Entscheidungsstichwort (Thema)
Rundfunkgebührenbefreiung. Nachteilsausgleich RF. Ausschluß vom Besuch öffentlicher Veranstaltungen. Mitwirkungspflicht des Behinderten zur Eingliederung. Zumutbarkeit der Änderung der Ernährung. Harninkontinenz. Tragen von Windelhosen
Leitsatz (amtlich)
1. Zum Nachteilsausgleich „RF” (Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht) bei Harninkontinenz.
2. Um an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen zu können, kann es Behinderten auch zumutbar sein, ihre Lebensgewohnheiten zu ändern. Das gilt jedenfalls dann, wenn die Umstellung nicht mit Beeinträchtigungen der Gesundheit oder sonstigen Nachteilen verbunden ist.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
SchwbG § 4 Abs. 1, 4-5, § 39 Abs. 1; SGB I §§ 11, 60; RdFunkGebBefrV SN § 1 Abs. 1 Nr. 3
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Sächsischen Landessozialgerichts vom 19. April 1995 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der 1938 geborene Kläger, von Beruf Chirurg, bezog seit 1985 in der DDR wegen der Folgen einer Erkrankung an einer progredienten Multiplen Sklerose eine Invalidenrente und war ab Juni 1989 als Schwerstbeschädigter mit Begleiter (Stufe IV) anerkannt. Mit Bescheid vom 28. Mai 1991 stellte das Versorgungsamt bei ihm als Behinderung „Encephalitis disseminata mit Paraspastik” mit einem Grad der Behinderung (GdB) von 100 sowie die Merkzeichen „B”, „G” und „aG” fest. Die gesundheitlichen Voraussetzungen für das weitere Merkzeichen „RF” wurden hingegen verneint. Der Widerspruch des Klägers blieb erfolglos (Widerspruchsbescheid vom 22. April 1993).
Das Sozialgericht Dresden (SG) hat auf die gegen die Bescheide der Beklagten erhobene Klage nach weiterer Sachaufklärung, insbesondere Anhörung des Klägers, den Beklagten durch Urteil vom 10. Juni 1994 unter Abänderung der angefochtenen Bescheide verurteilt, bei dem Kläger das Merkzeichen „RF” ab 1. Mai 1991 anzuerkennen. Bei dem Kläger liege eine Harninkontinenz als Folge der Erkrankung an Multipler Sklerose vor. Diese führe iVm erhöhtem krankheitsbedingtem Trinkbedarf des Klägers von täglich 2 bis 3 Litern zu einem wenigstens halbstündlichen und erheblichen, durch Benutzung von Windelhosen nicht ausgleichbaren Harnabgang mit Feuchtigkeitsaustritt und Geruchsbelästigung der Umgebung, so daß eine Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen weder für den Kläger selbst noch für andere Veranstaltungsteilnehmer zumutbar sei
Das Sächsische Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Beklagten mit Urteil vom 19. April 1995 zurückgewiesen und zur Begründung im einzelnen ausgeführt: Der Kläger erfülle die Voraussetzungen der Zuerkennung des Merkzeichens „RF”, denn er sei infolge der Auswirkungen der bei ihm festgestellten Funktionsstörungen der Blase und des Darms dauernd und umfassend von der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen ausgeschlossen. Die im Zusammenhang mit der MS-Erkrankung festgestellte Blaseninkontinenz habe, worauf das SG zutreffend hingewiesen habe, häufigen Harnabgang von erheblichem Umfang zur Folge, den der Kläger infolge eines hohen Flüssigkeitsbedarfs, wie er glaubwürdig versichert habe und durch die beigezogenen Befundberichte bestätigt werde, selbst nicht bemerken und kontrollieren könne. Deshalb sei davon auszugehen, daß sich die Blasenentleerungsstörung durch Benutzung von Windelhosen ohne erhebliche Störungen für den Kläger und für andere Veranstaltungsteilnehmer nicht ausgleichen lasse. Unter Berücksichtigung der den Kläger schwerwiegend beeinträchtigenden gesundheitlichen Verhältnisse sei es ihm nicht zuzumuten, den für sein subjektives Wohlergehen erforderlichen und gewohnten Lebensrhythmus, insbesondere die Nahrungsaufnahme (Flüssigkeitsaufnahme), ggf zum Zweck des Besuchs öffentlicher Veranstaltungen zu steuern. Darüber hinaus sei bei dem Kläger auch eine ärztlich festgestellte Darminkontinenz zu berücksichtigen. Zwar habe der Kläger diese im Verfahren vor dem SG selbst nicht geltend gemacht, aber im Berufungsverfahren auf eine Störung der Darmfunktion hingewiesen. Aus den Ausführungen des Klägers in der Stellungnahme vom 6. Januar 1995 ergebe sich zudem, daß er nicht vorrangig wegen der Auswirkungen der Harninkontinenz öffentliche Veranstaltungen nicht besuchen könne, sondern weil er sich wegen seiner Erkrankung dazu nicht in der Lage fühle.
Mit der vom Senat zugelassenen Revision macht der Beklagte geltend, das LSG habe ohne Sachverhaltsaufklärung und Erörterung, deshalb für ihn, den Beklagten, überraschend und verfahrensfehlerhaft, zur Begründung seiner Entscheidung zusätzlich auf eine unbeherrschbare Darminkontinenz des Klägers abgestellt, die offenbar überhaupt nicht vorliege, jedenfalls nicht durch Unterlagen belegt sei. Im übrigen könne die Harninkontinenz des Klägers zumutbar durch das Tragen von Windelhosen ausgeglichen werden; er habe schließlich auch an der mündlichen Verhandlung seines Rechtsstreits vor dem SG teilgenommen.
Der Beklagte beantragt,
die Urteile des LSG und des SG aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger hat sich zur Sache nicht geäußert.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten hat in dem Sinne Erfolg, daß das angefochtene Urteil aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das LSG zurückzuverweisen ist (§ 170 Abs 2 Satz 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫). Die Feststellungen des Berufungsgerichts reichen nicht aus, um abschließend darüber entscheiden zu können, ob der Kläger Anspruch auf Zuerkennung des Merkzeichens „RF” hat.
Nach § 4 Abs 1 Schwerbehindertengesetz (SchwbG) in der Fassung vom 26. August 1986 (BGBl I, 1421, ber. 1550) stellen die für die Durchführung des Bundesversorgungsgesetzes (BVG) zuständigen Behörden das Vorliegen einer Behinderung und den GdB fest. Sind neben dem Vorliegen der Behinderung weitere gesundheitliche Merkmale Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Nachteilsausgleichen, so treffen die für die Durchführung des BVG zuständigen Behörden ebenfalls die erforderlichen Feststellungen im Verfahren nach Abs 1 (§ 4 Abs 4 SchwbG). Werden die gesundheitlichen Voraussetzungen des Merkzeichens „RF” festgestellt, wird es im Schwerbehindertenausweis eingetragen (§ 4 Abs 5 SchwbG iVm § 3 Ausweisverordnung-SchwbG idF der Bekanntmachung vom 25. Juli 1991 – BGBl I, 1739). Diese Vorschriften gelten, abgesehen von hier nicht vorliegenden, im Einigungsvertrag vom 31. August 1990 (BGBl II 889) bestimmten Ausnahmen, nach Errichtung der Versorgungsverwaltung auch in den neuen Bundesländern, also auch für den in D. … wohnenden Kläger. Nach § 1 Abs 1 Nr 3 der Verordnung der Sächsischen Staatsregierung über die Voraussetzungen für die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht vom 6. Januar 1992 (Sächs GV-Blatt 1992, 16), der seine Ermächtigungsgrundlage in Art 4 § 6 Abs 1 Nr 1 des Staatsvertrags über den Rundfunk im vereinten Deutschland vom 21. April 1991 iV mit Art 1 des Gesetzes zum Staatsvertrag über den Rundfunk im vereinten Deutschland vom 19. Dezember 1991 (Sächs GV-Blatt 1991, 425) hat, werden auf Antrag von der Gebührenpflicht befreit: Behinderte, die nicht nur vorübergehend um wenigstens 80 vH in ihrer Erwerbsfähigkeit gemindert sind und wegen ihres Leidens an öffentlichen Veranstaltungen ständig nicht teilnehmen können.
Der Senat kann die Anwendung dieser landesrechtlichen Vorschrift überprüfen. § 162 SGG steht dem nicht entgegen; denn § 1 Abs 1 Nr 3 der genannten VO stimmt inhaltlich bewußt und gewollt mit den entsprechenden Vorschriften der anderen Bundesländer überein (st Rspr, vgl zB BSGE 53, 175, 176 = SozR 3870 § 3 Nr 15; BSGE 56, 45, 50 = SozR 2100 § 70 Nr 1; Bley in Peters/Sautter/Wolff, Komm zur Sozialgerichtsbarkeit 4. Aufl § 162 RdNr 30).
Nach der Rechtsprechung des Senats ist eine enge Auslegung von Gebührenbefreiungsvorschriften, also auch des § 1 Abs 1 Nr 3 SächsVO vom 6. Januar 1992, geboten (vgl BSG SozR 3870 § 3 Nr 24, 25; SozR 3-3870 § 48 Nr 2, zuletzt bestätigt mit nicht veröffentlichtem Urteil vom 9. August 1995 – 9 RVs 3/95). Danach wird dem Zweck der Befreiung von der Gebührenpflicht für den Rundfunk- und Fernsehempfang dann genügt, wenn der Schwerbehinderte wegen seiner Leiden ständig, dh allgemein und umfassend, vom Besuch von Zusammenkünften politischer, künstlerischer, wissenschaftlicher, kirchlicher, sportlicher, unterhaltender oder wirtschaftlicher Art ausgeschlossen ist. Das ist regelmäßig dann der Fall, wenn er praktisch an das Haus gebunden ist und allenfalls an einer nicht nennenswerten Zahl von Veranstaltungen teilnehmen kann (vgl BSGE 53, 175, 177 ff = SozR 3870 § 3 Nr 15; BSG SozR 3870 § 3 Nr 24 und SozR 3-3870 § 48 Nr 2).
Diese gesundheitlichen Voraussetzungen für eine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht liegen bei dem Kläger nicht bereits deshalb vor, weil der Beklagte ihm wegen außergewöhnlicher Gehbehinderung das Merkzeichen „aG” zuerkannt und bejaht hat, daß er auch ständiger Begleitung bedarf. Das LSG hat mit Recht erkannt, daß Schwerbehinderte vom öffentlichen Geschehen nicht ausgeschlossen sind, solange sie mit technischen Hilfsmitteln, zB ihrem Rollstuhl, oder der Hilfe einer Begleitperson jedenfalls eine Vielzahl öffentlicher Veranstaltungen aufsuchen können (vgl BSG SozR 3870 § 3 Nr 25).
Von der Teilnahme im angeführten Sinn ausgeschlossen ist jedoch auch der Behinderte, dem das Aufsuchen fast aller öffentlichen Veranstaltungen mit Rücksicht auf die Störung anderer Teilnehmer nicht zugemutet werden kann (BSG SozR 3870 § 3 Nr 24). Das ist immer dann der Fall, wenn es den anderen Teilnehmern an öffentlichen Veranstaltungen unzumutbar ist, Behinderte wegen Auswirkungen ihrer Behinderungen zu ertragen, insbesondere, wenn diese durch ihre Behinderungen auf ihre Umgebung unzumutbar abstoßend oder störend wirken, zB durch Entstellung, Geruchsbelästigung bei unzureichend verschließbarem Anus praeter, häufige hirnorganische Anfälle, grobe unwillkürliche Kopf- und Gliedmaßenbewegungen bei Spastikern, laute Atemgeräusche, wie sie etwa bei Asthmaanfällen und nach Tracheotomie vorkommen können, oder bei ekelerregenden oder ansteckenden Krankheiten (vgl BSG SozR 3-3870 § 48 Nr 2 sowie die Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz 1996 Nr 33 2c).
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) sind allerdings Behinderte, die an einer Harninkontinenz mit unwillkürlichem Harnabgang leiden, nicht allein aus diesem Grunde gehindert, an öffentlichen Veranstaltungen teilzunehmen. Denn ihnen ist zuzumuten, Windelhosen zu benutzen, die den Harn bis zu zwei Stunden ohne Geruchsbelästigung für andere Menschen aufnehmen. Dies verstößt weder gegen die Würde des Menschen (Art 1 Grundgesetz ≪GG≫) noch gegen den Sozialstaatsgrundsatz (Art 20 Abs 1 GG). Der Behinderte wird dadurch auch nicht zum Objekt des Staates gemacht oder einer Behandlung ausgesetzt, die seine Subjektqualität prinzipiell in Frage stellt (vgl Senatsurteile vom 11. September 1991 – 9a RVs 1/90 – und vom 9. August 1995 – 9 RVs 3/95 – beide unveröffentlicht).
Das LSG hat die Rechtslage verkannt und seiner Entscheidung keine ausreichenden Feststellungen zur Beurteilung der Rechtslage zugrunde gelegt. Insbesondere hat es ohne Auseinandersetzung mit der genannten Rechtsprechung des BSG angenommen, der Kläger sei infolge der Auswirkungen der bei ihm im Zusammenhang mit der MS-Erkrankung festgestellten Funktionsstörungen der Blase und des Darmes wegen der erheblichen Störungen für sich und andere Veranstaltungsteilnehmer zu einer Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen nicht in der Lage. An die vom LSG unter Hinweis auf die Entscheidungsgründe des SG dazu getroffenen Feststellungen, der Kläger leide unter einer dauernden Blaseninkontinenz, die zu Harnabgang „in erheblichem Umfang” führe und nicht durch das Tragen von Windelhosen zu beeinflussen sei, ist der Senat zwar mangels zulässiger und begründeter Revisionsrügen gebunden (§ 163 SGG). Dies gilt jedoch nicht für die vom LSG ebenfalls festgestellte Darminkontinenz, denn insoweit hat der Beklagte mit der Revision zutreffend gerügt, daß diese Feststellung unter Verletzung seines Anspruchs auf rechtliches Gehör (§ 62 SGG) zustande gekommen ist und die Entscheidungsgründe deshalb rechtsfehlerhaft sind. Denn der Entscheidung dürfen nur solche Tatsachen zugrunde gelegt werden, zu denen sich die Beteiligten äußern konnten (§ 128 Abs 2 SGG). Insbesondere darf ein Urteil nicht auf Gesichtspunkte gestützt werden, die zuvor nicht erörtert worden sind. Nach § 62 SGG muß jeder Beteiligte Gelegenheit haben, sich vor Erlaß der Entscheidung zum Prozeßstoff zu äußern. Überraschungsentscheidungen sind deshalb verboten (ständige Rechtsprechung, vgl die Hinweise bei Meyer-Ladewig, SGG, 5. Aufl 1993 § 62 RdNrn 2, 8 und § 128 RdNr 18). Das hat das LSG nicht beachtet. Aufgrund der in den Akten der Beklagten als „chronische Obstipation (Verstopfung) bezeichneten, vom Kläger angegebenen Störung der Darmfunktion und des Umstandes, daß das SG seiner Entscheidung diese Gesundheitsstörung nicht zugrunde gelegt hatte, mußte der Beklagte ohne einen Hinweis des LSG nicht damit rechnen, daß das LSG seine Entscheidung auch mit dem Vorliegen einer Darminkontinenz begründen werde. Insoweit stellt das Urteil des LSG eine Überraschungsentscheidung dar, zu deren tatsächlichen Grundlagen der Beklagte sich nicht äußern konnte. Wäre die Frage der Darminkontinenz nach eingehender Erörterung offen geblieben, hätte er nämlich, wie er vorgetragen hat, einen Beweisantrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens gestellt, und dies hätte zu dem Ergebnis geführt, daß bei dem Kläger keine Darminkontinenz vorliegt. Obgleich das angefochtene Urteil danach verfahrensfehlerhaft zustande gekommen ist und auch darauf beruhen kann, bedarf es keiner Entscheidung, ob es bereits deshalb aufzuheben und die Sache an das LSG zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG) ist. Denn die Notwendigkeit zur Zurückverweisung des Rechtsstreits ergibt sich jedenfalls aus den nachfolgend genannten Gründen:
Im Zusammenhang mit der Harninkontinenz hat das LSG ergänzend ausgeführt, dem Kläger könne eine Steuerung der Flüssigkeitsaufnahme vor dem eventuellen Besuch von öffentlichen Veranstaltungen nicht zugemutet werden. Dazu müßte er seinen gewohnten, zwangsweise eine große Regelmäßigkeit erfordernden Lebensrhythmus und die für sein Wohlergehen notwendige Regelung der Nahrungsaufnahme ändern. Diese Annahme beruht indes auf der rechtsfehlerhaften Anwendung des § 1 Abs 1 Nr 3 SächsVO. Denn an öffentlichen Veranstaltungen kann auch der Behinderte teilnehmen, der Hindernisse zumutbar abstellen kann, gleichgültig, ob sie behinderungsbedingt oder nicht behinderungsbedingt sind. Dies folgt aus den Grundsätzen über die Mitwirkungspflicht im Sozialleistungsrecht iVm den wesentlichen Zielen des SchwbG. Nach der Zielsetzung des SchwbG steht, wie der Senat an anderer Stelle bereits ausgeführt hat, die aktive Teilnahme am gesellschaftlichen Leben im Vordergrund. Die Behinderten sollen möglichst weitgehend in die Gesellschaft eingegliedert werden. Von den Nichtbehinderten wird um dieses vorrangigen Zieles Willen ein hohes Maß an Toleranz gefordert (vgl BSG SozR 3-3870 § 48 Nr 2). Dem entspricht es, wenn den Behinderten im Interesse ihrer Eingliederung ebenfalls eine aktive Mitwirkung abverlangt wird, soweit diese unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls zumutbar erscheint. So kann es beispielsweise erforderlich sein, daß der Behinderte seine Lebensgewohnheiten ändert. Das wird man etwa erwarten können, wenn die Umstellung nur vorübergehend erforderlich ist und/oder nicht mit Beeinträchtigungen der Gesundheit oder sonstigen erheblichen Nachteilen verbunden ist. Liegt es so, besteht kein anzuerkennendes Bedürfnis für die Ersetzung der vorrangigen persönlichen und unmittelbaren Teilnahme am Gemeinschaftsleben durch die finanziell erleichterte Benutzung von Rundfunk und Fernsehen (vgl BSGE 53, 175, 181 = SozR 3870 § 3 Nr 15; BSG SozR 3-3870 § 48 Nr 2).
Die Zumutbarkeit einer dementsprechenden Mitwirkung des Behinderten ergibt sich hier allerdings nicht aus der unmittelbaren Anwendung der Vorschriften über die Mitwirkungspflicht derjenigen, die Sozialleistungen (§ 11 Sozialgesetzbuch – Allgemeiner Teil ≪SGB I≫) beantragt haben (§§ 60 ff SGB I). Der Kläger begehrt nämlich keine Sozialleistungen iS des § 11 SGB I, sondern eine feststellende Tätigkeit der Versorgungsbehörden, hier die Feststellung der Voraussetzungen für das Merkzeichen „RF”. Für die daraufhin zu gewährende Leistung – die Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht – sind andere Institutionen zuständig (vgl BSG SozR 3-1300 § 44 Nr 3). Außerdem zielt die Mitwirkungspflicht in den Vorschriften der §§ 60 ff SGB I auf die Aufklärung des Sachverhalts, zB durch Angabe der für die begehrte Leistung erhebliche Tatsachen oder durch die Bezeichnung von Beweismitteln. Darum geht es hier jedoch nicht.
Auch aus § 39 Abs 1 SchwbG läßt sich die Pflicht des Behinderten, uU seine Lebensgewohnheiten zu ändern, um an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen zu können, nicht unmittelbar herleiten. Nach dieser Vorschrift kann die Hauptfürsorgestelle im Benehmen mit dem Landesarbeitsamt dem Schwerbehinderten, der einen zumutbaren Arbeitsplatz ohne berechtigten Grund zurückweist oder aufgibt oder sich ohne berechtigten Grund weigert, an einer berufsfördernden Maßnahme zur Rehabilitation teilzunehmen, oder sonst durch sein Verhalten seine Eingliederung in Arbeit und Beruf schuldhaft vereitelt, die Vorteile dieses Gesetzes zeitweilig entziehen. Auch darum geht es vorliegend ersichtlich nicht. Allerdings findet sich in §§ 63, 64 SGB I bereits der Grundgedanke der Verpflichtung zur Mitwirkung zwecks Abwendung des Bezugs von Sozialleistungen durch Teilnahme an Rehabilitationsmaßnahmen.
Solche und andere gesetzliche Vorschriften (zB § 254 Abs 2 Bürgerliches Gesetzbuch oder § 6 Versicherungsvertragsgesetz) enthalten jedoch zugleich eine Ausgestaltung eines allgemeinen Mitwirkungsgrundsatzes, der jedenfalls für das Sozialrechtsverhältnis, dh dem öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnis zwischen einem Sozialleistungsträger und einem Antragsteller oder Versicherten, anerkannt ist. Die Mitwirkungspflichten bestehen darin, daß Versicherungsträger und Antragsteller oder Versicherter alles in ihren Kräften Stehende und Zumutbare zu tun haben, um sich gegenseitig vor vermeidbaren, das Sozialrechtsverhältnis betreffenden Nachteilen oder Schäden zu bewahren (vgl BSGE 34, 124, 127; Seewald in Kasseler Komm vor §§ 38 bis 47 SGB I RdNr 1 ff, 9, 19, 64 f sowie K. Maier, Das unmittelbare Verhältnis zwischen Sozialleistungsträger und Sozialleistungsempfänger, Sozialrechtshandbuch, 2. Aufl 1996, 227ff, RdNrn 1 ff, 64 ff; sowie Heinrichs in Palandt, Bürgerliches Gesetzbuch, Komm, 56. Aufl 1997, § 254 RdNr 7, 32, 35f). Dieser, letztlich auf den auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben (vgl BSGE 13, 202, 204 = SozR Nr 8 zu § 1258 RVO aF; 17, 173, 175 = SozR Nr 33 zu § 165 RVO) zurückzuführende Grundsatz verbietet es auch im Schwerbehindertenrecht, bei einem Behinderten das Vorliegen der Voraussetzungen eines Nachteilsausgleichs zu bejahen, wenn er die dafür erforderlichen tatsächlichen Voraussetzungen durch zumutbare Gestaltung seiner Lebensverhältnisse vermeiden kann. Ob dies der Fall ist, ist nicht etwa nur eine Frage normativer juristischer Wertung, sondern auch eine im Einzelfall zu beantwortende „Tatfrage”. Deshalb obliegt es dem Tatsachengericht, gegebenenfalls mit Hilfe medizinischer Sachverständiger, die erforderlichen Tatsachen festzustellen, um (rechtlich) beurteilen zu können, ob dem Behinderten – auch unter Berücksichtigung der bei ihm vorliegenden Gesundheitsstörungen – eine Änderung seiner Lebensgewohnheiten, zB des Zeitpunkts und des Umfangs der Flüssigkeitsaufnahme, zugemutet werden kann (vgl Winckler, MedSach 1996, 120, 121).
Da für die Beurteilung dieser Frage die bisherigen Feststellungen nicht ausreichen, wird das LSG noch zu klären haben, ob dem Kläger ohne Beeinträchtigung für seine Gesundheit vor der Teilnahme an öffentlichen Veranstaltungen eine Reduzierung der Flüssigkeitsaufnahme zugemutet werden kann, die ihm jedenfalls den Besuch von zweistündigen, und damit einer Vielzahl von öffentlichen Veranstaltungen mit Hilfe von Windelhosen ermöglicht. In diesem Zusammenhang wird ausdrücklich auf die Urteile des Senats vom 9. August 1995 – 9 RVs 3/95 – und 11. September 1991 – 9a RVs 1/90 – hingewiesen.
Ob möglicherweise eine Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht auch aufgrund des § 6 Sächsische Verordnung vom 6. Januar 1992 in Betracht kommt, wird das LSG ggf ebenfalls prüfen müssen.
Fundstellen
SozR 3-3870 § 4, Nr.17 |
SozSi 1998, 79 |