Entscheidungsstichwort (Thema)
Sozialgerichtliches Verfahren. Verfahrensfehler. Entscheidung durch den konsentierten Einzelrichter. Revisionszulassung aufgrund grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache. gesetzlicher Richter. absoluter Revisionsgrund. Zurückverweisung
Orientierungssatz
1. Hat das Landessozialgericht im Einverständnis mit den Beteiligten durch den Berichterstatter als Einzelrichter (sog konsentierter Einzelrichter) entschieden und die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen, stellt dies eine Verletzung des Rechts auf Entscheidung durch den gesetzlichen Richter (Art 101 Abs 1 S 2 GG) dar.
2. In der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts liegt ein Verfahrensmangel, der im Revisionsverfahren als absoluter Revisionsgrund ohne Rüge von Amts wegen zu beachten ist (vgl BSG vom 31.8.2011 - GS 2/10 = BSGE 109, 81 = SozR 4-1200 § 52 Nr 4, RdNr 7; vom 7.8.2014 - B 13 R 37/13 R = juris RdNr 12 ff; vom 29.1.2019 - B 2 U 5/18 R = juris RdNr 11 ff und vom 1.6.2022 - B 3 KS 1/21 R = juris RdNr 9 ff).
3. Eine Entscheidung in der Sache trotz Vorliegens eines absoluten Revisionsgrunds kommt nur dann in Betracht, wenn auf der Grundlage eines in tatsächlicher Hinsicht geklärten und nicht umstrittenen Sachverhalts in rechtlicher Hinsicht nach den konkreten Gegebenheiten des Einzelfalles nur in einer ganz bestimmten Weise entschieden werden kann, weil unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt eine andere Entscheidung denkbar ist (vgl BSG vom 7.8.2014 - B 13 R 37/13 R = juris RdNr 19 mwN).
Normenkette
SGG § 33 Abs. 1 S. 1, § 155 Abs. 3-4, § 160 Abs. 2 Nr. 1, § 170 Abs. 1 S. 2, Abs. 2 S. 2, § 202 S. 1; ZPO § 547 Nr. 1; GG Art. 101 Abs. 1 S. 2
Verfahrensgang
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Landessozialgerichts Hamburg vom 3. September 2020 aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Landessozialgericht zurückverwiesen.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten über das Bestehen von Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) während einer stufenweisen Wiedereingliederung.
Der Kläger ist seit 1990 als Beschäftigter wegen Überschreitens der Jahresarbeitsentgeltgrenze (JAEG) in der GKV versicherungsfrei und privat krankenversichert. Nach einem im September 2013 erlittenen ischämischen Stammganglieninfarkt wurde er arbeitsunfähig. Vom 1.4.2015 bis zum 4.10.2016 durchlief er bei seiner Arbeitgeberin eine stufenweise Wiedereingliederung. In dieser Zeit zahlte die Arbeitgeberin monatlich 2440 Euro brutto an ihn. Den Antrag des Klägers, wegen Unterschreitens der JAEG die Versicherungspflicht in der GKV festzustellen (Schreiben vom 22.1.2016), lehnte die Beklagte ab (Bescheid vom 12.2.2016 in der Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 6.10.2016).
Die dagegen gerichtete Klage hat das SG abgewiesen (Urteil vom 19.8.2019). Das LSG hat die Berufung des Klägers mit Einverständnis der Beteiligten durch den Berichterstatter als Einzelrichter zurückgewiesen und die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (Urteil vom 3.9.2020).
Mit der Revision rügt der Kläger sinngemäß die Verletzung von § 5 Abs 1 Nr 1 SGB V.
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Der Kläger beantragt nach seinem schriftlichen Vorbringen sinngemäß, |
die Urteile des Landessozialgerichts Hamburg vom 3. September 2020 sowie des Sozialgerichts Hamburg vom 19. August 2019 und den Bescheid der Beklagten vom 12. Februar 2016 in der Fassung des Widerspruchsbescheids vom 6. Oktober 2016 aufzuheben sowie festzustellen, dass er der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung unterlag. |
Die Beklagte beantragt,
die Revision des Klägers zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Revision des Klägers ist im Sinne der Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Sache an das LSG begründet (§ 170 Abs 2 Satz 2 SGG). Das Urteil des LSG ist bereits deshalb aufzuheben, weil es an dem von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensmangel der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Berufungsgerichts leidet.
Das LSG hat vorliegend im Einverständnis mit den Beteiligten durch den Berichterstatter als Einzelrichter entschieden (§ 155 Abs 3, 4 SGG; sog konsentierter Einzelrichter) und die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen (§ 160 Abs 2 Nr 1 SGG). Nach ständiger Rechtsprechung des BSG stellt dies regelmäßig eine Verletzung des Rechts auf Entscheidung durch den gesetzlichen Richter (Art 101 Abs 1 Satz 2 GG) dar. Denn die Entscheidung von Rechtssachen, denen das LSG grundsätzliche Bedeutung beimisst, ist grundsätzlich dem LSG-Senat in seiner vollen Besetzung einschließlich der ehrenamtlichen Richter (§ 33 Abs 1 Satz 1 SGG in der Fassung des Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vom 24.11.2011, BGBl I 2302) vorbehalten. In der nicht vorschriftsmäßigen Besetzung des Gerichts liegt ein Verfahrensmangel, der im Revisionsverfahren als absoluter Revisionsgrund (§ 202 Satz 1 SGG iVm § 547 Nr 1 ZPO) ohne Rüge von Amts wegen zu beachten ist (vgl zum Ganzen BSG Beschluss vom 31.8.2011 - GS 2/10 - BSGE 109, 81 = SozR 4-1200 § 52 Nr 4, RdNr 7; BSG Urteil vom 7.8.2014 - B 13 R 37/13 R - juris RdNr 12 ff; BSG Urteil vom 29.1.2019 - B 2 U 5/18 R - juris RdNr 11 ff; BSG Urteil vom 1.6.2022 - B 3 KS 1/21 R - juris RdNr 9 ff).
Ein in der Rechtsprechung anerkannter Ausnahmefall, der die Entscheidung allein durch den Berichterstatter als Einzelrichter rechtfertigen könnte, ist nicht ersichtlich. Die Beteiligten haben ihr Einverständnis mit einer Entscheidung durch den Einzelrichter nicht in Kenntnis der beabsichtigten Zulassung der Revision erklärt. Das angefochtene Urteil bezieht sich auch nicht auf eine bereits vorhandene, verfahrensfehlerfrei in vollständiger Senatsbesetzung getroffene parallele Leitentscheidung des LSG unter Zulassung der Revision oder auf bereits beim BSG anhängige Parallelfälle (vgl zu den anerkannten Ausnahmefällen BSG Urteil vom 7.8.2014 - B 13 R 37/13 R - juris RdNr 17 sowie BSG Urteil vom 29.1.2019 - B 2 U 5/18 R - juris RdNr 18, jeweils mwN).
Eine Entscheidung in der Sache trotz Vorliegens eines absoluten Revisionsgrunds ist dem Senat verwehrt. Dies kommt nur dann in Betracht, wenn auf der Grundlage eines in tatsächlicher Hinsicht geklärten und nicht umstrittenen Sachverhalts in rechtlicher Hinsicht nach den konkreten Gegebenheiten des Einzelfalles nur in einer ganz bestimmten Weise entschieden werden kann, weil unter keinem rechtlichen Gesichtspunkt eine andere Entscheidung denkbar ist (vgl § 170 Abs 1 Satz 2 SGG; s hierzu BSG Urteil vom 7.8.2014 - B 13 R 37/13 R - juris RdNr 19 mwN). Dies gilt zB dann, wenn die auch durch das Revisionsgericht von Amts wegen zu prüfenden und festzustellenden Sachurteilsvoraussetzungen nicht gegeben sind, sodass die Klage in jedem Fall abgewiesen werden müsste (vgl BSG Urteil vom 6.9.2018 - B 2 U 3/17 R - juris RdNr 22).
Dafür gibt es keine Anhaltspunkte. Eine andere als die vom LSG getroffene Entscheidung ist schon deshalb denkbar, weil der Rechtsstreit eine bisher höchstrichterlich noch nicht geklärte Rechtsfrage aufwirft (vgl zur Frage der sozialversicherungsrechtlichen Auswirkungen eines während einer stufenweisen Wiedereingliederung gezahlten Entgelts Matthäus in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB V, § 74 RdNr 20 ff, Stand 20.7.2021; Wendtland in BeckOK-SGB V, § 74 RdNr 7 ff, Stand 1.12.2022; Sichert in Becker/Kingreen, SGB V, 8. Aufl 2022, § 74 RdNr 26).
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Das LSG wird auch über die Kosten des Revisionsverfahrens zu entscheiden haben. |
Heinz |
Padé |
Waßer |
Fundstellen