Verfahrensgang
LSG Niedersachsen (Urteil vom 15.12.1994) |
SG Osnabrück (Urteil vom 25.03.1993) |
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 15. Dezember 1994 wird zurückgewiesen.
Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Streitig ist, ob der Kläger gegen die Beklagte einen Anspruch auf Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise Berufsunfähigkeit (BU) hat.
Der 1937 geborene Kläger hat keinen Ausbildungsberuf mit formalem Abschluß erlernt. Von 1953 bis 1988 arbeitete er als Straßenbauarbeiter, Bauarbeiter, Dachdeckergehilfe und zuletzt ca dreieinhalb Jahre als Radladerfahrer bei einer Spedition. Diese Tätigkeit endete wegen Auflösung des Arbeitsplatzes. Anschließend wurden mehrere Arbeitsversuche als Radladerfahrer in einem Gartenbaubetrieb nach Angaben des Klägers wegen starker Wirbelsäulenbeschwerden abgebrochen. Ende 1989 unterzog sich der Kläger einer Heilbehandlungsmaßnahme, aus der er als vollschichtig einsatzfähig für leichte Arbeiten ohne häufiges Heben und Tragen, ohne häufiges Bücken, nicht in überwiegend einseitiger Körperhaltung entlassen wurde. Im Februar 1991 beantragte er bei der Beklagten die Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit. Diesen Antrag lehnte die Beklagte ab, weil EU oder BU nicht gegeben seien (Bescheid vom 1. Juli 1991; Widerspruchsbescheid vom 18. Februar 1992). Das Sozialgericht Osnabrück hat die Klage mit der Begründung abgewiesen, daß der Kläger noch in der Lage sei, zumindest leichte Arbeiten vollschichtig zu verrichten. Bei Berücksichtigung der ärztlicherseits angegebenen Einschränkungen könne er zB noch als Sortierer, Sichtkontrolleur oder Verpacker von Kleinteilen eingesetzt werden (Urteil vom 25. März 1993). Das Landessozialgericht (LSG) hat die Berufung des Klägers zurückgewiesen (Urteil vom 15. Dezember 1994). Es hat ausgeführt: Der Kläger könne noch zumindest leichte Arbeiten im gelegentlichen Wechsel von Gehen, Stehen und Sitzen, ohne häufiges Bücken, im gleichbleibenden Klima, nicht im Schichtdienst, vollschichtig verrichten. Die üblichen Wege von und zur Arbeit bzw zu den öffentlichen Verkehrsmitteln von mehr als 500 m seien ihm noch zumutbar. Betriebsunübliche Pausen wegen des noch nicht als schwerwiegend anzusehenden und ihn subjektiv wenig beeinträchtigenden Diabetes mellitus seien nicht erforderlich. Mit diesem Leistungsvermögen sei der Kläger nicht erwerbsunfähig, weil er in der Lage sei, auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt eine Erwerbstätigkeit in gewisser Regelmäßigkeit auszuüben und vollschichtig mehr als nur geringfügige Einkünfte zu erzielen. Er sei auch nicht berufsunfähig, weil er einen Beruf nicht erlernt und auch zuletzt lediglich eine ungelernte Tätigkeit ausgeübt habe. Somit sei er auf alle Tätigkeiten des allgemeinen Arbeitsmarktes verweisbar, die seinen Kräften und Fähigkeiten entsprächen. Da er noch unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes arbeiten könne, bedürfe es keiner konkreten Benennung einer Verweisungstätigkeit.
Der Kläger hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Er rügt die Verletzung materiellen Rechts und trägt vor: Die bei ihm festgestellten Leistungseinschränkungen ließen Tätigkeiten unter betriebsüblichen Arbeitsbedingungen nicht mehr zu. Daher liege ein sog Katalogfall vor, so daß es schon aus diesem Grunde der konkreten Benennung einer Verweisungstätigkeit bedürfe. Abgesehen davon sei eine Benennung auch deshalb erforderlich, weil für die Versichertengruppe, welcher der Kläger angehöre, eine erhebliche Gefahr der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes bestehe, wie sich aus den Vorlagebeschlüssen des 13. Senats an den Großen Senat (GrS) des Bundessozialgerichts (BSG) vom 23. November 1994 in den Verfahren 13 RJ 19/93, 13 RJ 71/93, 13 RJ 73/93 und 13 RJ 1/94 ergebe. Er rege an, den Rechtsstreit bis zur Entscheidung des GrS auszusetzen oder das Ruhen des Verfahrens anzuordnen.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen vom 15. Dezember 1994, das Urteil des Sozialgerichts Osnabrück vom 25. März 1993 und den Bescheid der Beklagten vom 1. Juli 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Februar 1992 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger Rente wegen Erwerbs-, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit ab 1. März 1991 zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.
Entscheidungsgründe
II
Die zulässige Revision ist unbegründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß dem Kläger keine Rente wegen EU oder BU zusteht.
Soweit der Kläger sich zur Begründung seiner Revision auf die Vorlagebeschlüsse des 13. Senats des BSG vom 23. November 1994 in den Verfahren 13 RJ 19/93, 13 RJ 71/93, 13 RJ 73/93 und 13 RJ 1/94 bezieht, hält der Senat sein Vorbringen für unerheblich und verweist auf die Gründe seines Urteils vom 14. September 1995 – 5 RJ 50/94 – (SozR 3-2200 § 1246 Nr 50 = SGb 1995, 603 = NZS 1996, 228).
In dieser Entscheidung ist auch ausgeführt, daß der Senat wegen der Vorlage zur Rechtsfortbildung nach § 41 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) an einer Entscheidung nicht gehindert ist und der Kläger bei einer abweichenden Entscheidung des GrS nach Maßgabe der §§ 44 ff des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) geschützt wird. Daß dieser Schutz nur längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren in die Vergangenheit zurückreicht, ist eine sozialpolitische Entscheidung des Gesetzgebers, die als Grundsatzregelung für alle Fälle einer nachgeholten Leistungserbringung – dh nicht nur für Streitigkeiten wie die vorliegende – gilt, und die der Senat nicht dadurch korrigieren kann, daß er entscheidungsreife Sachen unentschieden läßt.
Wie im Senatsurteil vom 14. September 1995 (5 RJ 50/94, aaO) im einzelnen ausgeführt, ist die bisherige Rechtsprechung des BSG zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes nicht ergänzungsbedürftig. Insbesondere stellen die beim Kläger bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen qualitativer Art keine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen dar. Vielmehr handelt es sich um eine – wenn auch nicht unerhebliche – Anzahl gewöhnlicher Leistungseinschränkungen, die nicht dazu führen, daß der Kläger nur noch unter nicht betriebsüblichen Arbeitsbedingungen arbeiten könnte.
Im übrigen hat der Gesetzgeber durch die im Zweiten Gesetz zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (Zweites SGB VI-Änderungsgesetz – 2. SGB VI-ÄndG) vom 2. Mai 1996 (BGBl I S 659) vorgenommene Ergänzung des § 43 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) klargestellt, daß nicht berufsunfähig ist, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist. Entsprechend steht ein vollschichtiges Leistungsvermögen – ohne Berücksichtigung der jeweiligen Arbeitsmarktlage – erst recht der Annahme von EU entgegen, § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI. Dies gilt gemäß § 302b Abs 3 SGB VI idF des 2. SGB VI-ÄndG für alle Versicherten, deren Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor dem 1. Juni 1996 noch nicht begonnen hat. Im vorliegenden Fall hat die Rente des Klägers, da über sie noch nicht abschließend (“rechtskräftig”) entschieden ist, noch nicht “begonnen”. Dabei kann es wegen der klarstellenden Funktion der Rechtsänderung (BT-Drucks 13/2590, S 19; 13/3697, S 1, 3 ff; 13/3907, S 1, 5 ff) keinen Unterschied machen, ob der Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung nach den Vorschriften des SGB VI oder – wie im Falle des Klägers – nach den im wesentlichen gleichlautenden Normen der §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung zu beurteilen ist.
Dem vom Kläger sinngemäß gestellten Antrag, den Rechtsstreit bis zur Entscheidung des GrS auszusetzen oder das Ruhen des Verfahrens anzuordnen, kann nicht entsprochen werden, weil die gesetzlichen Voraussetzungen fehlen (§ 114 SGG bzw § 202 SGG iVm § 251 Zivilprozeßordnung).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Abs 1 SGG.
Fundstellen