Verfahrensgang

LSG Baden-Württemberg (Urteil vom 04.11.1994; Aktenzeichen L 4 J 476/93)

SG Mannheim (Urteil vom 27.01.1993)

 

Tenor

Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 4. November 1994 wird zurückgewiesen.

Die Beteiligten haben einander außergerichtliche Kosten auch für das Revisionsverfahren nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Die Beteiligten streiten über den Anspruch der Klägerin auf Gewährung von Rente wegen Erwerbsunfähigkeit (EU), hilfsweise Berufsunfähigkeit (BU) gegen die Beklagte.

Die 1935 geborene Klägerin hat keinen Beruf erlernt. Von 1949 bis 1978 war sie als Büglerin, Verkäuferin und Kassiererin in einem Kaufhaus versicherungspflichtig beschäftigt. Zwischen Juli 1978 und Juli 1991 arbeitete sie – zunächst mit jeweils befristeten Arbeitsverträgen, ab Juni 1979 in einem unbefristeten Arbeitsvertrag – bei der Deutschen Bundespost zunächst im Paketabgang, ab April 1993 in der “Vereinigten Zustellung” des Postamtes B…. Nach einer seit dem 28. Dezember 1990 andauernden Arbeitsunfähigkeit wurde die Klägerin auf eine betriebsärztliche Untersuchung der Deutschen Bundespost durch Dr. J… vom 12. April 1991 für dienstunfähig erachtet. Aufgrund dessen bezieht die Klägerin eine Versorgungsrente der Versorgungsanstalt der Deutschen Bundespost.

Den Antrag der Klägerin auf Gewährung einer Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit von April 1991 lehnte die Beklagte ab, weil weder EU noch BU gegeben seien (Bescheid vom 27. November 1991; Widerspruchsbescheid vom 17. Juli 1992). Klage und Berufung sind erfolglos geblieben (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Mannheim vom 27. Januar 1993; Urteil des Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 4. November 1994). Das LSG hat zur Begründung seiner Entscheidung ausgeführt: Die Klägerin, die keinen Berufsschutz als Facharbeiterin oder obere Angelernte genieße, sei nicht berufs- oder erwerbsunfähig, weil sie breit verweisbar sei und noch vollschichtig leichte Arbeiten mit qualitativen Einschränkungen verrichten könne, die keine konkrete Benennung und keine Prüfung des Arbeitsmarktes erforderlich machten. Denn nach dem Ergebnis der medizinischen Beweisaufnahme bestehe bei der Klägerin auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt weiterhin ein vollschichtiges Leistungsvermögen für eine leichte körperliche Tätigkeit im Wechsel ohne Körperzwangshaltung, ohne vermehrtes Bücken, ohne Absturzgefahr, Klettern und Steigen auf Leitern und Gerüste, ohne Witterungsexposition für Kälte, Nässe und Hitze, ohne Nachtarbeit und ohne Streßarbeit.

Die Klägerin hat die vom Senat zugelassene Revision eingelegt. Sie rügt die Verletzung materiellen Rechts und trägt vor: Die bei ihr bestehenden umfangreichen Gesundheitsstörungen, insbesondere die koronare Herzkrankheit bei Zustand nach Vorderwandinfarkt 1984 und Remyokardinfarkt im März 1992 sowie eine Ballonerweiterung der koronaren Eingefäßerkrankung im August 1992, führten zu einer Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen, so daß Zweifel aufkommen müßten, ob sie mit dem verbliebenen Leistungsvermögen auch in einem Betrieb einsetzbar sei. Mit dem vom LSG beschriebenen qualitativen Leistungsvermögen könne sie auch iS der bisher entwickelten Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) dem Katalogfall zugerechnet werden, daß sie nur noch Tätigkeiten verrichten könne, die nur unter nicht betriebsüblichen Arbeitsbedingungen ausgeübt werden könnten. Jedenfalls sei aber die konkrete Benennung einer Verweisungstätigkeit deshalb erforderlich, weil für die Versichertengruppe, welcher die Klägerin angehöre, eine erhebliche Gefahr der Verschlossenheit des Arbeitsmarktes bestehe, wie sich aus den Vorlagebeschlüssen des 13. Senats an den Großen Senat (GrS) des BSG vom 23. November 1994 in den Verfahren 13 RJ 19/93, 13 RJ 71/93, 13 RJ 73/93 und 13 RJ 1/94 ergebe.

Die Klägerin beantragt,

die Urteile des Landessozialgerichts Baden-Württemberg vom 4. November 1994 und des Sozialgerichts Mannheim vom 27. Januar 1993 sowie den Bescheid der Beklagten vom 27. November 1991 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 17. Juli 1992 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, ihr ab 1. April 1991 Rente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit zu gewähren.

Die Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Sie hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

 

Entscheidungsgründe

II

Die zulässige Revision ist unbegründet. Das LSG hat zu Recht entschieden, daß der Klägerin keine Rente wegen EU oder BU zusteht.

Soweit die Klägerin sich zur Begründung ihrer Revision auf die Vorlagebeschlüsse des 13. Senats des BSG vom 23. November 1994 in den Verfahren 13 RJ 19/93, 13 RJ 71/93, 13 RJ 73/93 und 13 RJ 1/94 bezieht, hält der Senat ihr Vorbringen für unerheblich und verweist auf die Gründe seines Urteils vom 14. September 1995 – 5 RJ 50/94 – (SozR 3-2200 § 1246 Nr 50 = SGb 1995, 603 = NZS 1996, 228).

In dieser Entscheidung ist auch ausgeführt, daß der Senat wegen der Vorlage zur Rechtsfortbildung nach § 41 Abs 4 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG) an einer Entscheidung nicht gehindert ist und die Klägerin bei einer abweichenden Entscheidung des GrS nach Maßgabe der §§ 44 ff des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch – Verwaltungsverfahren – (SGB X) geschützt wird. Daß dieser Schutz nur längstens für einen Zeitraum bis zu vier Jahren in die Vergangenheit zurückreicht, ist eine sozialpolitische Entscheidung des Gesetzgebers, die als Grundsatzregelung für alle Fälle einer nachgeholten Leistungserbringung – dh nicht nur für Streitigkeiten wie die vorliegende – gilt, und die der Senat nicht dadurch korrigieren kann, daß er entscheidungsreife Sachen unentschieden läßt.

Wie im Senatsurteil vom 14. September 1995 (5 RJ 50/94, aaO) im einzelnen ausgeführt ist, ist die bisherige Rechtsprechung des BSG zur Verschlossenheit des Arbeitsmarktes nicht ergänzungsbedürftig. Insbesondere stellen die bei der Klägerin bestehenden gesundheitlichen Einschränkungen qualitativer Art keine Summierung ungewöhnlicher Leistungseinschränkungen dar. Vielmehr handelt es sich um eine – wenn auch nicht unerhebliche – Anzahl gewöhnlicher Leistungseinschränkungen, die nicht dazu führen, daß die Klägerin nur noch unter nicht betriebsüblichen Arbeitsbedingungen arbeiten könnte.

Im übrigen hat der Gesetzgeber durch die im Zweiten Gesetz zur Änderung des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch (Zweites SGB VI-Änderungsgesetz – 2. SGB VI-ÄndG) vom 2. Mai 1996 (BGBl I S 659) vorgenommene Ergänzung des § 43 Abs 2 des Sechsten Buches Sozialgesetzbuch – Gesetzliche Rentenversicherung – (SGB VI) klargestellt, daß nicht berufsunfähig ist, wer eine zumutbare Tätigkeit vollschichtig ausüben kann, wobei die jeweilige Arbeitsmarktlage nicht zu berücksichtigen ist. Entsprechend steht ein vollschichtiges Leistungsvermögen – ohne Berücksichtigung der jeweiligen Arbeitsmarktlage – erst recht der Annahme von EU entgegen, § 44 Abs 2 Satz 2 Nr 2 SGB VI. Dies gilt gemäß § 302b Abs 3 SGB VI in der Fassung des 2. SGB VI-ÄndG für alle Versicherten, deren Rente wegen verminderter Erwerbsfähigkeit vor dem 1. Juni 1996 noch nicht begonnen hat. Im vorliegenden Fall hat die Rente der Klägerin, da über sie noch nicht abschließend (“rechtskräftig”) entschieden ist, noch nicht “begonnen”. Dabei kann es wegen der klarstellenden Funktion der Rechtsänderung (BT-Drucks 13/2590 S 19; 13/3697 S 1, 3 ff; 13/3907 S 1, 5 ff) keinen Unterschied machen, ob der Anspruch auf Rente wegen Erwerbsminderung nach den Vorschriften des SGB VI oder – wie im Falle der Klägerin – nach den im wesentlichen gleichlautenden Normen der §§ 1246, 1247 der Reichsversicherungsordnung zu beurteilen ist.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 Abs 1 SGG.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1415608

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