Beteiligte
Landesversicherungsanstalt Schleswig-Holstein |
Tenor
Das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 15. Oktober 1965 wird insoweit aufgehoben, als die Beklagte verurteilt wurde, für die Rentenberechnung vom 1. Juli 1965 an die Vorschrift des Art. 2 § 55 Abs. 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes nF für die Zeit vom 4. April 1932 bis zum 26. August 1939 anzuwenden.
In diesem Umfang wird der Rechtsstreit an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Gründe
Der Kläger bezieht seit dem 19. Dezember 1962 Versichertenrente. Er begehrt die Erhöhung der Rente, weil zur Ermittlung der maßgebenden Rentenbemessungsgrundlage Sachbezüge zu berücksichtigen seien.
Von April 1925 bis November 1931 war der Kläger – länger als sechs Jahre (321 Wochen) – als Hofgänger (seines Vaters) versicherungspflichtig beschäftigt. Nachdem er im Februar 1932 geheiratet hatte, arbeitete er bis zum 26. August 1939 als Freiarbeiter in der Landwirtschaft (Quittungskarten Nr. 7 bis 14 mit 342 Wochen Beitragsmarken der Klasse IV).
Das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte am 15. Oktober 1965 u. a. verurteilt, für die Rentenberechnung seit dem 1. Juli 1965 die Vorschrift des Art. 2 § 55 Abs. 2 des Arbeiterrentenversicherungs-Neuregelungsgesetzes (ArVNG) in der seit dem 1. Juli 1965 geltenden Fassung für die Zeit vom 1. April 1925 bis zum 26. August 1939 anzuwenden. Von diesem Zeitraum ist nur noch der Abschnitt vom 22. Februar (richtiger: 4. April) 1932 bis zum 26. August 1939 streitig. – Das LSG hat ausgeführt. Der Anwendung des Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG idF des Rentenversicherungs-Änderungsgesetzes (RVÄndG) vom 9. Juni 1965 stehe nicht entgegen, daß der Kläger nur ein Teildeputat bezogen habe. Es genüge vielmehr, daß er glaubhaft gemacht habe, während mindestens fünf Jahren für seine versicherungspflichtige Beschäftigung neben Barbezügen in wesentlichem Umfang Sachbezüge erhalten zu haben. Sachbezüge seien immer dann wesentlich, wenn sie für den Lebensunterhalt ins Gewicht fielen. Dies sei bei einem Liter Milch täglich, einem Zentner Roggen monatlich und einem Viertelmorgen Land zum Anbau von Kartoffeln und Gemüse der Fall. Die Angabe des Klägers, in diesem Umfang habe er Sachbezüge erhalten, sei glaubhaft, weil die von ihm genannten Sachbezüge im Rahmen des damals Üblichen lägen.
Mit der – zugelassenen – Revision macht die Beklagte geltend, das, was der Kläger in der streitigen Zeit an Deputat erhalten habe, seien keine Sachbezüge „in wesentlichem Umfang”.
Sie beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil abzuändern und die Berufung auch insoweit zurückzuweisen, als der Kläger die Erhöhung seiner seit dem 1. Juli 1965 zu zahlenden Rente aus Sachbezügen in der Zeit vom 22. Februar 1932 bis zum 26. August 1939 begehrt.
Der Kläger beantragt,
die Revision der Beklagten zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs. 2 des Sozialgerichtsgesetzes – SGG –) einverstanden erklärt.
Die Revision führt zur Aufhebung des Berufungsurteils, soweit es noch angefochten ist, und in diesem Umfang zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG. Die Tatsachenfeststellungen reichen nicht aus, um die für den Anspruch auf höhere Rente allein entscheidende Frage, ob der Kläger in den Jahren 1932 bis 1939 neben Barbezügen in wesentlichem Umfang Sachbezüge erhalten hat, zu beantworten.
Dahingestellt kann bleiben, in welcher Weise der unbestimmte Rechtsbegriff „in wesentlichem Umfang” durch das Revisionsgericht nachprüfbar ist, wenn alle bedeutsamen Tatsachen festgestellt sind. Im vorliegenden Falle läßt sich die abschließende Entscheidung selbst dann nicht treffen, wenn sich das Revisionsgericht auf die Prüfung beschränken müßte, ob der Rechtsbegriff selbst verkannt ist, ob bei der Unterordnung des Sachverhalts etwa Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt sind oder ob die Bewertung wegen Außerachtlassung wesentlicher Umstände offensichtlich fehlerhaft ist (vgl. BSG 27, 292, 293). Wohl sind Art und Umfang der Sachbezüge (ein Liter Milch täglich, ein Zentner Roggen monatlich, ein Viertelmorgen Land zum Anbau von Kartoffeln und Gemüse) bekannt, nicht aber ihr Wert und ihre Auswirkung auf die wirtschaftliche Lage des Klägers. Hierauf kommt es jedoch entscheidend an. Das LSG hat zwar ausgeführt, Sachbezüge seien immer dann wesentlich, wenn sie für den Lebensunterhalt ins Gewicht fielen; dieser Deutung dürfte auch zuzustimmen sein. Es fehlt jedoch an einer näheren, durch Tatsachen belegten Begründung dafür, weshalb und wie die Sachbezüge den Lebensunterhalt des Klägers beeinflußten. Unzureichend ist die – wohl nur für die Glaubwürdigkeit des Klägers getroffene – Feststellung, die von ihm genannten Sachbezüge hätten sich im Rahmen des damals Üblichen gehalten. Der Senat ist bei dem bisherigen Stand der Ermittlungen nicht in der Lage, die Erwägungen des LSG auf ihre Stichhaltigkeit hin zu untersuchen; jedenfalls lassen Art und Umfang der Sachbezüge hier nicht ohne weiteres – auch nicht bei einer lediglich beschränkten Überprüfung – eine Entscheidung in der einen oder anderen Richtung zu. Nach § 170 Abs. 2 Satz 2 SGG ist daher das angefochtene Urteil teilweise aufzuheben und der Rechtsstreit zur weiteren Aufklärung – ggf. unter Heranziehung von Sachverständigen – an das LSG zurückzuverweisen.
Für die Konkretisierung des Begriffs der Sachbezüge in wesentlichem Umfang, wie sie durch das LSG im Hinblick auf den gegebenen Sachverhalt vorzunehmen ist, bieten die Vorarbeiten des Gesetzgebers und die Rechtsfolgen des Sachbezuges über den Wortlaut des Gesetzes hinaus wichtige Anhaltspunkte. Wesentlich sollen nach dem Schriftlichen Bericht des Bundestagsausschusses für Sozialpolitik (BT-Drucks. zu IV/3233 S. 9) die Sachbezüge immer dann sein, wenn sie für den laufenden Unterhalt ins Gewicht fielen (so auch das LSG) und keine geringfügigen Zuwendungen waren. Damit scheiden einerseits bedeutungslose Sachbezüge aus. Andererseits ist es nicht erforderlich, daß der Versicherte überwiegend, also um mehr als zur Hälfte Sachbezüge erhielt; dies hätte – wie an anderer Stelle (vgl. § 1266 der Reichsversicherungsordnung – RVO –) – Ausdruck im Gesetz gefunden. Die Abgrenzung in Fällen der vorliegenden Art wird dazwischen zu suchen sein. Dabei ist zu bedenken, daß der Gesetzgeber bewußt Auslegungsschwierigkeiten in Kauf genommen hat; im Zusammenhang mit dem Zweck des RVÄndG, Härten zu beseitigen, und im Hinblick auf den Anteil, den die Aufwendungen für Versicherte mit Sachbezügen im Rahmen der Gesamtaufwendungen durch das RVÄndG ausmachen, wird dies bedeuten, daß eine großzügige Anwendung der neu gefaßten Vorschrift gewollt war. Diese Absicht des Gesetzgebers läßt sich auch aus den Rechtsfolgen herleiten. Die Renten der Versicherten mit Sachbezügen sollen unter Anwendung von Tabellen der Lohn- und Beitragsklassen sowie der Brutto-Jahresarbeitsentgelte (Anlage 2 zu Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG) einem statistisch errechneten Durchschnitt angeglichen werden. Alle, die die Tabellenwerte ohnedies erreichen oder überschreiten, gehen – im Gegensatz zur früheren Regelung – leer aus. Begünstigt werden nur diejenigen, die ein relativ geringes Einkommen hatten. Bei diesen Versicherten, denen dringend geholfen werden mußte (vgl. dazu v. Gellhorn in BABl 1965, 594 bis 596), könnte vielleicht schon der Umstand, daß die tatsächlichen Beitragsklassen oder Brutto-Jahresarbeitsentgelte trotz kaum unterbrochener Vollbeschäftigung immer unter den Tabellenwerten lagen, ein Indiz dafür sein, daß ihre Sachbezüge wesentlich waren.
Aus dem Gesetz ergibt sich nicht, woran die Sachbezüge zu messen seien. Die Worte „neben Barbezügen” zwingen nicht zu der Annahme, die Barbezüge seien der Maßstab. Die an diesen orientierten Lösungsvorschläge (vgl. Brackmann, Handbuch der Sozialversicherung, Bd. III, S. 702d I; Komm. zur Reichsversicherungs-Ordnung, 4. und 5. Buch, herausgegeben vom Verband Deutscher Rentenversicherungsträger, Anm. 38 zu § 1225 RVO), als wesentlich seien diejenigen Sachbezüge anzusehen, die mehr als 25 v.H. des Wertes der Barbezüge oder mehr als 20 v.H. der Summe der Bar- und Sachbezüge darstellten, mögen meist zu vertretbaren Resultaten führen; ebenso sicher ist es aber auch, daß dieses Schema in nicht wenigen Fällen nicht zu rechtfertigende unterschiedliche Ergebnisse zeitigt. Die einzige Rechtsfolge bei der Erfüllung der gesetzlichen Voraussetzungen besteht nämlich in der Anhebung der Beiträge auf die Durchschnittswerte der Tabelle. Dadurch können Versicherte mit geringeren Bar- und Sachbezügen andere Versicherte „überholen”, obwohl diese mit den Barbezügen bereits so nahe an den Tabellenwert herankommen, daß sie ihn auch mit einem geringfügigen Sachbezug erreichen oder überschreiten. Ein Ausgleich läßt sich nur durch die gründliche Untersuchung des Einzelfalles unter Bewertung aller Umstände erreichen. Dies ist wohl auch der Sinn der Elastizität der gesetzlichen Formulierung (vgl. Jantz in DRV 1965, 145, 150). So sehr eine Schematisierung zur Verwaltungsvereinfachung beitragen könnte, so wenig vermag sie dem Einzelfall gerecht zu werden.
Zumindest als zusätzliche Maßstäbe bieten sich die Unterhaltsbedürfnisse des einzelnen Versicherten und seine wirtschaftliche Lage an. Eine vergleichbare Regelung (mit den Worten „wesentlich unterhalten”) findet sich in den Vorschriften über die Elternrente der Unfallversicherung in § 596 RVO (§ 593 RVO aF). Die hierzu ergangene Rechtsprechung (vgl. zB Bundessozialgericht – BSG –, Urteil vom 21. Oktober 1958 – 2 RU 75/56 –, SozEntsch. BSG IV § 593 RVO Nr. 2) könnte es – auf Art. 2 § 55 Abs. 2 ArVNG übertragen – als bedeutsam erscheinen lassen, zu prüfen, ob die Sachbezüge dem Versicherten über Mängel seiner Unterhaltssicherung hinweghalfen und ob ihre Nichtgewährung eine auskömmliche Lebenshaltung geführdet hätte. Diese Überlegung schließt allerdings nicht aus, auch die Verbesserung einer über dem Mindestbedarf liegenden Lebenshaltung durch Sachbezüge in Betracht zu ziehen.
Von dem Verkehrswert der Sachbezüge zur Zeit und am Ort der Gewährung mag unter Umständen ihr individueller Verbrauchswert für den Kläger und seine Familie abweichen. Zu ermitteln wäre auch, ob die Überlassung von Land zum Anbau von Kartoffeln und Gemüse mit dem Wert der – durch zusätzliche Arbeit – gezogenen Früchte oder nur mit dem allgemeinen Gebrauchswert (Pachtzins) anzusetzen ist. Dasselbe gilt für eine durch die Überlassung des Landes etwa ermöglichte Tierhaltung. – Dem Nutzen der Sachbezüge durch den Versicherten steht die Einbuße des Arbeitgebers an Betriebsmitteln, Vorräten und Waren gegenüber. Vom Arbeitgeber aus gesehen mag sich ein anderer Wert ergeben; auch dieser kann weiteren Aufschluß geben, und zwar nicht nur dann, wenn die übrigen Ermittlungen zu keinem eindeutigen Ergebnis führen sollten.
Bei der eingehenden Erforschung des Sachverhalts und durch sachverständigen Rat werden möglicherweise weitere entscheidungserhebliche Einzelumstände bekannt.
Die Kostenentscheidung bleibt der abschließenden Entscheidung des LSG vorbehalten.
Fundstellen