Entscheidungsstichwort (Thema)

Berufsunfähigkeit. Erwerbsunfähigkeit. Verschlossenheit des Arbeitsmarktes. Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen. Vorlage, Rechtsfortbildung

 

Leitsatz (amtlich)

  • Die Vorlage einer Rechtsfrage durch einen Senat des BSG an den Großen Senat zur Rechtsfortbildung (§ 41 Abs 4 SGG) hindert einen anderen Senat nicht an einer diese Rechtsfrage betreffenden Sachentscheidung.
  • §§ 43 Abs 2 S 4, 44 Abs 2 S 2 Nr 2, 302b Abs 3 SGB VI idF des 2. SGB VI-ÄndG stellen klar, daß die Arbeitsmarktlage bei der Beurteilung einer Erwerbsminderung in allen bis 31.5.1996 nicht abschließend (rechtskräftig) entschiedenen Fällen außer Betracht zu bleiben hat.

    Dies gilt auch, soweit noch die Vorschriften der RVO zur Anwendung kommen.

 

Normenkette

RVO §§ 1246-1247; SGB VI § 43 Abs. 2, § 44 Abs. 2, § 302b Abs. 3; SGG § 41; SGB X §§ 44, 48

 

Verfahrensgang

LSG Rheinland-Pfalz (Urteil vom 16.12.1994; Aktenzeichen L 6 J 22/94)

SG Mainz (Urteil vom 18.11.1993; Aktenzeichen S 5 J 286/92)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 16. Dezember 1994 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten über den Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise Berufsunfähigkeit (BU) gegen die Beklagte.

Die 1939 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Sie war nach etwa einjähriger innerbetrieblicher Anlernung zwischen 1963 und September 1968 mit Unterbrechungen als Heimarbeiterin für die Lederwarenindustrie beschäftigt. Nachdem im Juni 1987 und Oktober 1989 gestellte Rentenanträge erfolglos geblieben waren, stellte die Klägerin im Dezember 1991 erneut den Antrag auf Gewährung von Rente wegen BU bzw EU, den die Beklagte ablehnte, weil die Klägerin immer noch eine ihren Behinderungen gerecht werdende Tätigkeit vollschichtig ausüben könne (Bescheid vom 11. Mai 1992; Widerspruchsbescheid vom 24. November 1992). Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Mainz vom 18. November 1993; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ Rheinland-Pfalz vom 16. Dezember 1994). Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Die Klägerin, die als Angelernte des unteren Bereichs keinen Berufsschutz genieße, sei nicht berufs- oder erwerbsunfähig, weil sie auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zumindest körperlich leichte Arbeiten noch vollschichtig verrichten könne. Zu vermeiden seien lediglich andauernde Zwangshaltungen mit besonderer Belastung des Arm- und Schulterbereichs, Akkord-, Nacht- und Fließbandarbeiten sowie Arbeiten in nicht temperierten Räumen.

Die Klägerin hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung materiellen Rechts und trägt vor: Von seinem Rechtsstandpunkt aus betrachtet habe das LSG es zu Recht abgelehnt, ihr einen konkreten Verweisungsberuf zu benennen. Da sie – wenn auch mit zusätzlichen Einschränkungen – noch vollschichtig arbeiten könne, habe das LSG sie als angelernte Arbeitnehmerin im unteren Bereich aufgrund der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung auf den generell offenen Arbeitsmarkt verweisen dürfen. Aufgrund einer noch vorzunehmenden Fortbildung des Rechts sei das LSG jedoch verpflichtet gewesen, ihr konkret durch weitere Beweisaufnahme eine Verweisungstätigkeit zu bezeichnen. Für sie ergebe sich nämlich iS der Vorlagebeschlüsse des 13. Senats des Bundessozialgerichts (BSG) an den Großen Senat (GrS) vom 23. November 1994 in den Verfahren 13 RJ 19/93, 13 RJ 71/93, 13 RJ 73/93 und 13 RJ 1/94 eine erhebliche Gefahr der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes. Aufgrund der festgestellten Leistungseinschränkungen könne sie nicht mehr zu den “betriebsüblichen Arbeitsbedingungen” tätig werden. Hierzu gehöre im weiteren Sinne nämlich auch das typische Einstellungsverhalten der Arbeitgeber im Hinblick auf Versicherte, die nur noch leichte Tätigkeiten mit zusätzlichen Einschränkungen verrichten könnten.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Rheinland-Pfalz vom 16. Dezember 1994 und des Sozialgerichts Mainz vom 18. November 1993 sowie den Bescheid der Beklagten vom 11. Mai 1992 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 24. November 1992 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab Antragstellung Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision ist unbegründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß der Klägerin keine Rente wegen EU oder BU zusteht.

Soweit die Klägerin sich zur Begründung ihrer Revision auf die Vorlagebeschlüsse des 13. Senats des BSG vom 23. November 1994 in den Verfahren 13 RJ 19/93, 13 RJ 71/93, 13 RJ 73/93 und 13 RJ 1/94 bezieht, hält der Senat ihr Vorbringen für unerheblich und verweist auf die Gründe seines Urteils vom 14. September 1995 – 5 RJ 50/94 – (SozR 3-2200 § 1246 Nr 50 = SGb 1995, 603 = NZS 1996, 228).

In dieser Entscheidung ist auch ausgeführt, daß der Senat wegen der Vorlage zur Rechtsfortbildung nach § 41 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) an einer Entscheidung nicht gehindert ist und die Klägerin bei einer abweichenden Entscheidung des GrS nach Maßgabe der §§ 44 ff des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) geschützt wird. Daß dieser Schutz nur längstens für einen Zeitraum von bis zu vier Jahren in die Vergangenheit zurückreicht, ist eine sozialpolitische Entscheidung des Gesetzgebers, die als Grundsatzregelung für alle Fälle einer nachgeholten Leistungserbringung – dh nicht nur für Streitigkeiten wie die vorliegende – gilt, und die der Senat nicht dadurch korrigieren kann, daß er entscheidungsreife Sachen unentschieden läßt.

Wie im Senatsurteil vom 14. September 1995 (5 RJ 50/94, aaO) im einzelnen ausgeführt, ist die bisherige Rechtsprechung des BSG zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes nicht ergänzungsbedürftig. Insbesondere stellen die bei der Klägerin bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen qualitativer Art keine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen dar. Vielmehr handelt es sich um eine – wenn auch nicht unerhebliche – Anzahl gewöhnlicher Leistungseinschränkungen, die nicht dazu führen, daß die Klägerin nur noch unter nicht betriebsüblichen Arbeitsbedingungen arbeiten könnte.

Im übrigen hat der Gesetzgeber durch die im Zweiten Gesetz zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (Zweites SGB VI-Änderungsgesetz – 2. SGB VI-ÄndG) vom 2. Mai 1996 (BGBl I S 659) vorgenommene Ergänzung des § 43 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) klargestellt, daß nicht berufsunfähig ist, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist. Entsprechend steht ein vollschichtiges Leistungsvermögen – ohne Berücksichtigung der jeweiligen Arbeitsmarktlage – erst recht der Annahme von EU entgegen, § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI. Dies gilt gemäß § 302b Abs 3 SGB VI in der Fassung des 2. SGB VI-ÄndG für alle Versicherten, deren Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor dem 1. Juni 1996 noch nicht begonnen hat. Im vorliegenden Fall hat die Rente der Klägerin, da über sie noch nicht abschließend (“rechtskräftig”) entschieden ist, noch nicht “begonnen”.

Dabei kann es wegen der klarstellenden Funktion der Rechtsänderung (BT-Drucks 13/2590 S 19; 13/3697 S 1, 3 ff; 13/3907 S 1, 5 ff) keinen Unterschied machen, ob der Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung nach den Vorschriften des SGB VI oder – wie im Falle der Klägerin – nach den im wesentlichen gleichlautenden Normen der §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung zu beurteilen ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Breith. 1997, 145

SozSi 1997, 158

SozSi 1997, 160

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