Verfahrensgang
Schleswig-Holsteinisches LSG (Urteil vom 11.09.1990) |
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 11. September 1990 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Der Kläger beansprucht Versichertenrente wegen Erwerbsunfähigkeit, hilfsweise wegen Berufsunfähigkeit. Sein im Oktober 1987 gestellter Rentenantrag wurde von der Beklagten mit Bescheid vom 1. Juni 1988 abgelehnt. Die Klage blieb ohne Erfolg (Urteil des Sozialgerichts ≪SG≫ Kiel vom 15. Februar 1989). Die Berufung des Klägers hat das Schleswig-Holsteinische Landessozialgericht (LSG) durch ein am Schluß der Sitzung vom 11. September 1990 verkündetes Urteil zurückgewiesen. Dieses ist erst am 9. September 1991 in vollständiger Abfassung der Geschäftsstelle übergeben worden. Ausfertigungen des Urteils sind den Beteiligten am 10. September 1991 zugestellt worden.
Mit seiner vom Senat zugelassenen Revision rügt der Kläger eine Verletzung des § 551 Nr 7 Zivilprozeßordnung (ZPO) iVm § 202 des Sozialgerichtsgesetzes (SGG). Dem Fehlen von Gründen im Sinne dieser Vorschrift würden nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) auch die verspätete Absetzung und Zustellung eines Urteils gleichgestellt, weil dann nicht mehr gewährleistet sei, daß die schriftliche Begründung mit hinreichender Sicherheit das Beratungsergebnis wiedergebe. Die angefochtene Entscheidung sei nicht mit Gründen versehen, da zwischen Verkündung und Zustellung des Urteils ein Zeitraum von etwa einem Jahr gelegen habe. Dazu beruft sich der Kläger ua auf den Vorlagebeschluß des Großen Senats des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG) vom 23. April 1992 – GS 1.91 –, mit welchem dem Gemeinsamen Senat der obersten Gerichtshöfe des Bundes (GmS-OGB) die Frage vorgelegt wurde, ob ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaßtes Urteil im Sinne des § 138 Nr 6 der Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) nicht mit Gründen versehen ist, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen LSG vom 11. September 1990 aufzuheben und die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückzuverweisen.
Die Beklagte schließt sich dem Antrag sowie der Begründung des Klägers im Revisionsverfahren an.
Mit Beschluß vom 8. Oktober 1992 hat der erkennende Senat zunächst bei dem 1. Senat des BSG angefragt, ob dieser an seiner in dem Urteil vom 13. Mai 1992 – 1 RK 29/92 – (SozR 3-1750 § 551 Nr 3) vertretenen Rechtsauffassung festhalte, wonach ein Urteil – auch ohne Vorliegen weiterer Umstände – iS von § 551 Nr 7 ZPO iVm § 202 SGG als nicht mit Gründen versehen zu behandeln ist, wenn zwischen Verkündung und Zustellung „fast” ein Jahr (dort: fünf Tage weniger als ein Jahr) liegt. Nachdem dann der GmS-OGB in dem vom BVerwG eingeleiteten Verfahren (GmS-OGB 1/92) am 27. April 1993 beschlossen hatte, daß ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaßtes Urteil iS des § 138 Nr 6 VwGO nicht mit Gründen versehen ist, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind, hat der Senat seinen Anfragebeschluß vom 8. Oktober 1992 durch Beschluß vom 25. August 1993 aufgehoben.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung durch Urteil ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 SGG).
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Zurückverweisung der Sache an das LSG, weil das Berufungsurteil an dem vom Kläger ordnungsgemäß gerügten Mangel leidet und es somit keine taugliche Grundlage für eine Sachprüfung durch das BSG darstellt.
Der aufgrund der Verweisung in § 202 SGG auch im sozialgerichtlichen Verfahren anwendbare § 551 Nr 7 ZPO bestimmt, daß eine Entscheidung stets als auf einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen ist, wenn die Entscheidung nicht mit Gründen versehen ist. Diese Regelung ist dahin auszulegen, daß dem Fehlen von Gründen auch das Vorhandensein solcher Gründe gleichsteht, die wegen schwerer inhaltlicher Mängel (zB Unverständlichkeit) für eine revisionsgerichtliche Überprüfung untauglich sind. Die Frage, ob bereits eine bloße Verzögerung der Urteilsabsetzung auf eine derartige Untauglichkeit schließen läßt, ist bislang in der Rechtsprechung nicht einheitlich beantwortet worden. Der erkennende Senat hat sie in seinem Beschluß vom 8. Oktober 1992 zwar noch mit eingehender Begründung verneint, sieht sich jedoch durch die Entscheidung des GmS-OGB vom 27. April 1993 vor eine neue Situation gestellt. Dieser auf eine einheitliche Rechtsprechungslinie abzielende Beschluß zwingt zu einem Umdenken. Auch wenn die darin entwickelten Rechtsgrundsätze im vorliegenden Verfahren formal nicht verbindlich sind (vgl § 16 des Gesetzes zur Wahrung der Einheitlichkeit der Rechtsprechung der obersten Gerichtshöfe des Bundes vom 19. Juni 1968, BGBl I S 661 ≪RsprEinhG≫), hat sie der Senat seiner jetzigen Entscheidung zugrunde gelegt. Dafür sind insbesondere folgende Erwägungen maßgebend gewesen:
Zwar hat der GmS-OGB ausdrücklich nur zu § 138 Nr 6 VwGO entschieden, daß ein bei Verkündung noch nicht vollständig abgefaßtes Urteil nicht mit Gründen versehen ist, wenn Tatbestand und Entscheidungsgründe nicht binnen fünf Monaten nach Verkündung schriftlich niedergelegt, von den Richtern besonders unterschrieben und der Geschäftsstelle übergeben worden sind. Er hat jedoch deutlich gemacht, daß auch die im sozialgerichtlichen Verfahren geltenden Vorschriften (§§ 128, 134 SGG, § 551 Nr 7 ZPO iVm § 202 SGG) nicht nur in ihrem Wortlaut im wesentlichen mit § 108 Abs 1 Satz 2, § 117 Abs 4 und § 138 Nr 6 VwGO übereinstimmen, sondern auch in derselben Weise aufeinander bezogen und damit auch nach denselben Prinzipien auszulegen sind (vgl den Beschluß vom 27. April 1993 – GmS-OGB 1/92 – Umdr S 8 f). Es geht hier also um dieselbe Rechtsfrage, wie sie vom GmS-OGB entschieden worden ist. Eine abweichende Beurteilung müßte demnach, wenn sie nicht bereits am Großen Senat des BSG scheitert, jedenfalls wieder zum GmS-OGB führen. Da diesem der Senatsbeschluß vom 8. Oktober 1992 vor seiner Entscheidung zur Kenntnis gebracht werden konnte, ist nicht davon auszugehen, daß er seine Rechtsauffassung sogleich wieder ändert. Demgemäß entspricht es allein schon dem Gebot der Prozeßökonomie, im vorliegenden Fall § 551 Nr 7 ZPO nach den Grundsätzen des GmS-OGB auszulegen und anzuwenden. Damit wird zugleich auch dem Gedanken der Rechtssicherheit und Rechtsbeständigkeit Rechnung getragen, dem gerade bei der Rechtsprechung der obersten Bundesgerichte besondere Bedeutung zukommt.
Aber auch der Sache nach kann der Rechtsauffassung des GmS-OGB gefolgt werden. Zwar mögen nach wie vor Bedenken angebracht sein, ob nicht mit der Einführung der Fünfmonatsfrist für die Urteilsabsetzung die Grenzen der richterlichen Rechtsfortbildung überschritten werden (vgl Senatsbeschluß vom 8. Oktober 1992, Umdr S 12 ff). Jedoch hat der GmS-OGB beachtliche Gründe dargelegt, die das Festlegen einer solchen konkreten zeitlichen Grenze für das „Nachliefern” schriftlicher Entscheidungsgründe als geboten erscheinen lassen können. Auch wenn die Herleitung der Fünfmonatsfrist aus § 552 ZPO, wie der Senat in seinem Beschluß vom 8. Oktober 1992 (Umdr S 10 f) darzulegen versucht hat, nicht als zwingend erscheint, ist sie jedenfalls nachvollziehbar und im Ergebnis sachgerecht. Entscheidend für eine Übernahme der Auffassung des GmS-OGB spricht schließlich, daß eine Fristüberschreitung nur auf Rüge hin zur Aufhebung des angefochtenen Urteils führen soll. Damit ist einem wesentlichen Anliegen des erkennenden Senats Rechnung getragen worden. Er wollte nämlich insbesondere auch die Unzuträglichkeiten vermeiden, die sich bei einem von Amts wegen zu berücksichtigenden Revisionsgrund für die Beteiligten ergeben können (vgl Senatsbeschluß vom 8. Oktober 1992, Umdr S 14 f).
Nach den vom GmS-OGB entwickelten Grundsätzen ist das im vorliegenden Fall angefochtene Urteil des LSG iS von § 551 Nr 7 ZPO nicht mit Gründen versehen. Es ist nämlich am 10. September 1990 verkündet worden und erst am 9. September 1991 – also weit mehr als fünf Monate danach – in vollständiger Abfassung der Geschäftsstelle übergeben worden. Da der Kläger diesen Mangel ordnungsgemäß gerügt hat, kann das Berufungsurteil keinen Bestand haben. Die Entscheidung des LSG ist nämlich gemäß § 551 ZPO ohne weiteres als auf der Verletzung des Gesetzes (vgl § 162 SGG) beruhend anzusehen. Die Vorinstanz muß sich nunmehr erneut mit der Sache befassen.
Das LSG wird auch über die Kosten des Verfahrens zu entscheiden haben.
Fundstellen