Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 26. Oktober 1994 aufgehoben.
Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 4. Oktober 1993 wird zurückgewiesen.
Außergerichtliche Kosten sind in sämtlichen Rechtszügen nicht zu erstatten.
Tatbestand
I
Bei dem 1973 geborenen Kläger stellte der Beklagte mit Bescheid vom 30. Juli 1981 als Behinderung „Zuckerkrankheit” (Diabetes mellitus) mit einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (heute: Grad der Behinderung ≪GdB≫) um 50 fest. Außerdem erkannte der Beklagte die Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich H (Hilflosigkeit) an. Insoweit hob er seine Entscheidung wegen Änderung der Verhältnisse mit Bescheid vom 7. November 1991 (Widerspruchsbescheid vom 30. Januar 1992) auf: Nur wegen der besonderen Situation bei Kindern und Jugendlichen führe Diabetes mellitus zu Hilflosigkeit. Ab Vollendung des 18. Lebensjahres lägen die gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich H deshalb nicht mehr vor.
Das Sozialgericht (SG) hat die Verwaltungsentscheidungen bestätigt (Urteil vom 4. Oktober 1993). Das Landessozialgericht (LSG) hat dieses Urteil und die angefochtenen Bescheide aufgehoben (Urteil vom 26. Oktober 1994). Der Kläger sei unabhängig von seinem Lebensalter nie hilflos gewesen. Die tatsächlichen Verhältnisse hätten sich deshalb durch Vollendung des 18. Lebensjahres, anders als nach § 48 Abs 1 des Zehnten Buches Sozialgesetzbuch (SGB X) für eine Entziehung des Nachteilsausgleichs H erforderlich, nicht wesentlich geändert.
Mit der Revision macht der Beklagte geltend, entgegen der Auffassung des LSG sei in den Verhältnissen, die 1981 zur Zuerkennung des Nachteilsausgleichs H geführt hätten, eine Änderung eingetreten, so daß die Voraussetzungen für eine Neufeststellung nach § 48 Abs 1 SGB X vorlägen. 1981 sei der Kläger aufgrund der bei ihm bestehenden Zuckerkrankheit hilflos gewesen. Dieser Zustand der Hilflosigkeit bestehe seit Vollendung des 18. Lebensjahres nicht mehr.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 26. Oktober 1994 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Lübeck vom 4. Oktober 1993 zurückzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision ist begründet. Das SG hat die angefochtenen Bescheide zu Recht bestätigt. Anders als vom LSG angenommen, haben sich die tatsächlichen Verhältnisse, die 1981 zur Zuerkennung des Nachteilsausgleichs H geführt hatten, dadurch iS des § 48 Abs 1 SGB X wesentlich geändert, daß der Kläger 1991 18 Jahre alt geworden ist. Dem Kläger stand der Nachteilsausgleich H im Zeitpunkt des Änderungsbescheides vom 7. November 1991 nicht mehr zu.
Das LSG vermißt eine wesentliche, dh rechtserhebliche (BSGE 59, 111, 112 = SozR 1300 § 48 Nr 19) Änderung, weil der Kläger wegen seiner Zuckerkrankheit weder als achtjähriges Kind im Jahre 1981 hilflos gewesen sei, als ihm der Nachteilsausgleich H zugebilligt wurde, noch mit 18 Jahren als junger Erwachsener, als der Beklagte ihm diese Vergünstigung entzogen hat. Das LSG stützt sich dabei zwar auf Rechtsprechung des Senats (SozR 1300 § 48 Nr 13; BSGE 67, 204 = SozR 3-3870 § 4 Nr 1). Danach kennt das Schwerbehindertenrecht für den steuerrechtlich bedeutsamen Nachteilsausgleich H keinen besonderen Begriff der Hilflosigkeit bei Kindern, so daß eine gesetzliche Grundlage für die Verwaltungspraxis fehlt, nach der in Übereinstimmung mit den „Anhaltspunkten für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertengesetz” (AHP) im Kindesalter Hilflosigkeit unter erleichterten Voraussetzungen zugebilligt wird. Ohne überzeugenden Grund weicht das LSG aber von der zitierten Rechtsprechung des erkennenden Senats ab, indem es die ohne gesetzliche Grundlage mit Rücksicht auf das Kindesalter zuerkannte Begünstigung für unabänderlich auch bei Erreichen und nach Überschreiten des in den AHP festgelegten Höchstalters hält.
Das LSG beruft sich für seine abweichende Auffassung auf eine Entscheidung des 10. Senats des Bundessozialgerichts (BSG), nach der es für die Frage, ob eine wesentliche Änderung in den rechtlichen Verhältnissen eingetreten ist, auf einen Vergleich der materiellen Rechtslage zum Zeitpunkt des Erlasses des Verwaltungsaktes und zum Zeitpunkt der eingetretenen Änderung ankommt (BSGE 65, 301, 302 = SozR 1300 § 48 Nr 60). Nach diesem Maßstab – so das LSG – hätten sich die tatsächlichen oder rechtlichen Umstände in der Zeit von 1981 bis 1991 nicht geändert; insbesondere sei es rechtlich ohne Bedeutung, daß der Kläger inzwischen das 18. Lebensjahr vollendet habe. Das trifft indessen nicht zu.
Der erkennende Senat hat sich der vom LSG für seine Auffassung in Anspruch genommenen Entscheidung des 10. Senats (vgl dazu dessen weitere, klarstellende Entscheidung SozR 3-1300 § 48 Nr 47) ausdrücklich angeschlossen und ebenfalls ausgesprochen, daß es für eine wesentliche Änderung der tatsächlichen oder rechtlichen Verhältnisse, die bei Erlaß eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen haben, nicht auf den Inhalt des Bewilligungsbescheides ankommt, sondern – „an sich” – auf die objektiven, von der Rechtsordnung für maßgeblich erklärten Umstände (SozR 3870 § 4 Nr 3; vgl auch BSGE 67, 204, 210 = SozR 3-3870 § 4 Nr 1). Der 10. Senat konnte sich in der erwähnten Entscheidung auf diese Aussage beschränken, weil die tatsächlichen Verhältnisse unverändert geblieben waren und der rechtswidrig begünstigte Kläger auch durch die geänderte Rechtsvorschrift nicht in den Kreis der Leistungsberechtigten einbezogen worden war, so daß ein Anspruch auf Leistung weder nach altem noch nach neuem Recht zustand. Der erkennende Senat hatte darüber hinaus zu entscheiden, ob § 48 Abs 1 SGB X auch dann anzuwenden ist, wenn sich nachträglich Tatsachen ändern, auf die der Bewilligungsbescheid zu Unrecht gestützt worden ist, die also für die Behörde zu Unrecht maßgebend waren. Der Senat hat diese Frage bejaht. Liegt ein solcher Fall vor und beruht die Entscheidung der Verwaltung auf – veröffentlichten – Maßstäben, die für das einheitliche Verwaltungshandeln herangezogen werden, ist auch eine solche Tatsache für die Bewilligung der Dauerleistung oder für eine Statusfeststellung im Rechtssinn wesentlich; denn auch der fehlerhafte Maßstab steuert iS der Gleichbehandlung die Verwaltungspraxis. Der Wegfall von Tatsachen, die nach dem fehlerhaften Maßstab wesentlich sind und deren Bedeutung für die Entscheidung in einem objektiven Sinn „erkennbar” ist, bewirkt eine wesentliche Änderung iS von § 48 SGB X (BSGE 67, 204, 210 f = SozR 3-3870 § 4 Nr 1). Zu diesem Ergebnis kommt auch die Literatur (Gagel, SGb 1990, 252, 253; Steinwedel in KassKomm, Stand 1995, § 48 SGB X Rz 31; Schneider-Danwitz in GK, Stand 1996, § 48 SGB X Anm 41b, bb; Schroeder-Printzen/Wiesner, SGB X, 3. Aufl 1996, § 48 Rz 6).
Zu den erkennbar objektiv bedeutsamen Tatsachen gehört im vorliegenden Fall als Grundlage der fehlerhaften Feststellung der gesundheitlichen Voraussetzungen für den Nachteilsausgleich H auch das Lebensalter des Klägers. Nach Nr 6 Abs 4 Buchst h der AHP in der Fassung, die 1981 gegolten hat (AHP 1977), war das Kindesalter des Klägers Voraussetzung für den begünstigenden Verwaltungsakt. Diese Vorschrift ist als Nr 22 Abs 4 Buchst h mit einer geringfügigen Änderung in die seit 1983 geltende Neufassung der AHP übernommen worden.
Entgegen der Auffassung des LSG war der Beklagte auch nicht deshalb gehindert, den Nachteilsausgleich H wegen Vollendung des 18. Lebensjahres zu entziehen, weil der 1981 ergangene Erstbescheid das Alter des Klägers als maßgeblichen Gesichtspunkt nicht ausdrücklich genannt hatte. Dem Berufungsurteil liegt die Vorstellung zugrunde, ein Bescheid dürfe nach § 48 SGB X wegen Änderung der Verhältnisse nur geändert werden, wenn dem Betroffenen die Bedeutung dieser Verhältnisse für den Erstbescheid bekannt war. Das trifft nicht zu. § 48 SGB X schützt das Vertrauen des Bürgers in den Fortbestand einer einmal getroffenen Regelung, bis sich die Verhältnisse ändern, auf denen diese Regelung beruht. Welche Verhältnisse dem Erstbescheid zugrunde gelegen haben, hängt nicht von den Vorstellungen der Verwaltung ab, ergibt sich auch nicht aus der Begründung des Bescheides, sondern wird vom Gesetz bestimmt (BSGE 65, 301, 302 = SozR 1300 § 48 Nr 60; SozR 3-3870 § 4 Nr 10). Fehlt dem Erstbescheid die gesetzliche Grundlage, beruht er aber – wie hier – objektiv erkennbar auf einem fehlerhaften Maßstab, so bestimmt statt der materiellen Rechtslage zum Zeitpunkt seines Erlasses dieser fehlerhafte Maßstab – hier die AHP – die Verhältnisse iS des § 48 SGB X. Solange die danach maßgeblichen Verhältnisse unverändert bleiben, genießt der rechtswidrig Begünstigte Vertrauensschutz. Ändern sich jedoch die nach dem fehlerhaften Maßstab als maßgeblich angesehenen Verhältnisse wesentlich (hier: Vollendung des 18. Lebensjahres), so ist die Begünstigung gemäß § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X zu entziehen.
Die Kostenentscheidung entspricht § 193 SGG.
Fundstellen