom 29. April 1993 war der Beklagte – entgegen der Meinung des LSG – zur Aufhebung berechtigt und verpflichtet (befugt). Denn es war eine wesentliche Änderung der Verhältnisse eingetreten (§ 48 Abs 1 Satz 1 SGB X).
Seinerzeit galten noch die AHP 1983. Die AHP stellen einerseits antizipierte Sachverständigengutachten dar. Andererseits wirken sie sich rechtsnormähnlich aus, wie der Senat wiederholt entschieden hat (vgl dazu BSGE 72, 285, 286 ff = SozR 3-3870 § 4 Nr 6 und SozR 3870 § 4 Nr 3 S 13 ff). Sie bilden ein geschlossenes Beurteilungsgefüge, dessen Kontrolle durch die Sozialgerichte sich auf die Vereinbarkeit mit höherem Recht und mit dem Gleichbehandlungsgebot beschränkt (Urteil des Senats BSGE aaO S 287). Zusätzlich hat der Senat eine Überprüfung daraufhin zugelassen, ob die AHP noch dem gegenwärtigen Kenntnisstand der sozialmedizinischen Wissenschaft entsprechen (BSGE 75, 176, 178 = SozR 3-3870 § 3 Nr 5). Ist dies nicht mehr der Fall, so wird dadurch eine vor der Änderung des medizinischen Kenntnisstandes erfolgte und nur dem früheren Kenntnisstand entsprechende Bewertung des GdB und sonstiger Auswirkungen einer Behinderung jedoch nicht fehlerhaft (vgl SozR 3870 § 4 Nr 3). Es kann hier offenbleiben, welche Auswirkungen der Fortschritt des medizinischen Kenntnisstandes auf die „Anhaltspunkte” hat und ob diese dadurch – wegen ihres Charakters als antizipierte Sachverständigengutachten – ohne weiteres ihre rechtliche Wirkung verlieren oder ob sie – wie der Beklagte meint – wegen ihres rechtsnormähnlichen Charakters so lange fortgelten, bis sie nach demselben Verfahren, nach dem sie zustande gekommen sind, geändert worden sind. Denn hier wäre eine wesentliche Änderung in den Verhältnissen nach beiden Auffassungen eingetreten. Das würde jedenfalls dann gelten, wenn bis August 1987 die herrschende medizinische Lehrmeinung eine einjährige Schon- und Beobachtungszeit nach Herzinfarkt noch für angezeigt hielt. Dann wäre nämlich entweder Nr 26.9 (S 67) der AHP 1983 durch die spätere wissenschaftliche Entwicklung ohne weiteres unbeachtlich geworden, also eine Änderung der rechtlichen Verhältnisse eingetreten (vgl dazu BSGE 75, 176, 178 = SozR 3-3870 § 3 Nr 5). Oder – im Fall der Weitergeltung der inhaltlich überholten AHP 1983 – hätten sich die nach Nr 26.9 (S 67) der AHP 1983 maßgeblich gebliebenen tatsächlichen Verhältnisse geändert.
Lediglich in dem Fall, daß die Notwendigkeit einer einjährigen Schonungsphase nach Herzinfarkt bereits 1987 nicht mehr dem allgemeinen Stand der medizinischen Wissenschaft entsprach und sich dies auf die Verbindlichkeit der AHP 1983 ausgewirkt hätte, wäre der Bescheid vom 18. August 1987 möglicherweise von Anfang an rechtswidrig gewesen. Aber auch in diesem Falle wäre der Beklagte befugt gewesen, den Bescheid vom 18. August 1987 wegen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse nach § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X aufzuheben. Eine wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen liegt nämlich nicht nur in der Änderung von Umständen, welche die Rechtsordnung für den Erlaß des Verwaltungsaktes für maßgeblich erklärt hat, sondern auch schon in der Änderung solcher Umstände, welche die Verwaltung bei Erlaß des Dauerbescheides – wenn auch zu Unrecht – für rechtlich erheblich, dh wesentlich erachtet hat. Dies gilt zumindest, wenn das Verhalten der Verwaltung auf veröffentlichten Maßstäben – wie hier AHP 1983 – beruht hat, die für ein einheitliches Verwaltungshandeln herangezogen werden (vgl Urteil des Senats BSGE 67, 204, 210 ff = SozR 3-3870 § 4 Nr 1). Von den AHPn 1983 ist der Beklagte bei Erlaß des Bescheides vom 18. August 1987 ausgegangen. Daher durfte er auch, als die darin als wesentlich behandelten Umstände – Zurückliegen des Herzinfarkts um weniger als ein Jahr und dementsprechend Unterschreiten eines einjährigen Zeitraums der Heilungsbewährung – fortgefallen waren, den genannten Feststellungsbescheid wegen wesentlicher Änderungen der tatsächlichen Verhältnisse aufheben, selbst soweit Nr 26.9 der AHP 1983 schon 1987 wegen des inzwischen erreichten Standes der medizinischen Wissenschaft überholt und unverbindlich gewesen sein sollte. Es kann daher offenbleiben, ob dies der Fall war.
Allerdings war nach dem Gesagten der Beklagte bereits nach Ablauf eines Jahres nach dem Herzinfarkt, also bereits seit Februar 1988 zur Aufhebung befugt. Es ist aber unschädlich, daß der Beklagte von dieser Befugnis erst Jahre später Gebrauch gemacht hat. Der Senat hat in anderem Zusammenhang entschieden, daß eine Änderung der Verhältnisse sogar noch nach Ablauf von zehn Jahren zum Anlaß für eine Aufhebung eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung genommen werden kann (BSGE 72, 1 = SozR 3-1300 § 48 Nr 22).
Es gilt hier auch nicht deswegen etwas anderes, weil der Beklagte dem Kläger mit formlosen Schreiben vom 13. Juli 1988 und 24. Oktober 1989 mitgeteilt hat, es seien keine Änderungen in den gesundheitlichen Verhältnissen eingetreten. Allerdings hat der Senat in der bereits zitierten Entscheidung (BSGE 72, 1 = SozR 3-1300 § 48 Nr 22) erwogen, ob der Leistungsträger seine Befugnis zur Aufhebung eines Verwaltungsaktes nach den Grundsätzen von Treu und Glauben verwirken kann. Aber auch ein solcher Fall liegt hier nicht vor, weil eine erkennbare Bezugnahme des Beklagten auf das Verstreichen einer Phase der Heilungsbewährung und erst recht ein Hinweis darauf, daß er auch in Zukunft keine Folgerungen daraus ziehen wolle, fehlen. Zudem fehlt ein für die Verwirkung ausreichender Ablauf eines längeren Zeitraumes, während dessen der Kläger den Eindruck gewinnen konnte, der Beklagte sei sich zwar seiner Befugnis zur Aufhebung des alten Bescheides bewußt, wolle sie aber nicht geltend machen. Angesichts der Tatsache, daß die Herleitung von Gestaltungsrechten der Sozialbehörden aus einer Änderung der Verhältnisse jedenfalls für die Zukunft grundsätzlich zeitlich unbeschränkt zulässig ist (vgl BSGE 72, 1 = SozR 3-1300 § 48 Nr 22) ist für den Eintritt der Verwirkung der Aufhebungsbefugnis aus § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X jedenfalls eine erhebliche Zeitspanne nach Kenntnis des Änderungsgrundes zu fordern. Diese Zeitspanne müßte jedenfalls deutlich länger sein als die in § 48 Abs 4 Satz 1 iVm § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X geregelte Jahresfrist. Denn deren Versäumung zieht den Verlust der Aufhebungsbefugnis nur für die Vergangenheit nach sich, während es hier um die Verwirkung des Rechts zur Aufhebung für die Zukunft geht. Selbst wenn man in diesem Zusammenhang zur Gewinnung eines zeitlichen Maßstabes auf die gegen den Leistungsträger wegen dessen Ansprüchen gegen den Leistungsberechtigten laufenden kurzen Verjährungsfristen zurückgreifen wollte (zB auf die für die Rückforderung von Leistungen – § 50 Abs 4 SGB X – und die für die Erhebung von Beiträgen – § 25 Abs 1 Satz 1 Sozialgesetzbuch – Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung ≪SGB IV≫ – geltenden vierjährigen Verjährungsfristen), wäre hier noch keine für die Annahme einer Verwirkung ausreichende Zeitspanne verstrichen. Denn eine vierjährige Verjährung wäre erst mit Ablauf des Kalenderjahres 1992 eingetreten. Der Beklagte hat aber bereits im April 1992 von seiner Aufhebungsbefugnis nach § 48 SGB X Gebrauch gemacht.
Da nach den unangegriffenen Feststellungen der Vorinstanzen die beim Kläger zum maßgeblichen Zeitpunkt vorliegenden Behinderungen keinen höheren GdB als 30 mehr bedingten, ist das Urteil des LSG aufzuheben und die Vorentscheidung des SG wiederherzustellen.
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 193 SGG.
Fundstellen