Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 06.07.1988; Aktenzeichen L 8 J 183/87)

SG Münster (Urteil vom 27.01.1987)

 

Tenor

Auf die Revision des Klägers werden die Urteile des Landessozialgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 6. Juli 1988 und des Sozialgerichts Münster vom 27. Januar 1987 geändert. Die angefochtenen Bescheide werden aufgehoben.

Der Beklagte wird verurteilt, dem Kläger Berufsschadensausgleich ab 1. August 1980 unter Zugrundelegung eines Vergleichseinkommens nach Besoldungsgruppe A 15, Dienstaltersstufe 15, zuzüglich des Ortszuschlags nach Stufe 2 des Bundesbesoldungsgesetzes, ab 1. Oktober 1981 vermindert um 25 vH, zu gewähren.

Der Beklagte hat dem Kläger die außergerichtlichen Kosten in sämtlichen Rechtszügen zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Streitig ist, wie der berufliche Schaden zu ermitteln ist, wenn ein in seinem Beruf verbliebener Schwerbeschädigter das Durchschnittseinkommen seiner Berufsgruppe nicht erreicht.

Der 1924 geborene Kläger wurde, obwohl er im Krieg als Berufsoffizier eine schwere Verwundung mit Verlust des rechten Oberarmes erlitten hatte, im Jahre 1956 als Oberleutnant in die Bundeswehr übernommen. Zuletzt wurde er 1971 zum Oberstleutnant (Besoldungsgruppe A 14) befördert. Seit Juni 1980 ist die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) mit 90 vH festgestellt. Im Oktober 1981 trat der Kläger wegen Erreichens der Altersgrenze in den Ruhestand.

Seine im August 1980 gestellten Anträge auf Anerkennung eines besonderen beruflichen Betroffenseins und Gewährung von Berufsschadensausgleich (BSA) blieben erfolglos. Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 27. Januar 1987). Im Berufungsverfahren hat der Kläger die Klage, soweit sie die besondere berufliche Betroffenheit zum Gegenstand hatte, zurückgenommen. Hinsichtlich der Gewährung von BSA hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 6. Juli 1988 die Berufung zurückgewiesen: Der Kläger habe keinen Anspruch auf BSA, weil er nicht durch die Schädigungsfolgen gehindert worden sei, in die Stelle eines Oberstleutnants der Besoldungsgruppe A 15 aufzusteigen. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme, insbesondere der Auswertung der Personalakten und der Auskunft des Bundesministers der Verteidigung ergebe sich, daß die Schädigungsfolgen den Kläger nicht wesentlich beeinträchtigt hätten. Mit dem Erreichen der Besoldungsgruppe A 14 habe der Kläger eine seinen Kenntnissen und seiner Vorbildung entsprechende berufliche Stellung erlangt. Daß er nicht weiter aufgestiegen sei, habe an der unabhängig von den Schädigungsfolgen im Vergleich zu anderen Offizieren geringeren Qualifikation des Klägers und der allgemeinen Beförderungssituation in der Bundeswehr gelegen. Auch Armamputierte könnten beruflich voll leistungsfähig sein. Das ergebe sich daraus, daß solche Personen als Richter, höhere Ministerialbeamte, Geschäftsführer usw tätig seien. Dem LSG sei ein armamputierter Oberst der Bundeswehr bekannt. Das Gericht bestelle auch einen armamputierten Arzt häufiger zum Sachverständigen. Der Kläger habe somit weder vor noch nach seinem Eintritt in den Ruhestand einen schädigungsbedingten Einkommensverlust erlitten.

Dagegen richtet sich die vom Bundessozialgericht (BSG) zugelassene Revision des Klägers. Er beanstandet, daß das LSG durch eine Beweisaufnahme zu ermitteln versucht habe, ob er durch die Schädigungsfolgen an einem weiteren beruflichen Aufstieg gehindert worden sei. Statt dessen hätte das LSG den Berufsschaden allein aus dem Unterschied zwischen dem zugrunde zu legenden Vergleichseinkommen nach der Besoldungsgruppe A 15 und dem tatsächlichen Bruttoeinkommen nach A 14 entnehmen müssen. Soweit das LSG zu dem Ergebnis gekommen sei, er, der Kläger, sei nicht wegen seiner Kriegsbeschädigung an einem weiteren beruflichen Aufstieg gehindert worden, habe es den Sachverhalt unvollständig aufgeklärt und die Grenzen freier richterlicher Beweiswürdigung überschritten.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten unter Aufhebung der entgegenstehenden Entscheidungen zu verurteilen, ihm Berufsschadensausgleich ab 1. August 1980 unter Zugrundelegung eines Vergleichseinkommens nach Besoldungsgruppe A 15, Dienstaltersstufe 15 zuzüglich eines Ortszuschlags nach Stufe 2 des Bundesbesoldungsgesetzes, ab 1. Oktober 1981 vermindert um 25 vH, zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Revision zurückzuweisen.

Er vertritt die Auffassung, daß dem Kläger BSA nicht schon deshalb zu gewähren sei, weil er das für ihn maßgebliche Vergleichseinkommen nicht erreicht habe. Es sei vielmehr konkret festzustellen, ob die Schädigungsfolgen dafür ursächlich gewesen sind. Nach den vom LSG getroffenen Feststellungen sei das nicht der Fall.

Die Beigeladene schließt sich den Ausführungen des Beklagten an. Zumindest wenn ein schädigungsbedingter Berufswechsel nicht vorliege, könne ein BSA nicht schon mit dem Unterschied zwischen dem maßgeblichen Vergleichseinkommen und dem tatsächlichen Einkommen begründet werden. Das hätte sonst zur Folge, daß bei jedem Beschädigten, der in seinem Beruf nicht das Durchschnittseinkommen seiner Berufs- oder Wirtschaftsgruppe erreiche, BSA auch in den Fällen gezahlt werden müsse, in denen die Schädigungsfolgen dafür nicht verantwortlich gemacht werden könnten.

Die Beteiligten sind mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden.

 

Entscheidungsgründe

II

Die Revision des Klägers ist begründet.

Er hat Anspruch auf BSA, weil er schädigungsbedingt einen Einkommensverlust erlitten hat (§ 30 Abs 3 und 4 Satz 1 Bundesversorgungsgesetz -BVG- idF durch das 10. Anpassungsgesetz-KOV vom 10. August 1978, BGBl I 1217), indem er das für ihn als Berufsoffizier nach Vollendung des 47. Lebensjahres maßgebliche Vergleichseinkommen der Besoldungsgruppe A 15 Bundesbesoldungsgesetz (BBesG) nicht erreicht hat (§ 4 Abs 3 der Verordnung zur Durchführung des § 30 Abs 3 bis 5 BVG vom 18. Januar 1977 – BGBl I 162 –, an deren Stelle seit dem 7. Juli 1984 die an den hier einschlägigen Stellen unveränderte Verordnung zur Durchführung des § 30 Abs 3 bis 6 BVG – Berufsschadensausgleichsverordnung -BSchAV-BGBl I 861 getreten ist). Dem kann nicht entgegengehalten werden, die Beweisaufnahme habe nicht ergeben, daß er ohne die Schädigung wahrscheinlich dieses Vergleichseinkommen erreicht hätte. Da ein solcher Beweis – wie die vom LSG durchgeführte Beweisaufnahme zeigt – praktisch nur schwer erbracht werden kann, verlangt das Gesetz im Regelfall keinen vollen Beweis, sondern räumt weitgehende Beweiserleichterungen ein.

Das gilt zunächst für die Fälle, in denen der Beschädigte nach der Schädigung seinen bisherigen Beruf aufgegeben oder den angestrebten Beruf nicht erreicht hat. In diesen Fällen ist nach § 30 Abs 4 Satz 2 BVG, § 2 Abs 1 Satz 1 BSchAV nur darüber Beweis zu erheben, welcher Berufsgruppe der Beschädigte ohne die Schädigung wahrscheinlich angehört hätte. Dabei sind die individuellen Umstände maßgebend: Lebensverhältnisse, Kenntnisse und Fähigkeiten, bisheriger Arbeits-und Ausbildungsweg. Was der Beschädigte in dieser so ermittelten Berufsgruppe, also nach seiner „Einstufung” verdient hätte, wird nach § 2 Abs 1 Satz 2 BSchAV nicht durch weitere Beweiserhebung festgestellt, sondern allein aus den nach den Vorschriften der BSchAV maßgeblichen Tabellen der Durchschnittseinkommen in der Wirtschaft oder den einschlägigen Besoldungstabellen entnommen.

Der Beschädigte kann nach seiner Einstufung gemäß § 2 Abs 1 Satz 1 BSchAV nicht geltend machen, er hätte einen größeren Berufserfolg gehabt und mehr verdient, als §§ 3 ff BSchAV festlegen. Die Versorgungsverwaltung kann aber auch nicht umgekehrt geltend machen, der Beschädigte hätte als Gesunder weniger verdient. Mit der Festlegung der Vergleichseinkommen hat der Gesetzgeber im Interesse der Beweiserleichterung und der Verwaltungsvereinfachung in Kauf genommen, daß der tatsächliche berufliche Schaden im Einzelfall höher oder niedriger liegen kann (vgl BSGE 33, 60 = SozR Nr 47 zu § 30 BVG; BSG SozR 3100 § 30 Nr 47).

Was für die Fälle des Berufswechsels in § 30 Abs 4 Satz 2 BVG und § 2 Abs 1 BSchAV geregelt ist, ist grundsätzlich auch auf die Fälle anwendbar, in denen der Beschädigte trotz seiner Schädigung den ausgeübten Beruf beibehalten oder den angestrebten Beruf erreicht hat (§ 2 Abs 3 Satz 1 BSchAV). Wie der Senat bereits mehrfach entschieden hat, kann auch dann Anspruch auf BSA bestehen, weil der Beschädigte wegen der Schädigung nicht das Einkommen erzielt, das er als Gesunder erzielt hätte (BSG SozR Nr 43 zu § 30 BVG; Urteil vom 13. August 1986 – 9a RV 12/84 – nicht veröffentlicht). Das bedeutet aber nicht, daß hier im Unterschied zu den in § 2 Abs 1 BSchAV geregelten Fällen des Berufswechsels nachgewiesen werden müßte, was der Beschädigte als Gesunder verdient hätte. Vielmehr gilt nach § 2 Abs 3 BSchAV der Absatz 1 entsprechend, „wenn der Beschädigte die nach diesen Vorschriften in Betracht kommende Tätigkeit ausübt”.

Es ist allerdings einzuräumen, daß damit der Verordnungsgeber nicht gemeint haben kann, es sei zugunsten aller Beschädigten, die ihren Beruf nicht gewechselt haben, ohne Rücksicht auf Art und Ausmaß der Schädigung zu unterstellen, sie hätten als Gesunde das Vergleichseinkommen erreicht. Denn es gibt Schädigungen leichteren Grades, die zwar mit einem MdE-Grad um 25 vH einen Anspruch auf Versorgung begründen, jedoch zu keinen nennenswerten Funktionsausfällen führen und den Beschädigten in vielen Berufen offensichtlich nicht behindern. Würde auch in solchen Fällen BSA allein deshalb gewährt, weil das tatsächliche Einkommen hinter dem Durchschnittseinkommen der Vergleichsgruppe zurückbleibt, würde dem Sinn des Gesetzes, nur schädigungsbedingte Einkommensverluste auszugleichen, offensichtlich zuwidergehandelt. Es bedarf deshalb eines zusätzlichen Anhaltspunktes für einen Zusammenhang zwischen Schädigungsfolge und Einkommensverlust. Bei einem schädigungsbedingten Wechsel des Berufs gibt allein die Erforderlichkeit des Wechsels einen solchen Anhaltspunkt, weil er auf eine für den bisherigen oder angestrebten Beruf nicht unerhebliche Schädigung schließen läßt. Wenn dies ein hinreichender Grund dafür ist, auf weitere Feststellungen hinsichtlich des Ursachenzusammenhangs zu verzichten (so auch Wilke/Förster, Soziales Entschädigungsrecht, 6. Aufl, 1987, § 30 RdNr 53), muß das aber auch für die Fälle gelten, in denen die Schädigung sich nach allgemeinen Erfahrungen ebenfalls auf den bisherigen Beruf auswirkt und es nur besonderen Umständen zu verdanken ist, daß der Beschädigte gleichwohl seinen bisherigen Beruf weiter ausüben konnte, wie etwa bei einem fürsorglichen Entgegenkommen des Arbeitgebers oder Dienstherrn oder infolge eines außergewöhnlichen Energieaufwandes durch den Beschädigten. In solchen Fällen, in denen der Beschädigte unter gewöhnlichen Umständen gezwungen gewesen wäre, den Beruf zu wechseln, oder er zumindest eine hinreichende Veranlassung dazu gehabt hätte, ist es auch gerechtfertigt, ihm die Beweiserleichterung zugute kommen zu lassen, die denjenigen zuteil wird, die ihren Beruf schädigungsbedingt tatsächlich gewechselt haben. Ein solcher Fall ist hier gegeben. Insbesondere durch den Armverlust war der Kläger als Berufssoldat in seiner Verwendungsbreite erheblich eingeschränkt. Auch von einem Berufsoffizier der Bundeswehr wird grundsätzlich volle körperliche Leistungsfähigkeit erwartet (vgl § 37 Abs 1 Nr 3 Soldatengesetz). Wenn der Kläger gleichwohl seine Einstellung bei der Bundeswehr erreicht hat, hat er dies besonderen Umständen zu verdanken. Denn er war nach heutigen Einstellungskriterien wehrdienstuntauglich. Ein Armverlust bedeutet nach den „Bestimmungen für die Durchführung der ärztlichen Untersuchung bei Musterung und Diensteintritt von Wehrpflichtigen, Annahme und Einstellung von freiwilligen Bewerbern sowie Entlassung von Soldaten” – ZDV 46/1 –, Anlage 3/71, die Gradation VI, dh „nicht wehrdienstfähig” (ZDV 46/1 Nr 268). Hätte der Kläger statt dessen den Beruf gewechselt, bestünde kein Zweifel, daß dies als schädigungsbedingt hätte zugestanden werden müssen. Dem Kläger wäre § 2 Abs 1 Satz 2 BSchAV zugute gekommen, und er hätte nicht nachweisen müssen, daß er als gesunder Berufssoldat die Besoldungsgruppe A 15 erreicht hätte.

Ob unter diesen Umständen das Vorliegen eines besonderen beruflichen Betroffenseins durch die erste Instanz zutreffend verneint worden ist, kann dahinstehen; denn es handelt sich dabei um einen selbständigen Anspruch, der keine Voraussetzung für einen BSA ist (BSG SozR 3100 § 30 Nr 47).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.

 

Fundstellen

Haufe-Index 1175063

BSGE, 64

Dieser Inhalt ist unter anderem im TVöD Office Professional enthalten. Sie wollen mehr?


Meistgelesene beiträge