Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 16. Dezember 1992 und des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 22. Mai 1991 sowie der Bescheid der Beschwerdekommission der Beklagten vom 6. Dezember 1989 aufgehoben.
Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten des Rechtsstreits zu erstatten. Im übrigen sind Kosten des Rechtsstreits nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Zwischen den Beteiligten ist streitig, ob die Beschwerdekommission der Beklagten zu Recht die Verhängung eines Arzneikostenregresses gegen den Beigeladenen für die Quartale I/86 bis III/86 und I/87 abgelehnt hat.
Der Beigeladene ist als Frauenarzt seit 1979 in Kassel niedergelassen und zur kassen- und vertragsärztlichen (jetzt allein: vertragsärztlichen) Versorgung zugelassen. In den streitigen Quartalen überschritt er bei seiner Verordnungstätigkeit den maßgebenden Fachgruppendurchschnitt um 93,6%, 79,6%, 87% bzw 96%. Auf die Prüfanträge des Klägers vom August und November 1986, Februar und August 1987 erklärte der Beigeladene für das Quartal I/86 die Überschreitung damit, daß er 63 kostenintensive Fälle habe, die zusammen einen Verordnungsbetrag von 7.012,35 DM ausmachten, und legte eine entsprechende Einzelaufstellung vor. Für das Quartal II/86 führte er 53 schwere Fälle mit einem Verordnungsbetrag von 5.879,52 DM an und legte ebenfalls eine Einzelaufstellung vor.
Nach dem Bericht des Prüfarztes, daß keine Einsparmöglichkeiten festzustellen seien, lehnte die Prüfungskommission der Beklagten die Festsetzung eines Regresses ab und wies mit Bescheiden vom 9. März, 8. Juli und 3. September 1987 sowie 7. April 1988 die Anträge des Klägers unter Hinweis auf die Sitzungsniederschriften ab. Die Widersprüche des Klägers wies die Beschwerdekommission der Beklagten durch Bescheid vom 6. Dezember 1989 zurück. Zwar lägen die vom Beigeladenen veranlaßten Arzneikosten im Bereich des offensichtlichen Mißverhältnisses zu den Durchschnittswerten der Vergleichsgruppe. Die Mehraufwendungen seien aber im wesentlichen auf Praxisbesonderheiten zurückzuführen. Zunächst müßten die Verordnungen im Rahmen der Mutterschafts-Vorsorgeleistungen und Früherkennungsuntersuchungen ohne kurative Abrechnungsscheine herausgenommen werden. Eine weitere Besonderheit sei die ausgedehnte mykologische Sprechstunde unter Einbeziehung schwieriger und bislang erfolglos behandelter Fälle, ebenso Endometriose- und Sterilitätsbehandlungen sowie eingehende hormonelle Substitutionen im Klimakterium. Die auf nur wenige Behandlungsfälle entfallenden möglichen Einsparungsbeträge rechtfertigten keinen Pauschalregreß.
Durch Urteil vom 22. Mai 1991 hat das Sozialgericht (SG) die im wesentlichen darauf gestützte Klage, daß keine Praxisbesonderheiten vorlägen, vielmehr Erkrankungen der genannten Art sich in jeder Frauenarztpraxis ergäben und bereits in den allgemeinen Durchschnittswerten mitberücksichtigt seien, abgewiesen. Die Beschwerdekommission habe Praxisbesonderheiten ausreichend bezeichnet, der Kläger dies nicht substantiiert bestritten. Es reiche, wenn sich die Beurteilung der Prüfgremien auf die „ungefähre Richtigkeit” beschränke. Der Sinn des statistischen Verfahrens werde verfehlt, wenn bei Überschreiten bestimmter Durchschnittswerte Prüfmaßnahmen im Sinn eines „Automatismus” zwingend die Folge sein müßten.
Das Berufungsgericht hat die Berufung des Klägers durch Urteil vom 16. Dezember 1992 zurückgewiesen. Die vom Beigeladenen vorgetragenen Eigenheiten seiner Behandlungs- und Verordnungsweise könnten durchaus Praxisbesonderheiten darstellen. Der vom Kläger dagegen vorgebrachte Einwand, in allen Praxen seien kostenaufwendige Fälle vorhanden, höre sich zwar vordergründig überzeugend an, halte aber einer genaueren Nachprüfung nicht stand, wie anhand der statistischen Angaben festzustellen sei. Nach diesen sei die Anerkennung einer Praxisbesonderheit zwingend und entspreche den Sätzen der Logik. Die Aussagekraft der statistischen Vergleichszahlen sei als widerlegt anzusehen. Die Beschwerdekommission habe auch den ihr zustehenden Beurteilungsspielraum nicht überschritten, wenn sie es abgelehnt habe, einen pauschalen Regreß auszusprechen. Selbst bei dem von der Beschwerdekommission darüber hinaus durchgeführten Prüfungsverfahren durch den Prüfarzt hätten sich keine Anhaltspunkte für eine unwirtschaftliche Verordnungsweise des Beigeladenen erkennen lassen. Bei diesem Verfahren bestehe keine Notwendigkeit mehr, den Umfang von Praxisbesonderheiten zu schätzen, da letztlich durch die Prüfgremien die Feststellung begründet dargelegt worden sei, daß eine Unwirtschaftlichkeit nicht feststellbar sei. An dieser Feststellung zu zweifeln, habe der Senat keinen Anlaß. Daher sei auch für weitergehende Ermittlungen, wie der Kläger sie wünsche, kein Ansatzpunkt ersichtlich.
Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision rügt der Kläger die Verletzung des § 1 Nr 5, § 2 Nr 2 des Arzt/Ersatzkassenvertrages (EKV-Ärzte). Die Auffassung des Berufungsgerichts, bei dem Beigeladenen hätten in den streitigen Quartalen Praxisbesonderheiten vorgelegen, sei unzutreffend und im angefochtenen Bescheid nicht ausreichend begründet worden. Selbst wenn aber unterstellt werde, daß die Zahl der von der Beklagten als Praxisbesonderheiten bezeichneten Erkrankungen bei der Fachgruppe tatsächlich erheblich niedriger als beim Beigeladenen sei, hätte die Beklagte keine ordnungsgemäße Wirtschaftlichkeitsprüfung durchgeführt. Insbesondere liege keine Einzelfallprüfung im Sinn der Rechtsprechung vor, weil sich anhand des Vergleichs der Diagnosen mit den Therapiemaßnahmen kein zwingender Schluß auf die Richtigkeit der Maßnahmen ergebe. Die Beklagte sei im Sinn einer bloßen Schlüssigkeitsprüfung vorgegangen, die nicht zum Nachweis der Wirtschaftlichkeit geführt werden könne, und habe mit Hilfe einer Plausibilitätsprüfung und anschließenden Hochrechnung trotz des Dagegensprechens des statistischen Ergebnisses festgestellt, daß letztlich von der Wirtschaftlichkeit der Verordnungsweise des Beigeladenen ausgegangen werden könne.
Der Kläger beantragt,
die Urteile des Hessischen Landessozialgerichts vom 16. Dezember 1992 und des Sozialgerichts Frankfurt am Main vom 22. Mai 1991 sowie den Bescheid der Beschwerdekommision der Beklagten vom 6. Dezember 1989 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Sie hält die Urteile der Vorinstanzen für zutreffend und hebt nochmals hervor, daß die von der Beschwerdekommission durchgeführte beschränkte Einzelfallprüfung so wesentliche Anhaltspunkte für das Vorliegen von Praxisbesonderheiten zutage gefördert habe, daß hierdurch der Beweiswert des statistischen Zahlenvergleichs relativiert worden sei. Unter diesen Umständen sei es den Prüfungsinstanzen nach Ausschöpfung aller sonstigen Erkenntnismöglichkeiten nicht möglich gewesen, den für einen Regreßbescheid erforderlichen Nachweis der Unwirtschaftlichkeit zu erbringen.
Der Beigeladene beantragt,
die Revision des Klägers gegen das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 16. Dezember 1992 zurückzuweisen.
Er tritt dem Urteil des Berufungsgerichtes bei und ist ebenfalls der Auffassung, daß die beim Beigeladenen festgestellten Überschreitungen der Fachgruppenwerte durch Praxisbesonderheiten gerechtfertigt seien.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision des Klägers ist begründet. Der Bescheid der Beschwerdekommission vom 6. Dezember 1989, der nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats alleiniger Gegenstand des Gerichtsverfahrens ist (zuletzt SozR 3-2500 § 106 Nr 22 mwN), war nicht ausreichend iS des § 35 Abs 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches (SGB X) begründet und ist zu Unrecht durch die Vorinstanzen bestätigt worden.
Nach § 17 Nr 1 des hier noch maßgebenden EKV-Ärzte vom 20. Juli 1963 in der ab 1. Juli 1988 geltenden Fassung (aF) entschieden die Prüfungskommission und – gemäß § 17 Nr 5 EKV-Ärzte aF auf Widerspruch im Beschwerdeverfahren – die Beschwerdekommission darüber, ob die Arzneiverordnungsweise eines Vertragsarztes nach den Regeln der ärztlichen Kunst dem Maß des Notwendigen und dem Gebot der Wirtschaftlichkeit entsprach. War das nicht der Fall, hatten die Prüfgremien festzulegen, in welcher Höhe der Vertragsarzt den Vertragskassen Schadenersatz zu leisten hatte (§ 17 Nr 4 EKV-Ärzte aF). Wurde die Verordnungsweise mit der Methode des statistischen Fallkostenvergleichs geprüft, war der Beweis der Unwirtschaftlichkeit erbracht, wenn die Verordnungskosten des Arztes in einem offensichtlichen Mißverhältnis zu den durchschnittlichen Verordnungskosten seiner Fachkollegen standen, diese also in einem Ausmaß überschritten, bei dem sich der Mehraufwand regelmäßig nicht mehr durch Unterschiede in der Praxisstruktur und den Behandlungsnotwendigkeiten erklären ließ.
Die Beschwerdekommission zog nicht in Zweifel, daß bei Überschreitungen des Arzneikostendurchschnitts der Fachgruppe von 80% bis 96%, wie sie hier festgestellt sind, in der Regel ohne weiteres von einem offensichtlichen Mißverhältnis und damit einer unwirtschaftlichen Verordnungsweise ausgegangen werden konnte. Nach ihrer Ansicht kam den statistischen Abweichungen im gegebenen Fall jedoch kein solcher Beweiswert zu, weil der hohe Arzneimittelaufwand des Beigeladenen im wesentlichen auf Praxisbesonderheiten zurückzuführen war. Daß und ggf in welchem Umfang solche die Verordnungskosten erhöhenden besonderen Umstände vorlagen, ist aus ihrem Bescheid indessen nicht zu ersehen und damit für die Beteiligten und das Gericht nicht nachprüfbar. Der bloße Hinweis, daß es sich um relativ schwere und medizinisch aufwendige Fälle handelte, genügte für sich allein nicht, um von Praxisbesonderheiten sprechen zu können (vgl erk Senat SozR 2200 § 368n Nr 31 S 102).
Damit bestimmte Gruppen ärztlicher Leistungen überhaupt als bei der Wirtschaftlichkeitsprüfung zu berücksichtigende Praxisbesonderheiten anerkannt werden können, müssen sie entweder ihrer Art nach für die Arztpraxen der Vergleichsgruppe atypisch sein oder von ihrer Häufigkeit in der geprüften Arztpraxis her so wesentlich über ihrem durchschnittlichen Anteil in den Praxen der Vergleichsgruppe liegen, daß allein die große Zahl im Ergebnis ein (spezifisches) Qualitätsmerkmal der betreffenden Arztpraxis darstellt. Zu ihrer Darlegung genügt es deshalb nicht, wenn bestimmte Leistungen der geprüften Arztpraxis bloß als besonders kostenaufwendig herausgestellt werden. Vielmehr muß substantiiert dargetan werden, inwiefern sich die Praxis gerade in bezug auf diese Merkmale im angeführten Sinn von den anderen Praxen der Fachgruppe unterscheidet.
Bei den von der Beschwerdekommission angeführten Leistungen (Verordnungen im Rahmen von Mutterschaftsvorsorgeleistungen und Früherkennungsuntersuchungen, Behandlung mykologischer Problemfälle, Endometriose- und Sterilitätsbehandlungen sowie hormonelle Substitution im Klimakterium) handelte es sich nach dem unwidersprochenen Vortrag des Klägers um Maßnahmen, die zum typischen Tätigkeitsspektrum gynäkologischer Praxen gehörten. Eine Anerkennung als Praxisbesonderheiten schon ihrer Art wegen schied daher von vornherein aus. Überdurchschnittliche Verordnungskosten hätten sich aus ihnen folglich nur rechtfertigen lassen, wenn sie wegen einer von der Regelarztpraxis abweichenden Zusammensetzung der Patienten des Beigeladenen signifikant gehäuft aufgetreten wären. Hierzu traf die Beschwerdekommission jedoch keine hinreichenden Feststellungen. Die bloß pauschale Beurteilung, für die Praxis des Beigeladenen seien „ein überdurchschnittlich hoher Teil mykologischer Problemfälle” und „ein Mehr an Endometriose- und Sterilitätsbehandlungen” zu bestätigen, genügte nicht. Erforderlich wäre vielmehr gewesen, statistische Unterlagen dazu heranzuziehen und zu verwerten, in welchem Umfang die betreffenden Behandlungsmaßnahmen in den anderen Praxen der Fachgruppe erbracht wurden und welche abweichenden Daten bei dem Beigeladenen vorlagen.
Mit dem Einwand, die Notwendigkeit der umfangreichen Arzneiverordnungen habe sich bei der Überprüfung einer großen Zahl von Behandlungsscheinen bestätigt, kann die Beklagte nicht gehört werden. Der Senat hat mehrfach darauf hingewiesen, daß die für die Wirtschaftlichkeitsprüfung in Betracht kommenden Beweismethoden – Einzelfallprüfung oder statistische Vergleichsprüfung – nicht miteinander vermengt werden dürfen, weil jede von ihnen nur dann zu rechtlich tragbaren Ergebnissen führt, wenn die ihr eigenen Gesetzmäßigkeiten beachtet werden. Die Durchsicht von Behandlungsscheinen kann im Rahmen einer Vergleichsprüfung zwar zusätzliche Erkenntnisse vermitteln, die aus methodischer Sicht erforderlichen Feststellungen aber nicht ersetzen.
Der angefochtene Bescheid und die ihn bestätigenden Urteile der Vorinstanzen mußten nach alledem aufgehoben werden. Die Beklagte wird nunmehr unter Beachtung der Rechtsauffassung des Senats über die Widersprüche des Klägers gegen die Prüfentscheidungen für die Quartale I/86 bis III/86 und I/87 erneut zu befinden haben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen