Entscheidungsstichwort (Thema)
Alterssicherung der Landwirte. Befreiung von der Versicherungspflicht
Leitsatz (amtlich)
Vor dem 23.12.1995 wegen außerlandwirtschaftlichen Arbeitsentgelts oberhalb einer Mindestgröße erfolgte Befreiungen von der Versicherungspflicht in der Alterssicherung der Landwirte nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 ALG bleiben solange bestehen, wie sich die tatsächlichen Verhältnisse nicht befreiungsschädlich ändern.
Normenkette
ALG § 85 Abs. 6 S. 1, § 3 Abs. 1 Nr. 1
Verfahrensgang
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 22. Februar 2005 wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat der Klägerin auch die Kosten des Revisionsverfahrens zu erstatten.
Tatbestand
I
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin von der Versicherungspflicht in der Alterssicherung der Landwirte auch für die Zeit vom 1. Januar 1997 bis zum 31. Dezember 1998 zu befreien ist.
Die Klägerin hält seit 1987 im Naturschutzgebiet L… zur Landschaftspflege Schafe. Bei der zuständigen Berufsgenossenschaft war ihr landwirtschaftliches Unternehmen ab 1. Januar 1995 mit einer Schafweide von 13,5 Hektar und 28 Schafen erfasst. Bis Ende 1998 stiegen diese Werte auf 30,57 Hektar und 98 Schafe.
Die Beklagte stellte mit Bescheid vom 17. August 2000 für die Zeit ab 1. Januar 1995 Versicherungspflicht nach dem Gesetz über die Alterssicherung der Landwirte (ALG) fest und forderte 18.369 DM rückständige Beiträge. Dagegen machte die Klägerin geltend, sie sei seit 1. Januar 1995 bei ihrem als Arzt niedergelassenen Ehemann gegen Entgelt von zunächst 500 DM monatlich, dann von 520 DM und seit 1999 unter adäquater Bezahlung für eine Vollzeittätigkeit als Sprechstundenhilfe tätig. Sie beantrage von der Versicherungspflicht befreit zu werden. Dem entsprach die Beklagte für die Zeit ab 1. Januar 1999 (Bescheid vom 1. Februar 2001) und für die Jahre 1995/1996 (Bescheid vom 2. März 2001). Für die Jahre 1997 und 1998 lehnte sie eine Befreiung ab, weil die Klägerin mit 520 DM monatlich in dieser Zeit kein Arbeitsentgelt in Höhe von mehr als einem Siebtel der (monatlichen) Bezugsgröße von (520 DM) erzielt und damit die Voraussetzungen des Befreiungstatbestandes nach § 3 Abs 1 Nr 1 ALG nicht erfüllt habe (Bescheid vom 5. März 2001; Widerspruchsbescheid vom 3. Januar 2002).
Das Sozialgericht Berlin (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 2. Dezember 2002). Das Landessozialgericht Berlin (LSG) hat diese Entscheidung aufgehoben und die Beklagte verurteilt, die Klägerin auch für die Jahre 1997/1998 von der Versicherungspflicht zu befreien (Urteil vom 22. Februar 2005). Sie erfülle die Voraussetzungen des § 85 Abs 6 Satz 1 ALG: Da sie – rückwirkend – vor dem 23. Dezember 1995 von der Versicherungspflicht befreit war, bleibe sie in ihrer Tätigkeit als Schafhalterin auf Dauer befreit.
Die Beklagte macht mit ihrer Revision geltend: Das LSG habe § 85 Abs 6 ALG verletzt. Diese Vorschrift wandle vom Fortbestand der Befreiungsvoraussetzungen abhängige Befreiungen nach § 3 Abs 1 Nr 1 bis 4 und Abs 3 ALG nicht zu dauerhaften Befreiungen. Sie stehe in untrennbarem Zusammenhang mit dem zeitgleich eingefügten § 17 Abs 1 Satz 2 ALG und räume lediglich all denjenigen eine “Rückkehroption” in die Versicherungspflicht ein, die sich davon zuvor hätten befreien lassen, weil ihnen nach dem bis dahin geltenden Recht ihre Beitragszeiten in der gesetzlichen Rentenversicherung nicht auf die Wartezeit für Altersrente nach dem ALG angerechnet worden seien. Diese Interpretation entspreche dem Ziel des Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Reform der agrarsozialen Sicherung (ASRG-ÄndG), die Versicherungspflicht der mit dem Agrarsozialreformgesetz 1995 (ASRG 1995) eigenständig in die Altersicherung der Landwirte einbezogenen Bäuerinnen nicht aufzuweichen.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 22. Februar 2005 aufzuheben und die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Berlin vom 2. Dezember 2002 zurückzuweisen.
Die Klägerin beantragt,
die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Landessozialgerichts Berlin vom 22. Februar 2005 zurückzuweisen.
Sie verteidigt die angegriffene Entscheidung.
Entscheidungsgründe
II
Die Revision der Beklagten ist nicht begründet.
Die Beklagte hat es mit Bescheid vom 5. März 2001 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 3. Januar 2002 rechtswidrig abgelehnt, die Klägerin auch für die Jahre 1997 und 1998 von der Versicherungspflicht in der Alterssicherung der Landwirte zu befreien. Das LSG hat diese Entscheidung und das klageabweisende erstinstanzliche Urteil zu Recht aufgehoben. Die Klägerin ist auch für die streitigen Jahre zu befreien.
Das ergibt sich aus § 85 Abs 6 Satz 1 ALG (idF des ASRG-ÄndG vom 15. Dezember 1995 ≪BGBl I, 1814≫). Danach bleiben Personen, die vor dem 23. Dezember 1995 nach § 3 ALG von der Versicherungspflicht befreit waren, in dieser Tätigkeit befreit. Die Klägerin erfüllt die Voraussetzungen dieser Vorschrift: Sie war durch den – auf die Jahre 1995/1996 begrenzten – Bescheid vom 2. März 2001 (rückwirkend) für die Zeit ab 1. Januar 1995 nach § 3 Abs 1 Nr 1 ALG damaliger Fassung (wegen Arbeitsentgelts über einem Siebtel der monatlichen Bezugsgröße im Beitrittsgebiet) von der Versicherungspflicht befreit und übte ihre landwirtschaftliche Tätigkeit als Schafhalterin durchgehend auch am Ende des hier streitigen Zeitraums noch aus.
Das Merkmal “in dieser Tätigkeit” in § 85 Abs 6 Satz 1 ALG bezieht sich – anders als von der Beklagten angenommen – nicht auf die Befreiungstatbestände des § 3 Abs 1 Nr 1 bis 4 und Abs 3 ALG, sondern auf die landwirtschaftliche Tätigkeit der von der Versicherungspflicht befreiten (oder zu befreienden) Person. Das ergibt sich aus dem Abs 6 vorangehenden Text des § 85 ALG. In den Abs 1, 2 und 3b wird der Begriff “Tätigkeit” immer im Sinne der landwirtschaftlichen Tätigkeit dessen gebraucht, von dessen Versicherungsfreiheit oder -befreiung die Rede ist. Es gibt keinen Hinweis, dass Abs 6 davon abweicht.
Das LSG hat es zu Recht abgelehnt, die Vorschrift durch einengende Auslegung auf die Fälle einer Befreiung nach § 3 Abs 3 ALG zu begrenzen. Die Materialien zeigen zwar, dass der Gesetzgeber “insbesondere” Personen im Blick gehabt hat, “die sich nach § 3 Abs 3 haben befreien lassen, da sie allein mit Beiträgen zur Alterssicherung die Wartezeit für eine Altersrente nicht mehr erfüllen konnten” (BT-Drucks 13/2747, S 15). Aber aus der Begründung des Gesetzentwurfs lässt sich nicht entnehmen, dass sämtliche anderen, in § 3 Abs 1 ALG geregelten Befreiungstatbestände von der Regelung des § 85 Abs 6 ALG gänzlich ausgenommen sein sollten. Denn dort wird allgemein von ”Übergangsrecht für bereits vor Inkrafttreten dieses Gesetzes nach § 3 befreite Personen” gesprochen (BT-Drucks 13/2747, ebenda). Deshalb bleiben jedenfalls vor dem 23. Dezember 1995 wegen außerlandwirtschaftlichen Arbeitsentgelts oberhalb einer Mindestgröße erfolgte Befreiungen nach § 3 Abs 1 Nr 1 ALG so lange bestehen, wie sich die tatsächlichen Verhältnisse nicht befreiungsschädlich ändern. Das war hier in den streitigen Jahren der Fall. Die Klägerin erfüllte die Voraussetzungen des § 3 Abs 1 Nr 1 ALG ab 1. Januar 1997 allein deshalb nicht mehr, weil der Gesetzgeber die Höhe des maßgeblichen Mindestentgelts angehoben hatte (Erhöhung der monatlichen Bezugsgröße ≪Ost≫ von 3.500 DM auf 3.640 DM zum 1. Januar 1997).
Entgegen der Ansicht der Beklagten lassen sich aus § 85 Abs 5 ALG keine Schlüsse ziehen, die eine engere Auslegung des Abs 6 dieser Vorschrift nahe legen. Nach § 85 Abs 5 ALG können Personen, die vor dem 23. Dezember 1995 von der Versicherungspflicht nach den Abs 3 und 4 befreit worden sind, bis zum 30. Juni 1996 erklären, dass die Befreiung von der Versicherungspflicht enden soll. Wenn der Gesetzgeber hier ein Fortbestehen der nach § 85 Abs 3 oder 4 ALG erfolgten Befreiungen nicht ausdrücklich angeordnet hat, so liegt dies daran, dass es sich dabei um Befreiungstatbestände handelt, die von vornherein auf Dauer angelegt sind (vgl dazu BSG SozR 3-5868 § 1 Nr 5). Der Umstand, dass § 85 Abs 6 ALG ausdrücklich ein “Befreitbleiben” regelt, deutet demnach darauf hin, dass auch die von dieser Norm erfassten, ihrer Art nach zum Teil nicht endgültigen Befreiungen – jedenfalls in gewissem Umfang – “verstetigt” werden sollten.
Dieses Auslegungsergebnis bestätigt der durch Art 6a Nr 3 Gesetz vom 23. September 2002 (BGBl I, 4621) eingeführte Abs 9 des § 85 ALG. Danach bleiben “Personen, die am 31. März 2003 nach § 3 Abs 1 Nr 1 in der bis zum 31. März 2003 geltenden Fassung von der Versicherungspflicht befreit waren, … von der Versicherungspflicht befreit, solange das für die Befreiung nach § 3 Abs 1 Nr 1 maßgebende Einkommen jährlich ein Siebtel der Bezugsgröße oder 4.800 € überschreitet”. Die dem § 85 Abs 6 ALG eng benachbarte Vorschrift zeigt, dass der Gesetzgeber zwischen den Befreiungstatbeständen des § 3 ALG zu unterscheiden weiß und einen einzelnen herausgreift, wenn eine befreiungsrechtliche Übergangsregelung auf diesen Tatbestand beschränkt bleiben soll. Die Bestimmung des § 85 Abs 9 ALG ist auch insoweit bemerkenswert, als das Bestehenbleiben der (ohnehin nicht als Dauertatbestand ausgestalteten) Befreiung nach § 3 Abs 1 Nr 1 ALG – anders als in § 85 Abs 6 ALG – ausdrücklich beschränkt worden ist (“solange”). Damit wird deutlich, dass das Recht der Alterssicherung die Befreiungsmöglichkeit wegen außerlandwirtschaftlichen Einkommens – übergangsrechtlich – nicht strikt an ein stetiges Überschreiten der jeweils geltenden Geringfügigkeitsgrenze knüpft, sondern – zB aus “Vertrauensschutzgründen” (vgl GLA-Kommentar, Stand 11.03, § 85 ALG, S 5.3) – davon abweicht.
Der im Dezember 1995 beschlossene § 85 Abs 6 ALG ist in der hier zu Grunde gelegten Auslegung ebenso wenig sachwidrig wie der im Dezember 2002 angefügte § 85 Abs 9 ALG. Ende 2002 galt es, einer Ausdehnung der – aktuellen – Versicherungspflicht auf bisher befreite Landwirte zu begegnen. Durch § 85 Abs 9 ALG blieb den nach § 3 Abs 1 Nr 1 ALG von der Versicherungspflicht befreiten Landwirten dieser Status auch bei Unterschreiten der neuen, ab 1. April 2003 geltenden Geringfügigkeitsgrenze von 4.800 € (jährlich) erhalten. Im Laufe des Jahres 1995 stellte sich heraus, dass die zum 1. Januar mit dem Gesetz zur Reform der Agrarsozialen Sicherung verwirklichte eigenständige soziale Sicherung der Bäuerinnen in der Alterssicherung der Landwirte nicht von allen Betroffenen als soziale Wohltat, sondern von vielen – wegen der Beitragspflicht – vor allem als finanzielle Last empfunden wurde. Der Gesetzgeber reagierte auf diesen Unmut (vgl stellvertretend die Äußerungen der Abgeordneten Hornung, Deichmann, Heinrich, Maleuda und Laumann sowie des Parl Staatssekretärs Kraus im Deutschen Bundestag ≪Plenarprotokoll 13/71 S 6293 C und D, 6295 A, 6297 C und D, 6300 A, 6301 A und 6303 C und D≫), indem er die bereits bestehenden Befreiungsmöglichkeiten erheblich erweiterte (BT-Drucks 13/2747, S 12). Diesem Korrekturkonzept hätte es sicher widersprochen, wenn bei solchen Personen, die die Wartezeit für Altersgeld nach dem neu gefassten § 17 ALG nunmehr auch mit Pflichtbeiträgen zur gesetzlichen Rentenversicherung erfüllen konnten, die Befreiung nach § 3 Abs 3 ALG ohne Weiteres entfallen wäre. Dem Konzept fügte sich jedoch auch eine Lockerung des staatlichen Versicherungszwangs für diejenigen ein, die sich ihm vor dem 23. Dezember 1995 durch eine auf ihren Antrag hin ausgesprochene, zeitweilige (dh von dem Festbestehen bestimmter Umstände abhängige) Befreiung zunächst hatten entziehen können. Mithin liegt es nahe § 85 Abs 6 Satz 1 ALG so zu verstehen, dass nach § 3 Abs 1 ALG befreite Personen jedenfalls bei unverändertem Fortbestand der befreiungserheblichen persönlichen Verhältnisse auf Dauer befreit bleiben sollten, es sei denn, sie entschieden sich anders (§ 85 Abs 6 Satz 2 ALG).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 Sozialgerichtsgesetz.
Fundstellen