Verfahrensgang
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. Juni 2001 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander auch für das Revisionsverfahren keine außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Kläger gemäß § 35 Bundesversorgungsgesetz (BVG) ab Juni 1999 Anspruch auf Gewährung einer Pflegezulage hat.
Bei dem 1918 geborenen Kläger wurden durch Bescheid des Versorgungsamts Lübeck vom 7. Dezember 1994 als Schädigungsfolgen iS des § 1 BVG
- Versteifung des rechten oberen Sprunggelenkes nach Splitterverletzungen des Schien- und Sprungbeines, Muskelschwäche, Sekundärarthrose, Teilversteifung anderer Fußgelenke und Versteifung des unteren Sprunggelenkes,
- Muskelschwäche linker Unterschenkel und Fuß, Versteifung des linken oberen und unteren Sprunggelenkes, Versteifung einiger Fußwurzelgelenke und Defektbildung einiger Fußwurzelknochen links, Bewegungseinschränkung der Zehen links, Atrophien in den unteren Bereichen der Unterschenkelknochen und den Knochen des Fußes links, Weichteilschwellungen am linken Unterschenkel und linken Fuß, rezidivierende subakute bis akute Osteomyelitis am linken Fußrücken, Mittelfuß und Sprunggelenk mit ekzematöser Narbenbildung, Fußbelastungsinsuffizienz,
- Narben an beiden Armen und Beinen, Stecksplitter im Bereich des rechten Fußgelenkes und der rechten Fußsohle, sowie des linken Unterschenkels, linken Fußgelenkes und linken Oberarmes
mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) um 100 vH nach § 30 Abs 1 und 2 BVG anerkannt. Durch Bescheid vom 24. September 1996 stellte der Beklagte als weitere Schädigungsfolge zu Ziffer 2 ein “chronisches Schmerzsyndrom” und eine MdE um 100 vH allein nach § 30 Abs 1 BVG fest. Mit Bescheid vom 25. September 1996 lehnte er die im März 1996 beantragte Gewährung einer Pflegezulage ab. Der dagegen gerichtete Widerspruch (Widerspruchsbescheid vom 12. August 1997) wie auch die Klage (Gerichtsbescheid des Sozialgerichts ≪SG≫ Lübeck vom 10. Januar 2000) und Berufung des Klägers (Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 28. Juni 2001) blieben erfolglos. Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt: Bei dem Kläger bestehe zwar dauernder Hilfebedarf; dieser erreiche jedoch nicht den unter Berücksichtigung der gesetzlichen Vorgaben und deren Auslegung durch die höchstrichterliche Rechtsprechung erforderlichen – zeitlichen – Mindestumfang. Der Kläger bedürfe durchschnittlich maximal eine Stunde und zwanzig Minuten fremder Hilfe, und zwar für das An- und Auskleiden, Duschen, Rasieren und Leeren der Urinflasche einschließlich eines – tagesbezogen nur schwierig zu beziffernden – Zeitaufwandes für das gelegentliche Verlassen der Wohnung (etwa für Arztbesuche und Spaziergänge), der nach den Eigenangaben des Klägers (umgerechnet auf den Tag) ca siebzehn Minuten betrage. Dieser Zeitaufwand berücksichtige auch den seit der Verschlimmerung der Herzerkrankung des Klägers hinzugekommenen Hilfebedarf. Da er eine Stunde nur um maximal zwanzig Minuten übersteige, liege hier noch kein “Belastungssprung” iS der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) vor.
Mit seiner – vom LSG wegen grundsätzlicher Bedeutung zugelassenen – Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 35 BVG. Das LSG habe selbst in seinen Entscheidungsgründen daraufhingewiesen, dass eine höchstrichterliche Entscheidung zu der Frage, ab welcher zeitlichen Größenordnung von einem erheblichen Umfang der fremden Hilfe auszugehen sei, bisher nicht ergangen sei. So werde in den Urteilen des BSG vom 2. Juli 1997 (Az 9 RVs 9/96 und 9 RV 19/95) von einer zeitlichen Mindestgrenze von einer Stunde gesprochen. Ebenfalls sei ungeklärt, ob das BSG die Hilfe bei mindestens drei Verrichtungen als eine notwendige oder auch als eine hinreichende Bedingung verstehen wolle. Diese Voraussetzung wäre von ihm, dem Kläger, erfüllt. Er überschreite auch die in § 15 Abs 3 Elftes Buch Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Pflegeversicherung – (SGB XI) gezogene Grenze von mindestens neunzig Minuten für eine Einstufung in die Pflegestufe I.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 28. Juni 2001 und den Gerichtsbescheid des Sozialgerichts Lübeck vom 10. Januar 2000 sowie den Bescheid des Beklagten vom 25. September 1996 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 12. August 1997 aufzuheben und den Beklagten zu verurteilen, ihm ab Juni 1999 Pflegezulage nach dem BVG zu gewähren.
Der Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Er hält das angegriffene Urteil für zutreffend und wendet sich gegen eine Gleichstellung der in § 35 BVG und § 15 Abs 3 SGB XI gefassten Tatbestände. Anderenfalls würde – entgegen der höchstrichterlichen Rechtsprechung – ein auf die sog Grundpflege bezogener Zeitaufwand von unter einer Stunde den Kriterien des § 35 Abs 1 BVG genügen. Der vom LSG für den Kläger ermittelte zeitliche Hilfebedarf von unter zwei Stunden sei unter Berücksichtigung des Rundschreibens des Bundesministeriums für Arbeit und Sozialordnung (BMA) vom 31. August 1998 – VI 5-55463-5/1 (55492) – nicht erheblich.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung des Senats ohne mündliche Verhandlung durch Urteil einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 Sozialgerichtsgesetz ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist nicht begründet. Auf Grund der vom LSG getroffenen Feststellungen besteht beim Kläger kein Hilfebedarf in dem für die Gewährung einer Pflegezulage erforderlichen Mindestumfang.
Gemäß § 35 Abs 1 Satz 1 BVG hat ein Beschädigter, solange er infolge der Schädigung hilflos ist, Anspruch auf Zahlung einer monatlichen Pflegezulage der Stufe I. Hilflos iS des Satzes 1 ist der Beschädigte, wenn er für eine Reihe von häufig und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung seiner persönlichen Existenz im Ablauf eines jeden Tages fremder Hilfe dauernd bedarf (§ 35 Abs 1 Satz 2 BVG). Diese Voraussetzungen sind nach Satz 3 dieser Bestimmung auch erfüllt, wenn die Hilfe in Form einer Überwachung oder Anleitung zu den in Satz 2 genannten Verrichtungen erforderlich ist oder wenn die Hilfe zwar nicht dauernd geleistet werden muss, jedoch eine ständige Bereitschaft zur Hilfeleistung erforderlich ist. Zu den von § 35 Abs 1 BVG erfassten Verrichtungen zählt nach der ständigen Rechtsprechung des BSG (vgl zB BSG, Urteil vom 2. Juli 1997, SozR 3-3100 § 35 Nr 6) nicht der Hilfebedarf bei der hauswirtschaftlichen Versorgung. Solche Verrichtungen haben deshalb für die Beurteilung, ob beim Kläger Hilflosigkeit vorliegt, außer Betracht zu bleiben. Bei den zu berücksichtigenden Verrichtungen handelt es sich um solche, die im Ablauf eines jeden Tages unmittelbar zur Wartung, Pflege und Befriedigung wesentlicher Bedürfnisse des Betroffenen gehören sowie häufig und regelmäßig wiederkehren (vgl dazu auch Bürck, ZfS 1998, 97, 100). Dazu zählen zunächst die auch von der Pflegeversicherung (vgl § 14 Abs 4 SGB XI) erfassten Bereiche der Körperpflege (Waschen, Duschen, Baden, Zahnpflege, Kämmen, Rasieren, Darm- und Blasenentleerung), Ernährung (mundgerechtes Zubereiten und Aufnahme der Nahrung) und Mobilität (Aufstehen, Zubettgehen, An- und Auskleiden, Gehen, Stehen, Treppensteigen, Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung). Hinzu kommen nach der Rechtsprechung des BSG (vgl BSGE 72, 285 = SozR 3-3870 § 4 Nr 6; ähnlich auch Nr 21 Abs 3 der Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem SchwbG, hrsg vom BMA, 1996 ≪AHP 1996≫) Maßnahmen zur psychischen Erholung, geistige Anregungen und Kommunikation (Sehen, Hören, Sprechen und Fähigkeit zu Interaktionen).
Was das Ausmaß des in § 35 Abs 1 BVG vorausgesetzten Hilfebedarfs anbelangt, geht der Senat von folgenden Grundsätzen aus (vgl das Senatsurteil vom 10. Dezember 2002 – B 9 V 3/01 R –, zur Veröffentlichung in BSGE und SozR vorgesehen):
Zunächst kann eine “bei einer Reihe von Verrichtungen” wiederkehrende Hilfe regelmäßig erst dann angenommen werden, wenn es sich um mindestens drei Verrichtungen handelt. Nach der Rechtsprechung des Senats (vgl BSG SozR 3-3100 § 35 Nr 6; Urteil vom 2. Juli 1997 – 9 RVs 9/96, VersorgVerw 1997, 94; vgl auch BT-Drucks 12/5262 S 164) ist darüber hinaus ein Hilfebedarf erheblichen Umfangs erforderlich. Dies richtet sich nach dem Verhältnis der dem Beschädigten ohne fremde Hilfe nicht mehr möglichen Verrichtungen zu denen, die er auch ohne fremde Hilfe noch bewältigen kann. In der Regel wird dabei auf die Zahl der Verrichtungen, den wirtschaftlichen Wert der Hilfe und den zeitlichen Aufwand abzustellen sein.
Mit Blick auf die gesetzlichen Vorgaben in der sozialen Pflegeversicherung (vgl § 15 SGB XI) hält es der erkennende Senat für sachgerecht, die Erheblichkeit des Hilfebedarfs in erster Linie nach dem täglichen Zeitaufwand für erforderliche Betreuungsleistungen zu beurteilen. Dazu hat er bereits entschieden, dass derjenige nicht iS von § 35 Abs 1 BVG (entsprechendes gilt für den insoweit gleichlautenden § 33b Abs 6 Einkommensteuergesetz ≪EStG≫) hilflos ist, der nur in relativ geringem Umfange, täglich etwa eine Stunde, auf fremde Hilfe angewiesen ist (vgl BSGE 67, 204, 207 = SozR 3-3870 § 4 Nr 1; BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 12; BSG SozR 3-3100 § 35 Nr 6; Senatsurteil vom 10. September 1997 – 9 RV 8/96 –). Daraus ergibt sich jedoch nicht, dass bei einem Überschreiten dieser Mindestgrenze in jedem Fall Hilflosigkeit zu bejahen ist. Vielmehr sieht der Senat einen täglichen Zeitaufwand – für sich genommen – erst dann als hinreichend erheblich an, wenn dieser mindestens zwei Stunden erreicht. Diese Grenzziehung soll den Bedürfnissen der Praxis Rechnung tragen (vgl dazu auch das Rundschreiben des BMA vom 31. August 1998 – VI 5-55463-5/1 ≪55492≫); sie ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
Da die Begriffe der Pflegebedürftigkeit (vgl §§ 14, 15 SGB XI) und der Hilflosigkeit (vgl § 35 BVG, § 33b EStG) nicht völlig übereinstimmen (vgl dazu BSG SozR 3-3870 § 4 Nr 12), können im vorliegenden Zusammenhang die zeitlichen Grenzwerte der sozialen Pflegeversicherung zwar nicht unmittelbar übernommen werden, sie lassen sich jedoch als gewisse Orientierungspunkte nutzen. Immerhin decken sich die von beiden Begriffen erfassten Verrichtungsbereiche insoweit, als es die sog Grundpflege (Körperpflege, Ernährung und Mobilität) betrifft. Im Rahmen des § 35 BVG kommt noch der Bereich der geistigen Anregung und Kommunikation hinzu, außerdem sind hier – anders als grundsätzlich in der Pflegeversicherung (vgl BSG SozR 3-3300 § 14 Nr 8) – auch Anleitung, Überwachung und Bereitschaft zu berücksichtigen (vgl § 35 Abs 1 Satz 3 BVG). Da im Hinblick auf den insoweit erweiterten Maßstab bei der Prüfung von Hilflosigkeit leichter ein größerer Zeitaufwand für fremde Betreuungsleistungen erreicht wird als im Bereich der Grundpflege bei der Pflegeversicherung, liegt es nahe, hier von einer Zwei-Stunden-Grenze auszugehen, was dem Grundpflegeerfordernis für die Pflegestufe II der Pflegeversicherung entspricht (vgl § 15 Abs 3 Nr 2 SGB XI).
Ein weiteres Argument für eine solche Grenzziehung lässt sich aus § 33b EStG gewinnen, der in seinem Abs 6 Satz 2 und 3 wörtlich mit § 35 Abs 1 Satz 2 und 3 BVG übereinstimmt. Die Höhe des durch diese Vorschrift dem steuerpflichtigen behinderten Menschen gewährten Pauschbetrages von 7.200 DM bzw 3.700 € hebt sich außerordentlich von dem Pauschbetrag ab, der behinderten Menschen mit einem Grad der Behinderung von 100 zusteht (1.420 € bzw 2.760 DM). Dieser Begünstigungssprung ist nur bei Erforderlichkeit zeitaufwändiger und deshalb entsprechend teurer Hilfeleistungen erklärbar und gerechtfertigt. Eine entsprechende Tendenz ergibt sich auch aus § 65 Abs 2 Satz 2 Einkommensteuerdurchführungsverordnung 2000 (BGBl I, 717), wonach der Nachweis von Hilflosigkeit nicht nur durch einen Schwerbehindertenausweis mit eingetragenem Merkzeichen “H” erbracht werden kann, sondern auch durch die Einstufung als Schwerstpflegebedürftiger in Pflegestufe III nach § 15 Abs 1 Satz 1 Nr 3 SGB XI. Da diese Vorschrift lediglich alternative Nachweismöglichkeiten für Leistungen eröffnet, zwingt sie nicht dazu, den für die Bejahung von Hilflosigkeit erforderlichen Zeitaufwand mit mehr als zwei Stunden anzusetzen.
Um den individuellen Verhältnissen des Beschädigten hinreichend Rechnung tragen zu können, erscheint es geboten, bei der Beurteilung von Hilflosigkeit nicht allein auf den zeitlichen Betreuungsaufwand abzustellen. Vielmehr kommt dabei auch weiteren Umständen der Hilfeleistung, insbesondere ihrem wirtschaftlichen Wert, Bedeutung zu. Dieser Wert wird wesentlich durch die Zahl und die zeitliche Verteilung der Verrichtungen mitbestimmt, bei denen fremde Hilfe erforderlich ist. Denn eine Hilfsperson kann regelmäßig nur für zusammenhängende Zeitabschnitte, nicht jedoch für einzelne Handreichungen herangezogen bzw beschäftigt werden. Dieser Umstand rechtfertigt es, Hilflosigkeit iS von § 35 BVG bereits bei einem täglichen Zeitaufwand für fremde Hilfe zwischen einer und zwei Stunden dann anzunehmen, wenn der wirtschaftliche Wert der erforderlichen Pflege (wegen der Zahl der Verrichtungen bzw ungünstiger zeitlicher Verteilung der Hilfeleistungen) besonders hoch ist.
Gemessen an diesen Kriterien hält das angegriffene Urteil einer revisionsgerichtlichen Prüfung stand. Auf der Grundlage seiner von den Beteiligten nicht mit zulässigen Rügen angegriffenen und somit für den erkennenden Senat bindenden Tatsachenfeststellungen (vgl § 163 SGG) hat das LSG einen täglichen Zeitaufwand für Hilfe im Umfange von durchschnittlich maximal einer Stunde und zwanzig Minuten ermittelt, der sich auf das An- und Auskleiden, Duschen, Rasieren und Leeren der Urinflasche sowie das Verlassen und Wiederaufsuchen der Wohnung – also auf im Rahmen des § 35 Abs 1 BVG grundsätzlich berücksichtigungsfähige Verrichtungen – bezieht. Liegt damit der zeitliche Hilfebedarf des Klägers zwischen einer und zwei Stunden, so wäre Hilflosigkeit nur bei einem besonders hohen Wert der erforderlichen Pflege zu bejahen. Davon ist hier nicht auszugehen; weder die Zahl noch die zeitliche Verteilung der Hilfeleistungen gebieten die Annahme einer solchen Besonderheit, der Hilfebedarf ist vielmehr von der Möglichkeit einer Zusammenfassung der erforderlichen Verrichtungen geprägt.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Fundstellen