Entscheidungsstichwort (Thema)
Aufhebung. Kindergeld. Ermessen. Atypik. Ermessensschrumpfung. Ermessensreduzierung. Doppelleistung. Erfüllungsfiktion. Entgeltgrenze. Sozialhilfe. Hilfe zum Lebensunterhalt
Leitsatz (amtlich)
- Überzahltes Kindergeld löst die Fiktion der Erfüllung von Ansprüchen auf Sozialhilfe (§ 107 SGB X) nicht aus.
- Steht Kindergeld wegen Überschreitens der DM 750,-- Grenze für Ausbildungsvergütungen nicht mehr zu, kann die Bewilligung aufgrund der zur Vermeidung von Doppelleistungen geschaffenen Vorschrift des § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB X nur in Höhe der Überschreitung rückwirkend aufgehoben werden (Anschluß an BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 37).
- Bei rückwirkender Aufhebung (§ 48 Abs 1 S 2 Nrn 2 bis 4 SGB X) liegt ein zur Ermessensausübung zwingender atypischer Fall stets vor, soweit der Betroffene hierdurch im nachhinein vermehrt sozialhilfebedürftig würde; im Rahmen des § 48 Abs 1 S 2 Nr 3 SGB X ist insoweit von der Aufhebung abzusehen (Ermessensreduzierung auf Null) (Anschluß an BSG SozR 3-1300 § 48 Nr 37).
Normenkette
SGB X § 48 Abs. 1 S. 2 Nr. 3, § 107; BSHG § 5; BKGG § 2 Abs. 2 S. 2
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 16. Dezember 1994 aufgehoben. Der Rechtsstreit wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an dieses Gericht zurückverwiesen.
Tatbestand
I
Die Klägerin, die mit ihren Kindern seit Jahren Sozialhilfe bezieht, wendet sich gegen die rückwirkende Aufhebung der Bewilligung von Kindergeld.
Die Klägerin bezog Kindergeld und Kindergeldzuschlag für ihre Tochter M…. und ihren Sohn H…. Im September 1992 erfuhr die Beklagte, daß M.… ab August 1991 eine monatliche Ausbildungsvergütung in Höhe von brutto DM 820,-- (später erhöht) erhalten hatte. Die Beklagte stellte mit (bindendem) Bescheid vom 12. November 1992 die Weitergewährung von Kindergeld für M.… ab November 1992 ein und hob mit dem angefochtenen Bescheid vom 19. Januar 1993 insoweit die Gewährung von Kindergeld und Kindergeldzuschlag rückwirkend ab August 1991 auf; sie forderte die Erstattung des überzahlten Betrages von DM 2.605,--. Der Widerspruch der Klägerin hatte keinen Erfolg.
Das Sozialgericht (SG) hat mit Urteil vom 16. November 1993 den angefochtenen Bescheid aufgehoben. Zwar hätten die Voraussetzungen für eine rückwirkende Aufhebung der Kindergeldgewährung nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 des Sozialgesetzbuchs – Zehntes Buch – (SGB X) vorgelegen; hier sei jedoch ein atypischer Fall gegeben, der eine Ermessensentscheidung der Beklagten erforderlich gemacht habe. Dieses Ermessen habe sie nicht ausgeübt; es sei überdies auf Null reduziert. Denn wäre das Kindergeld bereits in der streitigen Zeit weggefallen gewesen, hätte die Klägerin entsprechend höhere Sozialleistungen beziehen müssen. Rückwirkend könne der Klägerin jedoch keine höhere Sozialhilfe gewährt werden. Die rückwirkende Aufhebung der Kindergeldbewilligung würde einen öffentlich-rechtlichen Leistungsträger ohne rechtfertigenden Grund zu Lasten der Klägerin bevorteilen.
Auf die Berufung der Beklagten hat das Landessozialgericht (LSG) mit Urteil vom 16. Dezember 1994 das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Klage abgewiesen. Die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X lägen vor, so daß offenbleiben könne, ob zugleich auch die Tatbestandsmerkmale der Nr 2 jener Vorschrift erfüllt seien. Ein atypischer Fall der vom SG angenommenen Art bestehe jedoch nicht. Ungewöhnlich sei insbesondere nicht, daß Bezieher von sowohl Sozialhilfe einerseits als auch Kindergeld andererseits in eine nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X bedeutsame Lage gerieten. Hieraus sei keine atypische Fallgestaltung mit einem daraus folgenden Ermessensspielraum der Beklagten herzuleiten. Dementsprechend müsse auch nicht aufgeklärt werden, ob nicht ohnehin die Ausbildungsvergütung zu einer Kürzung der Sozialhilfe geführt habe, so daß der fortlaufende Kindergeldbezug möglicherweise ohne Einfluß auf die Höhe der Sozialhilfe gewesen sei. Sollten sich bei der Durchsetzung der Rückforderung Härten ergeben, so sei dem ggfs im Verfahren nach § 76 des Sozialgesetzbuches – Viertes Buch – (SGB IV) Rechnung zu tragen.
Mit der Revision rügt die Klägerin eine Verletzung der §§ 48 und 50 SGB X, der Art 1 und 19 Abs 4 Grundgesetz (GG) und des entsprechend anwendbaren § 818 Abs 3 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB). Hier sei ein atypischer Fall iS der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) mit der Konsequenz anzunehmen, daß eine Ermessensreduzierung auf Null zu bejahen sei.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 16. Dezember 1994 aufzuheben und die Berufung der Beklagten gegen das Urteil des Sozialgerichts Itzehoe vom 16. November 1993 zurückzuweisen.
Die Beklagte beantragt – unter näherer Darlegung –,
die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landessozialgerichts vom 16. Dezember 1994 zurückzuweisen.
Die Beteiligten haben sich übereinstimmend mit einer Entscheidung des Senats durch Urteil ohne mündliche Verhandlung (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫) einverstanden erklärt.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Klägerin ist iS der Zurückverweisung des Rechtsstreits an das LSG begründet.
Als Rechtsgrundlage der Aufhebung der Bewilligung von Kindergeld und Kindergeldzuschlag für M.… kommt, wie von der Beklagten zugrunde gelegt, § 48 Abs 1 SGB X in Betracht. Denn wegen der von ihrer Tochter ab August 1991 bezogenen Ausbildungsvergütung von mehr als DM 750,--/Monat (zur Verfassungsmäßigkeit dieser Entgeltgrenze des § 2 Abs 2 Satz 2 Bundeskindergeldgesetz ≪BKGG≫ idF bis 31. Dezember 1993s zuletzt BSG vom 22. Juni 1994 – 10 RKg 3/92) standen ihr diese – durch früheren Verwaltungsakt bewilligten – Leistungen ab diesem Datum nicht mehr zu. Damit war insoweit iS des § 48 Abs 1 Satz 1 SGB X in den tatsächlichen Verhältnissen, die beim Erlaß eines Verwaltungsaktes mit Dauerwirkung vorgelegen habe, eine wesentliche Änderung eingetreten. Eine Aufhebung mit Wirkung für die Vergangenheit, wie hier streitig, setzt jedoch darüber hinaus die Erfüllung der Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X voraus.
Einem Vorgehen der Beklagten nach dieser Vorschrift stand jedenfalls nicht von vornherein die Erfüllungsfiktion des § 107 SGB X entgegen (1). Das LSG hat jedoch zu Unrecht die Aufhebung der Kindergeldbewilligung für M.… im streitigen Zeitraum in vollem Umfang auf § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X gestützt (2). Selbst wenn der Klägerin zur Last zu legen wäre, daß sie einer Mitteilungspflicht zumindest grob fahrlässig nicht nachgekommen (§ 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X) oder hinsichtlich des im streitigen Zeitraum für M…. empfangenen Kindergeldes bösgläubig war (§ 48 Abs 1 Satz 2 Nr 4 SGB X), war die Aufhebung zumindest teilweise nicht ohne Ermessensausübung der Beklagten zulässig (3).
(zu 1) Die rückwirkende Aufhebung der Kindergeldbewilligung nach § 48 Abs 1 Satz 2 SGB X und die hieraus folgende Rückforderung der entsprechenden Überzahlung nach § 50 Abs 1 SGB X scheitern nicht von vornherein – auch nicht teilweise – daran, daß die Beklagte dem Sozialhilfeträger durch ihre Überzahlung Aufwendungen für die Hilfe für Lebensunterhalt der Klägerin erspart hätte. Das überzahlte Kindergeld kann nicht nachträglich als Sozialhilfe gewertet werden (diese Frage hatte das BSG im Urteil vom 31. Oktober 1991, SozR 3-1300 § 45 Nr 10 S 35, noch offengelassen).
Die Erfüllungsfiktion des § 107 Abs 1 SGB X greift im vorliegenden Fall mangels Erstattungsanspruchs nicht ein. Denn ein Erstattungsanspruch der Beklagten gegen den Sozialhilfeträger besteht nicht. Ein solcher ist – nach § 103 Abs 3 sowie § 105 Abs 3 SGB X, also den hier denkbarerweise einschlägigen Erstattungsvorschriften (bei nachträglichem Wegfall der Leistungspflicht bzw bei Unzuständigkeit des Leistungsträgers) – dann ausgeschlossen, wenn dem Sozialhilfeträger im Leistungszeitraum nicht bekannt war, daß die Voraussetzungen für seine Leistungspflicht vorlagen. Diese Einschränkung ergibt sich bereits aus dem materiellen Leistungsrecht (vgl § 5 Bundessozialhilfegesetz ≪BSHG≫, wonach die Sozialhilfe einsetzt, sobald dem Träger der Sozialhilfe bekannt wird, daß die Voraussetzungen für die Gewährung vorliegen). Diese Leistungseinschränkung gilt nicht nur dann, wenn der Sozialhilfeträger im fraglichen Zeitraum noch überhaupt keine Leistungen gewährt hatte, sondern auch dann, wenn ihm der zusätzliche Sozialhilfebedarf infolge des nachträglich weggefallenen Kindergeldanspruchs nicht bekannt war. Leistungen für einen vergangenen Zeitraum, für den dem Sozialhilfeträger der Bedarf nicht bekannt war, sind grundsätzlich ausgeschlossen. Der während des Gesetzgebungsverfahrens eingefügte Abs 3 sowohl von § 103 als auch von § 105 SGB X dient lediglich der Klarstellung; bereits in der Begründung des Gesetzentwurfs war der Hinweis enthalten, daß kein Erstattungsanspruch gegen den Träger der Sozialhilfe entsteht, wenn die Leistungspflicht eines anderen Leistungsträgers nachträglich entfällt bzw wenn der andere Leistungsträger unzuständig Leistungen erbracht hat (BT-Drucks 9/95 S 25 zu den §§ 109 und 111 des Entwurfs; vgl auch Kater in: Kasseler Komm, § 103 SGB X RdNr 34, Stand: 1993). Deshalb wird der Anwendungsbereich der §§ 103 und 105 SGB X für Erstattungsansprüche gegen Sozialhilfeträger als äußerst gering eingeschätzt (vgl Kater aaO, RdNr 35 sowie § 105 SGB X RdNr 28; ebenso Schellhorn in: GemeinschaftsKomm SGB X 3, 1984, § 103 RdNr 35).
(zu 2) Das LSG hat die rückwirkende Aufhebung der Bewilligung von Kindergeld und Kindergeldzuschlag in voller Höhe bestätigt und sich insoweit auf § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X gestützt. Hiernach soll der Verwaltungsakt mit Wirkung vom Zeitpunkt der Änderung der Verhältnisse aufgehoben werden, soweit nach Antragstellung oder Erlaß des Verwaltungsakts Einkommen oder Vermögen erzielt wurde, das zum Wegfall oder zur Minderung des Anspruchs geführt hätte. Die Anwendung jener Vorschrift ist jedoch in zweifacher Hinsicht fehlerhaft; zum einen deswegen, weil sie sich nicht auf denjenigen Betrag beschränkt, um den die Entgeltgrenze des § 2 Abs 2 Satz 2 BKGG überschritten wurde (a), zum anderen, soweit die Aufhebung nicht jenen Betrag ausnimmt, den die Klägerin oder ihre Kinder ohne den Anspruch auf Kindergeld und Kindergeldzuschlag für M.… an zusätzlicher Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG hätten beanspruchen können (b).
(zu a) Entfällt der Anspruch auf eine Sozialleistung wegen Überschreitens einer Entgelt-(zB Hinzuverdienst-)Grenze, so ist die rückwirkende Aufhebung ihrer Bewilligung auch dann möglich, wenn es insoweit nicht auf Einkommen des Leistungsempfängers, sondern seines Kindes ankommt (so bereits der Senat im Urteil vom 11. Januar 1989, SozR 1300 § 48 Nr 53 S 148 f). Die Aufhebung gemäß § 48 Abs. 1 Satz 2 Nr 3 SGB X darf sich jedoch von vornherein nur auf denjenigen Teil der Sozialleistung erstrecken, der dem Betrag entspricht, um den die Entgeltgrenze überschritten wurde.
Dies hat der 13. Senat des BSG in seinem Urteil vom 23. März 1995 (SozR 3-1300 § 48 Nr 37) für den Anspruch auf flexibles Altersruhegeld und das Überschreiten der entsprechenden Hinzuverdienstgrenze von DM 1.000,--/Monat entschieden; er hat damit die frühere Rechtsprechung des 7. Senats (Urteil vom 13. August 1986, BSGE 60, 180 = SozR 1300 § 48 Nr 26 sowie vom 19. Februar 1986, SozR 1300 § 48 Nr 22) fortgeführt.
Der 7. Senat hatte über solche Fallkonstellationen zu entscheiden, in denen ein Rentenbezug zum Ruhen des Anspruchs auf Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe in voller Höhe auch dann führte, wenn die Rente niedriger war als diese Leistung. Wenn, so der 7. Senat, nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X die Bewilligung von Arbeitslosengeld oder -hilfe mit Wirkung für die Vergangenheit aufzuheben ist, “soweit” entgegenstehendes Einkommen erzielt wurde, kann dies nur bedeuten, daß die Aufhebung auf die Höhe der nachträglich bewilligten Leistung beschränkt ist. In Weiterführung dieser Rechtsprechung hat sodann der 13. Senat in seinem Urteil vom 23. März 1995 als “Einkommen oder Vermögen, das zum Wegfall” des Anspruchs auf flexibles Altersruhegeld führte, nicht das gesamte Bruttoarbeitsentgelt aufgefaßt, sondern nur jenen Teil, der die Hinzuverdienstgrenze (dort: von DM 1.000,--/Monat) überschritt. Denn Arbeitsentgelt bis zur Hinzuverdienstgrenze hätte die Rente nicht beeinflußt. Nur insoweit hatte der Versicherte durch das Überschreiten der Hinzuverdienstgrenze eine “Doppelleistung” erhalten, deren Verhinderung der eigentliche Zweck der Vorschriften des § 48 Abs 2 Nr 3 SGB X ist.
Dieser Auffassung schließt sich auch der erkennende Senat an. Sie trägt dem Umstand Rechnung, daß im Rahmen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X die Voraussetzungen für eine Aufhebung der Leistungsbewilligung mit Wirkung für die Vergangenheit bereits durch das bloße Zusammentreffen einer Sozialleistung mit anderweitigen Einkommen erfüllt werden; eine irgendwie geartete Unlauterkeit oder Bösgläubigkeit wird hier – im Gegensatz zu den Tatbeständen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nrn 2 und 4 SGB X – gerade nicht gefordert.
Überträgt man diese Erkenntnis auf den vorliegenden Fall, so kann die Aufhebung der Kindergeldbewilligung nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X (und die entsprechende Rückforderung nach § 50 Abs 1 SGB X) höchstens denjenigen Teil des Kindergeldes betreffen, der dem Betrag entspricht, um den das von M… bezogene Ausbildungsentgelt die Entgeltgrenze des § 2 Abs 2 Satz 2 BKGG (DM 750,--/Monat) überschritt.
Dieser Betrag läßt sich den Feststellungen des LSG nicht entnehmen. Denn dieses hat lediglich festgestellt, die Ausbildungsvergütung von M… habe ab August 1991 DM 820,--/Monat betragen und sei später erhöht worden.
(zu b) Der Argumentation des SG (und, ihm folgend, der Revision) kann darüber hinaus dahingehend beigepflichtet werden, daß die Aufhebung der Bewilligung von Kindergeld für M… in voller Höhe nur unter Ausübung von Ermessen möglich war und daß im Rahmen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X wegen einer Ermessensreduzierung auf Null nur das Absehen von der Aufhebung rechtmäßig sein konnte, soweit ohne die aufgehobene Bewilligung von Kindergeld und Kindergeldzuschlag der Klägerin – oder ihren Kindern – eine höhere Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG zugestanden hätte.
Das Wort “soll” in Abs 1 Satz 2 des § 48 SGB X bedeutet, daß der Leistungsträger in der Regel den Verwaltungsakt rückwirkend aufheben muß, jedoch in atypischen Fällen nach seinem Ermessen hiervon abweichen kann. Die Frage, ob ein atypischer Fall vorliegt, ist – wie das LSG zutreffend erkannt hat – nicht im Wege der Ermessensausübung zu klären, sondern vielmehr als Rechtsvoraussetzung im Rechtsstreit von den Gerichten zu überprüfen und zu entscheiden (st Rspr, s das Urteil des Senats vom 18. September 1991, BSGE 69, 233, 237 = SozR 3-5870 § 20 Nr 3; ferner das Urteil des 13. Senats vom 23. März 1995, SozR 3-1300 § 48 Nr 37 sowie BSG vom 29. Juni 1994, BSGE 74, 287, 293 f = SozR 3-1300 § 48 Nr 33, jeweils mwN). Ein atypischer Fall liegt vor, wenn der Einzelfall aufgrund seiner besonderen Umstände von dem Regelfall der Tatbestände nach Abs 1 Satz 2, die die Aufhebung des Verwaltungsakts für die Vergangenheit gerade rechtfertigen, signifikant abweicht. Die Atypik ergibt sich damit gerade im Zusammenhang von Aufhebung und Rückforderung nach § 48 Abs 1 und § 50 Abs 1 SGB X. Sie kann daher – entgegen der Ansicht des LSG – nicht von vornherein damit abgetan werden, daß sich Fallgestaltungen wie die vorliegende in der Lebenswirklichkeit als “normal”, dh “typisch”, jedenfalls nicht als atypisch erwiesen.
Ein atypischer Fall iS des § 48 Abs 1 Satz 2 Nrn 2 bis 4 SGB X ist auch nach Auffassung des erkennenden Senats stets gegeben, wenn der Betroffene – oder ein Angehöriger seiner Bedarfsgemeinschaft – infolge des Wegfalls jener Sozialleistung, deren Bewilligung rückwirkend aufgehoben wurde, im nachhinein unter den Sozialhilfesatz sinken oder vermehrt sozialhilfebedürftig würde. Die unbillige Härte liegt in diesen Fällen darin, daß er die Sozialhilfeansprüche, die ihm bei rechtzeitiger Erklärung zugestanden hätten, für die Vergangenheit nicht mehr geltend machen kann (BSG, 13. Senat vom 23. März 1995, SozR 3-1300 § 48 Nr 37 unter Hinweis auf die zur Erstattung sog Urteilsleistungen im Rahmen des § 50 SGB X ergangenen Entscheidungen BSG vom 12. September 1984, BSGE 57, 138, 145 = SozR 1300 § 50 Nr 6; vom 15. Mai 1985, SozR 1500 § 154 Nr 8; vom 31. Oktober 1991, SozR 3-1300 § 45 Nr 10). Es entsteht dadurch ein zusätzlicher Schaden, daß Sozialhilfeansprüche entgangen sind, die zugestanden hätten, wenn der Klägerin das Kindergeld für M.… (mit Kindergeldzuschlag) damals nicht zugeflossen wäre. Damit hätte sie im Ergebnis wegen der Pflicht zur Rückzahlung aus ihrem gegenwärtigen Einkommen und Vermögen solche Leistungen zu ersetzen, die ihr in der Vergangenheit als – weitere – Hilfe zum Lebensunterhalt zugestanden hätten. Eine derartige Rückforderung der Hilfe zum Lebensunterhalt vom Leistungsempfänger ist jedoch nach dem Recht der Sozialhilfe nicht (mehr) möglich, wenn der Leistungsempfänger nicht die Voraussetzungen für die Gewährung der Sozialhilfe durch vorsätzliches oder grob fahrlässiges Verhalten herbeigeführt hat (vgl § 92a BSHG).
Damit aber sind die angefochtenen Bescheide der Beklagten zu dem Teil rechtswidrig, als sie die Bewilligung von Kindergeld und Kindergeldzuschlag an die Klägerin auch insoweit aufheben, wie die Zahlung jener Leistungen dazu geführt hat, daß der Klägerin keine höhere Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG zustand. Denn weder der Bescheid vom 19. Januar 1993 noch der Widerspruchsbescheid vom 3. März 1993 enthalten Ausführungen, aus denen sich ergibt, daß sich die Beklagte ihres Ermessens für diesen atypischen Fall bewußt gewesen wäre. Die Wendung des Widerspruchsbescheides: “Es sind keinerlei Anhaltspunkte dafür vorhanden, in dem vorliegenden Fall einen besonderen Ausnahmefall zu sehen, der das Arbeitsamt veranlassen müßte, ggfs von der Aufhebung der Bewilligung abzusehen,” könnte allenfalls darauf hindeuten, daß die Beklagte das Vorliegen eines atypischen Falls verneinen wollte, nicht jedoch, daß sie unter Annahme eines solchen ihr Ermessen zuungunsten der Klägerin ausgeübt hätte.
Schon aus diesem Grunde sind die angefochtenen Bescheide im beschriebenen Umfang – teilweise – aufzuheben.
Mit der Argumentation des SG begründet darüber hinaus eine nachträgliche – höhere – Sozialhilfebedürftigkeit im Rahmen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 BKGG einen Fall, der die rückwirkende Aufhebung einer Leistungsbewilligung insoweit iS einer Ermessensschrumpfung auf Null von vornherein verbietet. Zwar mag es jedenfalls bei grober Bösgläubigkeit (zB Leistungserschleichung durch Betrug) nicht unangemessen erscheinen, den Betroffenen auch dann zur Rückzahlung einer ihm nicht zustehenden Sozialleistung heranzuziehen, wenn er ohne die erschwindelte Sozialleistung (höhere) Sozialhilfe hätte beziehen können (vgl auch BSG vom 3. Juli 1991, SozR 3-1300 § 48 Nr 10 S 12, wo bei vorsätzlichem Handeln bereits ein atypischer Fall im Rahmen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 SGB X auch insoweit verneint wird, als der Versicherte ohne sein Fehlverhalten eine andere, niedrigere Sozialleistung hätte beziehen können). Dies kann jedoch nur für die Aufhebungstatbestände nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 und 4 SGB X gelten, wo es in der Tat darauf ankommt, ob dem Leistungsempfänger Verschulden vorzuwerfen ist.
Anders stellt sich jedoch die Sachlage bei § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X dar. Hier kommt es, wie bereits oben näher dargestellt, in keinerlei Hinsicht auf ein Verschulden oder eine Unlauterkeit des Leistungsempfängers an, vielmehr darauf, Doppelleistungen zu verhindern. Dann aber ist eine Aufhebung von vornherein nicht mehr vom Gesetzeszweck gedeckt, die nicht nachträglich eine Doppelleistung beseitigt, sondern zum Absinken des Leistungsempfängers (oder seiner Bedarfsgemeinschaft) unter das Sozialhilfeniveau führt.
In welchen Umfang die angefochtenen Bescheide der Beklagten aus diesem Grunde rechtswidrig sind, kann an Hand der vom LSG festgestellten Tatsachen nicht entschieden werden. Das LSG nimmt zwar in seinem Tatbestand auf eine vom SG eingeholten Auskunft des Sozialamts des Amtes Kirchspielslandgemeinde Albersdorf Bezug. Durch die Erwähnung dieser Auskunft – ohne Benennung von Datum und Inhalt – hat jedoch das LSG deren Gehalt nicht als Tatsache festgestellt. Insoweit ergeben sich auch erhebliche Zweifel. Denn die Klägerin hat mit Schriftsatz an das LSG vom 23. Juni 1994 die Kopie eines “Vermerks” vom 20. März 1992 – augenscheinlich aus der Sozialhilfeakte – vorgelegt, zusammen mit der Anlage zur Bedarfsberechnung zum Sozialhilfebescheid der Klägerin vom 1. April 1992. Hieraus ergeben sich wiederum andere Zahlen als aus der eben erwähnten Auskunft.
Auch insoweit ist daher eine Zurückverweisung an das LSG veranlaßt.
(zu 3) Feststellungen zu den Voraussetzungen für eine Aufhebung der Leistungsbewilligung mit Wirkung für die Vergangenheit nach § 48 Abs 1 Satz 2 Nrn 2 und 4 SGB X – zumindest grob fahrlässiges Unterlassen einer Änderungsmitteilung bzw Bösgläubigkeit hinsichtlich des Anspruchs auf die erhaltene Sozialleistung – hat das LSG nicht getroffen, sondern deren Vorliegen im Gegenteil ausdrücklich offengelassen. Bei dieser Ausgangslage sieht es der Senat als untunlich an, die vom LSG ansonsten getroffenen Feststellungen dahingehend zu würdigen, ob hieraus auf die Erfüllung der entsprechenden Voraussetzungen geschlossen werden kann (§ 170 Abs 1 Satz 2, Abs 2 SGG). Dies gilt vor allem auch unter Berücksichtigung dessen, daß für die Feststellung nicht nur von Vorsatz, sondern auch von grober Fahrlässigkeit ein subjektiver Verschuldensmaßstab gilt. Deshalb auch können entsprechende Feststellungen in der Revisionsinstanz nur begrenzt überprüft werden (s BSG vom 26. August 1987, BSGE 62, 103, 107 = SozR 1300 § 48 Nr 39; BSG vom 12. Februar 1980, SozR 4100 § 152 Nr 10 S 33).
Lägen jedoch nicht nur die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X, sondern auch von Nr 2 oder Nr 4 dieser Vorschrift vor, hätte dies auch Einfluß auf den Umfang der hiernach möglichen rückwirkenden Aufhebung der Bewilligung von Kindergeld und Kindergeldzuschlag: Diese hätte sich zum einen nicht von vornherein auf den Umfang der Überschreitung der Entgeltgrenze des § 2 Abs 2 Satz 2 BKGG (s hierzu zu 2a) zu beschränken; zum anderen wäre die Aufhebung auch hinsichtlich desjenigen Betrages, der ansonsten an weiterer Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem BSHG zugestanden hätte (s hierzu zu 2b), bei sachgerechter Ermessensausübung möglich. Dann blieben zwar die angefochtenen Bescheide – wegen eines Ermessensfehlers – teilweise aufzuheben, die Beklagte wäre jedoch uU berechtigt, unter sachgerechter Ausübung ihres Ermessens und Einhaltung der Jahresfrist nach § 48 Abs 4 Satz 1 iVm § 45 Abs 4 Satz 2 SGB X (hierzu Gagel, SGb 1990, 252, 255 ff) durch einen neuen Bescheid auch insoweit wiederum die Kindergeldbewilligung rückwirkend aufzuheben.
Insoweit bliebe jedoch zu beachten, daß die Aufhebung der Kindergeldbewilligung für den Monat August 1991 uU von vornherein dann scheitern könnte, wenn die Überschreitung der Grenze von DM 750,-- für Ausbildungsvergütungen ihrerseits nur durch eine rückwirkende Tariferhöhung im September 1991 zustande kam, wie von der Klägerin vor dem SG vorgetragen. Dies ist zwar im Rahmen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X ohne Belang (s § 48 Abs 1 Satz 3 SGB X), kann jedoch auf den Termin der Verletzung der Mitteilungspflicht bzw der Bösgläubigkeit (§ 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 oder Nr 4 SGB X) Einfluß haben.
Das LSG wird nach alledem vorrangig zu prüfen haben, in welcher Höhe der Klägerin (bzw ihren Kindern) weitere Hilfe zum Lebensunterhalt zugestanden hätte, hätte die Beklagte nicht in den streitigen Monaten Kindergeld und Kindergeldzuschlag für M.… überzahlt. Jedenfalls in dieser Höhe ist die Aufhebung der Kindergeldbewilligung in den angefochtenen Bescheiden rechtswidrig, sei es wegen Ermessensschrumpfung auf Null (im Rahmen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 3 SGB X), sei es wegen Ermessensnichtgebrauchs (im Rahmen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr 2 oder Nr 4 SGB X). Sollten die Voraussetzungen des § 48 Abs 1 Satz 2 Nr. 2 oder 4 SGB X nicht vorliegen, so war die Aufhebung der Kindergeldbewilligung ggfs auch hinsichtlich des Betrages rechtswidrig, der demjenigen entspricht, um den das Ausbildungsentgelt die DM 750,-- Grenze des § 2 Abs 2 Satz 2 BKGG überschritt. Beide Fehler wirken allerdings nicht kumulativ, sondern nur hinsichtlich des jeweils höchsten “Sperr-” Betrages.
Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahren zu entscheiden haben.
Fundstellen
Breith. 1996, 684 |
SozSi 1997, 159 |
SozSi 1997, 272 |