Entscheidungsstichwort (Thema)
Rücknahme. GdB-Herabsetzung. Ermessensentscheidung. Ermessensreduzierung auf Null. Interessenabwägung
Orientierungssatz
1. Über die Rücknahme eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes ist keine Ermessensentscheidung möglich, wenn nach der Interessenabwägung aus den tatsächlichen Feststellungen keine Gesichtspunkte verbleiben, die bei einer solchen Entscheidung berücksichtigt werden könnten. Das Ermessen ist in einem solchen Fall auf Null geschrumpft.
2. Die Verantwortung der Verwaltung für das Zustandekommen des rechtswidrigen Verwaltungsaktes (hier: Feststellung eines überhöhten GdB) ist ein Gesichtspunkt, der bereits in die - gerichtlich voll überprüfbare - Interessenabwägung eingeht.
Normenkette
SGB X § 45 Abs. 1 S. 1, Abs. 2 S. 1; SchwbG § 4
Verfahrensgang
SG Wiesbaden (Entscheidung vom 11.02.1993; Aktenzeichen S 4 Vb 59/91) |
Hessisches LSG (Entscheidung vom 18.01.1994; Aktenzeichen L 4 Vb 398/93) |
Tatbestand
Der Kläger wehrt sich gegen die Herabsetzung des Grades der Behinderung (GdB).
Der Beklagte stellte mit Bescheid vom 12. Juli 1990 als Behinderungen nach dem Schwerbehindertengesetz (SchwbG) mit einem GdB von 50 degenerative Veränderungen der Wirbelsäule, Cox- und Gonarthrose beidseits sowie Herz-Kreislaufschaden bei Hypertonie fest. Dem lag ein Befundbericht des praktischen Arztes Dr. L. zugrunde. Der Kläger machte einen höheren GdB geltend. Damit hatte er im Widerspruchsverfahren keinen Erfolg.
Im sozialgerichtlichen Verfahren ist ein medizinisches Sachverständigengutachten eingeholt worden. Nach Auffassung des Gutachters führte die Cox- und Gonarthrose noch nicht zu einer Behinderung. Den GdB schätzte der Sachverständige auf 20. Nachdem der Beklagte den Kläger zu der beabsichtigten Änderung angehört hatte, setzte er den GdB mit Bescheid vom 2. Juli 1992 auf 20 herab und strich die zuvor mit "Cox- und Gonarthrose beidseits" bezeichnete Behinderung. Der Kläger wandte sich nur noch gegen die Herabsetzung und erklärte den Rechtsstreit im übrigen für erledigt.
Das Sozialgericht (SG) Wiesbaden hat den Bescheid vom 2. Juli 1992 aufgehoben (Urteil vom 11. Februar 1993). Die Berufung des Beklagten hatte keinen Erfolg (Urteil des Hessischen Landessozialgerichts ≪LSG≫ vom 18. Juni 1994). Die Behinderungen rechtfertigten zwar eindeutig keinen GdB von 50. Der Kläger könne sich auch nicht auf Vertrauensschutz berufen. Der Herabsetzungsbescheid vom 2. Juli 1992 sei aber dennoch rechtswidrig, weil der Beklagte die nach § 45 Abs 1 des Zehnten Buches des Sozialgesetzbuches - Verwaltungsverfahren - (SGB X) vorgeschriebene Ermessensprüfung nicht vorgenommen habe. Eine konkrete Ermessensabwägung sei in diesem Fall notwendig gewesen, weil den Beklagten ein Verschulden an der überhöhten GdB-Festsetzung treffe. Er habe leichtfertig nur auf der Grundlage des Befundberichtes von Dr. L. entschieden, obwohl er sich wegen der Besonderheiten des Falles zu weiteren Ermittlungen hätte gedrängt fühlen müssen.
Der Beklagte hat mit der vom LSG zugelassenen Revision unter Hinweis auf Rechtsprechung des Senats (zuletzt: Urteil vom 23. Juni 1993 - 9/9a RVs 1/92 - HVBG-Info 1994, 726) eine Verletzung des § 45 Abs 1 SGB X gerügt. Das LSG habe nicht gesagt, welcher Gesichtspunkt bei der Ermessensentscheidung noch hätte berücksichtigt werden können, nachdem die Verantwortung der Verwaltung für die zunächst fehlerhafte GdB-Feststellung bereits im Rahmen der Vertrauensschutzprüfung dazu geführt hatte, den rechtswidrigen Bescheid nur mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Deshalb sei das Ermessen hier auf Null reduziert und der Herabsetzungsbescheid folglich auch ohne Ermessensprüfung rechtmäßig gewesen.
Der Beklagte beantragt,
das Urteil des Hessischen Landessozialgerichts vom 18. Januar 1994 und das Urteil des Sozialgerichts Wiesbaden vom 11. Februar 1993 aufzuheben und die Klage gegen den Bescheid des Versorgungsamtes Wiesbaden vom 2. Juli 1992 abzuweisen.
Der Kläger meint, der GdB sei mit 50 eher zu niedrig festgestellt. Im übrigen hält er die angegriffenen Urteile im Ergebnis für richtig.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt (§ 124 Abs 2 des Sozialgerichtsgesetzes ≪SGG≫).
Entscheidungsgründe
Die Revision des Beklagten ist begründet.
Das LSG hat zwar zutreffend die Rechtswidrigkeit des begünstigenden Bescheides vom 12. Juli 1990 festgestellt und ebenso zutreffend ein Rücknahmeverbot wegen Vertrauensschutzes nach § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X verneint. Das LSG durfte aber den angegriffenen Rücknahmebescheid vom 2. Juli 1992 nicht mit der Begründung aufheben, die in § 45 Abs 1 Satz 1 SGB X vorgeschriebene Ermessensentscheidung sei vom Beklagten nicht getroffen worden. Die vermißte Ermessensentscheidung konnte der Beklagte nicht treffen, weil es hier keine Gesichtspunkte gibt, die für das Ermessen Bedeutung haben könnten.
Wenn im Anschluß an die nach § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X gebotene Abwägung des öffentlichen Interesses an einer Rücknahme mit dem Interesse des Begünstigten am Fortbestand des Verwaltungsaktes aus den tatsächlichen Feststellungen keine Gesichtspunkte verbleiben, die für das Ermessen Bedeutung haben könnten, so kann von der Verwaltung nicht gefordert werden, was auch kein Gericht leisten könnte: eine Ermessensabwägung ohne dafür geeignete Gesichtspunkte. In einem solchen Fall ist das Ermessen auf Null reduziert (BSGE 60, 147, 150 f = SozR 1300 § 45 Nr 24; SozR 1300 § 45 Nr 46; BSGE 67, 232, 234 = SozR 3-4100 § 155 Nr 2). Der Senat hat diese Rechtsprechung zuletzt mit dem von dem Beklagten zitierten Urteil vom 23. Juni 1993 (aaO) bestätigt. Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung hat er in einer Entscheidung vom 10. August 1993 eine Ermessensschrumpfung auf Null für den Fall verneint, daß der durch eine Überzahlung rechtswidrig Begünstigte für das Verschulden eines Dritten an dieser Überzahlung einzustehen hat, so daß ihn fehlendes eigenes Verschulden bei der rechtlichen Interessenabwägung nicht entlastet. Das fehlende Eigenverschulden ist im Rahmen einer dann erforderlichen Ermessensentscheidung zu berücksichtigen (BSG SozR 3-1300 § 45 Nr 18).
Ein solcher Ausnahmefall liegt hier nicht vor.
Das LSG nennt als einzigen bei einer Ermessensentscheidung zu würdigenden Gesichtspunkt den des Verschuldens der Verwaltung am Zustandekommen des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsaktes. Dem Beklagten hätte hier auffallen müssen, daß in dem Befundbericht des praktischen Arztes Dr. L. Befundbeschreibung und Bezeichnung der daraus folgenden Gesundheitsstörungen in erheblichem Maße voneinander abwichen. Unter diesen Umständen hätte der Beklagte die von Dr. L. getroffenen Feststellungen nicht zur alleinigen Grundlage seiner Entscheidung machen dürfen. Er hätte von Amts wegen den Sachverhalt weiter aufklären müssen.
Damit ist kein Gesichtspunkt aufgezeigt, der allein im Ermessenswege berücksichtigt werden könnte. Die Verantwortungszuweisung geht bereits in die - gerichtlich voll überprüfbare - Interessenabwägung nach § 45 Abs 2 Satz 1 SGB X ein (BSG SozR 1300 § 45 Nr 46; BSGE 59, 206, 208 = SozR 1300 § 45 Nr 20). Dort hat der Beklagte wegen der vom Kläger unverschuldeten Fehlentscheidung Vertrauensschutz zu Recht nur für die Zeit vor Rücknahme zugebilligt. Es spricht nämlich nichts dafür, ein etwaiges Vertrauen eines Gesunden oder nur unerheblich Behinderten in die Richtigkeit des Verwaltungsaktes über diesen Zeitpunkt hinaus als schutzwürdig anzusehen und ihm die mit einem GdB von 50 (Eigenschaft als Schwerbehinderter) verbundenen Vorteile auch dann für die Zukunft zu belassen, wenn tatsächlich nur ein GdB von 20 besteht.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Fundstellen