Entscheidungsstichwort (Thema)
Herabsetzung des GdB. Ablauf der Heilungsbewährung. Herzinfarkt. Anhaltspunkte 1983. wesentliche Änderung der Verhältnisse
Leitsatz (amtlich)
Eine wesentliche Änderung der Verhältnisse iS des § 48 Abs 1 SGB 10 liegt auch dann vor, wenn sich die Behörde bei Erlaß eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung nach veröffentlichten aber fehlerhaften Maßstäben gerichtet hat, die ein einheitliches Verwaltungshandeln sicherstellen sollen (hier: Anhaltspunkte 1983), und sich nachträglich ein Umstand ändert, der nach diesen Maßstäben für die Entscheidung der Verwaltung maßgebend war.
Stand: 24. Oktober 2002
Normenkette
SchwbG § 3 Abs. 1 S. 1, § 4; SGB X § 48 Abs. 1 S. 1
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 6. Dezember 1995 aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 29. März 1995 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in sämtlichen Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Der Kläger erlitt im August 1992 einen Herzinfarkt, den der Beklagte als Behinderung mit einem Grad (GdB) von 50 feststellte (Bescheid vom 26. Februar 1993). Gut ein Jahr später bezeichnete der Beklagte nach Anhörung des Klägers die Behinderung mit „Herzleistungsminderung nach Infarkt bei Durchblutungsstörungen der Herzkranzgefäße” und setzte den GdB wegen ausreichender Heilungsbewährung auf 30 herab (Bescheid vom 7. April 1994; Widerspruchsbescheid vom 1. August 1994).
Das Sozialgericht (SG) hat den Beklagten verurteilt, den GdB mit 40 festzustellen (Urteil vom 29. März 1995). Auf die Berufung des Klägers hat das Landessozialgericht (LSG) die angefochtenen Bescheide vollen Umfangs aufgehoben (Urteil vom 6. Dezember 1995). Für eine Herabsetzung des GdB fehle es an der nach § 48 Abs 1 Sozialgesetzbuch Zehntes Buch (SGB X) erforderlichen Änderung tatsächlicher oder rechtlicher Verhältnisse. Der Gesundheitszustand des Klägers habe sich in der Zeit nach Anerkennung als Schwerbehinderter bis zum Abschluß des Verwaltungsverfahrens wegen Herabsetzung des GdB durch den Widerspruchsbescheid vom 1. August 1994 nicht geändert. Eine zeitlich begrenzte Höherbewertung des GdB wegen abzuwartender Heilungsbewährung sei medizinisch nicht gerechtfertigt. Ihr Ablauf stelle deshalb keine Änderung tatsächlicher Verhältnisse dar.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 6. Dezember 1995 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 29. März 1995 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält die Entscheidung des LSG für richtig.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Beklagten ist begründet. Der Beklagte hat den GdB nach Ablauf der Heilungsbewährung zu Recht herabgesetzt.
Wie das LSG unangegriffen und deshalb für das Revisionsgericht bindend festgestellt hat, hatte der Herzinfarkt weder bei Erlaß des Erstbescheides im Februar 1993 noch bei Erlaß des Widerspruchsbescheides im August 1994 eine Behinderung des Klägers zur Folge. Der GdB betrug deshalb Null. Gleichwohl soll es dem Beklagten nach Auffassung des LSG verwehrt gewesen sein, den im Februar 1993 zuerkannten GdB von 50 zu entziehen oder auch nur herabzusetzen, weil der GdB schon damals Null betragen habe, so daß es an der für eine Aufhebung des begünstigenden Verwaltungsaktes nach § 48 Abs 1 SGB X erforderlichen Änderung tatsächlicher oder rechtlicher Verhältnisse fehle.
Diese Auffassung des LSG wäre nur richtig, wenn § 48 Abs 1 SGB X die Änderung solcher Tatsachen voraussetzte, auf die der begünstigende Verwaltungsakt zu Recht gestützt worden ist. Das ist indes nicht der Fall. Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, daß § 48 Abs 1 SGB X auch dann anzuwenden ist, wenn sich nachträglich Tatsachen ändern, auf die der Bewilligungsbescheid zu Unrecht gestützt worden ist, die also die Behörde zu Unrecht für maßgebend gehalten hat. Liegt ein solcher Fall vor und beruht die Entscheidung der Verwaltung auf – veröffentlichten – Maßstäben, die für das einheitliche Verwaltungshandeln herangezogen werden, ist auch eine solche Tatsache für die Bewilligung der Dauerleistung oder für eine Statusfeststellung im Rechtssinn wesentlich; denn auch der fehlerhafte Maßstab steuert iS der Gleichbehandlung die Verwaltungspraxis. Der Wegfall von Tatsachen, die nach dem fehlerhaften Maßstab wesentlich sind und deren Bedeutung für die Entscheidung in einem objektiven Sinn „erkennbar” ist, bewirkt eine wesentliche Änderung iS von § 48 Abs 1 SGB X (BSGE 67, 204, 210 f = SozR 3-3870 § 4 Nr 1 und – zuletzt – Urteil vom 12. November 1996 – 9 RVs 18/94 –, unveröffentlicht). Zu diesem Ergebnis kommt auch die Literatur (Gagel, SGb 1990, 252, 253; Steinwedel in KassKomm, Stand 1995, § 48 SGB X Rz 31; Schneider-Danwitz in GesamtKomm, Stand 1996, § 48 SGB X Anm 41b, bb; Schroeder-Printzen/Wiesner, SGB X, 3. Aufl 1996, § 48 Rz 6).
Zu den erkennbar objektiv bedeutsamen Tatsachen gehört im vorliegenden Fall als Grundlage der fehlerhaften Feststellung des GdB auch die Höherbewertung wegen der abzuwartenden Heilungsbewährung. Nach Nr 26.9, 8.67 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz (AHP 1983) ist die GdB-Bewertung nach einem Herzinfarkt zwar vor allem von der verbliebenen Leistungsbeeinträchtigung abhängig. Daneben ist für ein Jahr nach dem Herzinfarkt aber eine Heilungsbewährung abzuwarten und während dieser Zeit auch bei relativ geringer Leistungsbeeinträchtigung ein GdB von mindestens 50 anzunehmen. Ohne Belang ist in diesem Zusammenhang, ob die AHP 1983 bei Erstfeststellung des GdB im Februar 1993 insoweit noch dem Stand der medizinischen Wissenschaft entsprochen haben. Auch wenn das nach den Feststellungen des LSG nicht mehr der Fall war (vgl dazu den Wegfall der Heilungsbewährung nach Herzinfarkt in den AHP 1996 und Rösner, MedSach 1996, 173, 176 f und VersorgVerw 1977, 4, 6), so führt das doch lediglich zur Unverbindlichkeit der AHP in diesem Punkt (vgl BSGE 75, 176, 178 = SozR 3-3870 § 3 Nr 5 und BVerfG SozR 3-3870 § 3 Nr 6), ändert aber nichts daran, daß der Bescheid vom 26. Februar 1993 – wenn auch zu Unrecht – auf den GdB-erhöhenden Umstand einer noch abzuwartenden einjährigen Heilungsbewährung gestützt war und sich mit Ablauf dieser Zeit eine nach § 48 Abs 1 SGB X zu berücksichtigende Tatsache geändert hatte.
Der Senat weicht damit nicht von der Rechtsprechung des 8. Senats des Bundessozialgerichts ab (Urteil vom 14. Februar 1973 – 8/7 RU 74/70 – BG 1973, 449) und gibt die Rechtsprechung des früher ebenfalls für das Versorgungsrecht zuständigen 10. Senats (Urteil vom 23. Mai 1969 – 10 RV 273/66 – KOV 1970, 9) nicht auf. Nach dieser Rechtsprechung liegt im reinen Zeitablauf zwar keine wesentliche Änderung der Verhältnisse. Das gilt aber nicht, wenn die Verwaltung in veröffentlichten Maßstäben – wie den AHP – eine zeitlich begrenzte Höherbewertung des GdB vorschreibt und dadurch ihrer Entscheidung objektiv erkennbar den Zeitablauf als tatsächlichen Umstand zugrunde legt.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen
SozR 3-1300 § 48, Nr.60 |
SozSi 1997, 355 |