Verfahrensgang

LSG Nordrhein-Westfalen (Urteil vom 15.07.1993)

SG Köln (Urteil vom 04.11.1991)

 

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. Juli 1993 aufgehoben. Die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 4. November 1991 wird zurück-gewiesen.

Kosten sind nicht zu erstatten.

 

Tatbestand

I

Der klagende Landschaftsverband macht als nachrangig verpflichteter Sozialhilfeträger einen Erstattungsanspruch nach § 104 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (SGB X) gegen die beklagte Krankenkasse (KK) geltend wegen der Übernahme der Kosten für ein Brillengestell unter Hinweis auf deren Leistungspflicht nach § 33 Abs 1 Satz 1 Fünftes Buch Sozialgesetzbuch (SGB V).

Die bei der beklagten KK versicherte Beigeladene ist mehrfach geistig und körperlich behindert. Als Folge dieser Behinderung ist sie nicht in der Lage, den Kopf aufrecht und ruhig zu halten. Der sie behandelnde Augenarzt verordnete ihr eine Brille mit zwei neuen Gläsern aus Kunststoff sowie einer neuen Brillenfassung mit Federbügeln „wegen geistiger und Körperbehinderung”. Zu den Kosten des Brillengestells in Höhe von 80,00 DM leistete die Beklagte lediglich einen Zuschuß in Höhe von 20,00 DM. Den Differenzbetrag in Höhe von 60,00 DM zahlte der Kläger an den Optiker. Die Erstattungsforderung des Klägers hielt die Beklagte für unbegründet.

Das Sozialgericht (SG) hat die Klage abgewiesen (Urteil vom 4. November 1991). Es sah die Begrenzung des Zuschusses für Brillengestelle in § 33 Abs 4 Satz 1 SGB V auf 20,00 DM auch dann als verbindlich an, wenn ein Versicherter behinderungsbedingt zwar eine besondere Ausführung benötigt, diese aber aus der breiten Angebotspalette serienmäßig gefertigter Sehhilfen auswählen kann. Das Landessozialgericht (LSG) hat die Beklagte verurteilt, an den Kläger 60,00 DM zu zahlen (Urteil vom 15. Juli 1993). Die Begrenzung des Zuschusses auf 20,00 DM in § 33 Abs 4 Satz 1 SGB V greife nur bei normalen Brillengestellen ein. Zwar unterfalle die von der Beigeladenen benötigte Brille mit Federbügeln, soweit sie als sog Sportbrille von Versicherten zur Ausübung einer sportlichen Betätigung verwendet werde, ebenfalls der Zuschußregelung. Benötige ein Versicherter eine solche Brille jedoch, weil er wegen weiterer Behinderungen die Einschränkung seiner Sehfähigkeit im üblichen Lebensalltag nicht durch Benutzung eines normalen Brillengestells ohne Zusatzausstattung korrigieren könne, so müsse ihm die KK das besonders ausgestattete Brillengestell als Hilfsmittel zur Verfügung stellen. Hierbei komme es nicht darauf an, ob es sich um eine Sonderanfertigung oder um ein handelsübliches Brillengestell handele.

Mit der vom LSG zugelassenen Revision rügt die Beklagte eine Verletzung von § 33 SGB V. Sie hält insbesondere die Begrenzung des Anwendungsbereichs von § 33 Abs 4 Satz 1 SGB V auf „normale” Brillengestelle für unzutreffend. Der Anspruch auf Versorgung mit einer Sehhilfe als Hilfsmittel könne nicht schon aus § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V abgeleitet werden. Inhalt und Umfang des Anspruchs auf Hilfsmittelversorgung ergäben sich ausschließlich aus den § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V nachfolgenden Regelungen. § 33 Abs 4 Satz 1 SGB V erfasse deshalb alle Brillengestelle und sei insoweit eine abschließende Sonderregelung. Ob § 33 Abs 4 Satz 1 SGB V auch auf Sonderanfertigungen Anwendung finde, die wegen der Art der Behinderung der individuellen Herstellung bedürfen, könne hier dahinstehen, da der Beigeladenen ein Brillengestell verordnet worden sei, bei dem es sich trotz seiner Zusatzausstattung um eine konfektionierte Brillenfassung han-dele.

Die Beklagte beantragt,

das Urteil des Landessozialgerichts Nordrhein-Westfalen vom 15. Juli 1993 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Sozialgerichts Köln vom 4. November 1991 zurückzuweisen.

Der Kläger beantragt,

die Revision der Beklagten zurückzuweisen.

Er hält das angefochtene Urteil für zutreffend.

Die Beigeladene hat sich im Verfahren nicht geäußert und war im Revisionsverfahren nicht vertreten.

 

Entscheidungsgründe

II

Auf die Revision der Beklagten war das Urteil des LSG aufzuheben und das klagabweisende Urteil des SG wiederherzustellen.

Dem Kläger steht gegenüber der Beklagten ein Erstattungsanspruch nicht zu. Die Beklagte war gemäß § 33 Abs 1 Satz 1 SGB V nicht verpflichtet, die Beigeladene mit einem Brillengestell mit Sonderausstattung (Brille mit Federbügeln) auszustatten. Die Beigeladene hatte lediglich einen Anspruch auf Gewährung eines Zuschusses in Höhe von 20,00 DM gemäß § 33 Abs 4 Satz 1 SGB V, der von der Beklagten erfüllt worden ist.

§ 33 Abs 4 Satz 1 SGB V begrenzt die Leistungspflicht der KK bei allen Brillengestellen auf einen Zuschuß von höchstens 20,00 DM, soweit nicht geringere Festbeträge nach § 36 SGB V festgesetzt sind, was nicht der Fall ist.

Das Gesetz sieht eine Ausnahme für Fälle, in denen das Brillengestell wegen einer zusätzlichen Behinderung oder Gesundheitsstörung mit einer Sonderausstattung versehen sein muß, nicht vor. Dies gilt nicht nur für solche Brillengestelle, die – wie etwa Kinder- und Sportbrillen – serienmäßig angefertigt werden, sondern auch für Sonderanfertigungen, wie vom Senat mit Urteil vom 14. September 1994 (3/1 RK 36/93, zur Veröffentlichung vorgesehen) entschieden.

§ 33 Abs 4 Satz 1 SGB V erfaßt schon nach seinem Wortlaut alle Brillengestelle und damit auch diejenigen Brillengestellarten, die mit Rücksicht auf Besonderheiten oder den konkreten Verwendungszweck sprachlich als besondere Unterarten bezeichnet werden, zB als Kinderbrille oder als Sportbrille. Die Vorschrift greift damit nach ihrem Wortlaut auch dann ein, wenn ein Sehbehinderter ein spezielles Brillengestell, wie zB eine Sportbrille, aus von seinem Willen unabhängigen Gründen benötigt, etwa im Rahmen der allgemeinen Schulpflicht für den Turnunterricht oder – wie hier – wegen einer weiteren Behinderung. Vom Anwendungsbereich der Vorschrift nicht erfaßt werden allenfalls solche Konstruktionen von Sehhilfen, auf die der Begriff Brillengestell nicht zutrifft. Hierzu zählen Geräte iS einer Gesichtsplastik oder Gesichtsprothese, mit denen zugleich andere Defekte im Bereich des Kopfes versorgt werden. Zu dieser Kategorie gehört die der Beigeladenen verordnete Sportbrille nicht.

Für eine einengende Auslegung des Begriffs „Brillengestell” in dem Sinne, daß es sich nur um Gestelle von Normalbrillen handelt, die auf dem Markt zu Preisen bis zu 20,00 DM angeboten werden, gibt der erkennbare Wille des Gesetzgebers, wie er in den Gesetzesmaterialien, in der Entwicklung der Vorschrift und im Regelungszusammenhang zum Ausdruck kommt, keinen Anhaltspunkt.

Der Entwurf zum Gesundheitsreformgesetz (GRG) enthielt noch keine spezielle Festbetrags- oder Zuschußregelung für Brillengestelle (BT-Drucks 11/2237, S 174 f). Die Einführung der Zuschußregelung wurde im Gesetzgebungsverfahren durch den Ausschuß für Arbeit und Sozialpolitik veranlaßt (BT-Drucks 11/3120, dort § 33 Abs 5). Eine nähere Begründung wurde nicht abgegeben (BT-Drucks 11/3480, S 52 und S 33). Ein von Mitgliedern des Bundesrates gestellter Antrag, von einer solchen Regelung abzusehen, weil diese Einschränkung unter sozialen Gesichtspunkten nicht zu rechtfertigen sei (BR-Drucks 595/6/88), wurde nicht aufgegriffen. Das Gesetzgebungsverfahren läßt danach nicht erkennen, ob der Gesetzgeber bewußt für die Zuschußregelung eine Formulierung gewählt hat, die nicht nur „normale” Brillengestelle, sondern auch behinderungsbedingte Sonderausstattungen der Zuschußregelung unterwirft. Demgegenüber wurde zu den Festbeträgen für Hilfsmittel ausdrücklich hervorgehoben, daß diese nicht für Sonderanfertigungen vorgesehen seien (BT-Drucks 11/3480 S 26).

Im übrigen sprechen Entwicklung und Regelungszusammenhang nicht gegen, sondern im Gegenteil für die nach dem Wortlaut gebotene Einbeziehung aller Brillengestelle einschließlich der behinderungsbedingten Sonderausstattungen. Das Ziel des GRG, die Kosten nach Möglichkeit zu senken und dauerhaft zu stabilisieren, wurde in der Beschlußempfehlung des Ausschusses als Anliegen aller Fraktionen besonders herausgestellt (BT-Drucks 11/3320 Seite II). Auch die für Brillen getroffene Neuregelung dient diesem Ziel.

Vor dem GRG war die Leistungspflicht der KK bei Sehhilfen nach § 182 Abs 1 Nr 1b Reichsversicherungsordnung (RVO) nur durch die grundsätzliche Beschränkung des Anspruchs auf Krankenpflege nach dem Maß des Notwendigen begrenzt (vgl BSG SozR 2200 § 182 Nr 93). Aufgrund von Verträgen der Spitzenverbände der KKn mit dem Zentralverband der Augenoptiker wurden den Versicherten bestimmte Brillengestelle – gegen Entrichtung einer Verordnungsblattgebühr (für Sehhilfen eingeführt durch das Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz ≪KVEG≫ vom 22. Dezember 1981, BGBl I 1578) – kostenfrei zur Verfügung gestellt. Wählte der Versicherte eine aufwendigere Ausführung, ohne daß diese ärztlich verordnet war, so hatte er die Kostendifferenz zwischen dem notwendigen und dem aufwendigeren Brillengestell selbst zu tragen (zur Zulässigkeit dieses Verfahrens vgl BSG SozR 2200 § 182 Nr 93).

Das KVEG führte mit § 182g RVO für Brillen eine zeitliche Beschränkung der Ersatzbeschaffung und mit § 182a Buchst c RVO eine Verordungsblattgebühr ein. Nach § 182g RVO bestand der Anspruch auf Versorgung mit Brillen für Versicherte, die das 14. Lebensjahr vollendet hatten, bei gleichbleibender Sehfähigkeit nur, wenn seit dem Tag der letzten Brillenlieferung mindestens drei Jahre vergangen waren. Diese Mindestgebrauchszeit sollte einer unnötigen Ersatzbeschaffung, etwa der Neuanschaffung eines Brillengestells aus modischen oder kosmetischen Gründen, entgegenwirken. Sie stand einem Anspruch auf Ersatzbeschaffung bei Verlust oder Zerstörung allerdings nur entgegen, wenn die Brille wegen eines vorsätzlichen oder grob fahrlässigen Verhaltens des Versicherten zerstört worden war (BSGE 62, 85, 89 f). Schon der Gesetzesentwurf des GRG sah zur Mindestgebrauchszeit die Einschränkung vor, daß diese auch dann eingreife, wenn der Verlust oder die Beschädigung der Sehhilfe nicht verschuldet wurde (BT-Drucks 11/2237 S 174 zu Absatz 5). Nach der Gesetzesfassung entsteht, wie im Ausschußbericht hervorgehoben (BT-Drucks 11/3480 S 33), ein erneuter Anspruch auf eine Sehhilfe bei Versicherten, die das 14. Lebensjahr vollendet haben, nicht mehr alle drei Jahre, sondern nur bei einer erheblichen Änderung der Sehfähigkeit. Das gilt auch für den unverschuldeten Verlust oder eine unverschuldete Beschädigung der Sehhilfe. Die Beschränkung auf den Zuschuß von 20,00 DM sollte in Verbindung mit der Einschränkung des Anspruchs auf erneute Versorgung zu Einsparungen von rd 200 Mio DM führen (BT-Drucks aaO).

Der Gesetzgeber hat auch bewußt in Kauf genommen, daß die Zuschußregelung nicht einmal die im allgemeinen nötigen Kosten ausgleicht. Die Zuschußregelung gewinnt nämlich nur Bedeutung, wenn der Festbetrag nach Maßgabe der im allgemeinen nötigen Kosten auf mehr als 20,00 DM festzusetzen wäre.

Die Höhe des Zuschusses von 20,00 DM hängt von der Bedingung ab, daß kein geringerer Festbetrag gem § 36 SGB V festgesetzt ist (§ 33 Abs 4 Satz 1, 2. Halbs SGB V). Der Zuschuß zu den Kosten des Brillengestells ist gleichsam als gesetzlich festgelegter Höchst-Festbetrag anzusehen, der durch Festsetzungen der Landesverbände der KKn und der Verbände der Ersatzkassen gemäß § 36 Abs 2 SGB V nur unterschritten werden darf. Die Festbeträge sind so festzusetzen, daß sie im allgemeinen eine ausreichende Versorgung gewährleisten (§ 36 Abs 3 iVm § 35 Abs 5 Satz 1 SGB V).

Sofern im Einzelfall Konfektionsgestelle mit besonderen Zusätzen versehen sind, wie dies etwa bei Sportbrillen der Fall ist, dürfte der Zuschuß von 20,00 DM regelmäßig nicht ausreichen, um die Kosten zu decken. Das rechtfertigt indes keine Ausnahme von der Zuschußregelung. Der Gesetzgeber hat bei Verabschiedung des GRG in Kauf genommen, daß in vielen Bereichen der Krankenversicherung (KV) nicht mehr alle notwendigen Leistungen voll vom Versicherungsträger übernommen werden, sondern der Versicherte die Kosten teilweise oder auch ganz selbst zu tragen hat.

Der Gesetzgeber hat nur dort, wo er dies für erforderlich hielt, Härteklauseln eingeführt. In § 61 SGB V hat er Versicherte von der Zuzahlung zu Arznei-, Verband- und Heilmitteln sowie zu stationären Vorsorge- und Rehabilitationsleistungen, von der Zuzahlung vom Zahnersatz und von den notwendigen Fahrkosten befreit, wenn die Versicherten eine bestimmte Einkommenshöhe nicht überschreiten, Fürsorge- oder bestimmte Förderungsleistungen beziehen oder auf Kosten eines Sozialhilfeträgers oder Kriegsopferfürsorgeträgers in einem Heim untergebracht sind. In § 62 SGB V hat er allgemein Versicherte von Zuzahlungen von Arznei-, Verband- und Heilmitteln sowie Fahrkosten befreit, soweit innerhalb eines Kalenderjahres bestimmte Belastungsgrenzen überschritten werden (zur Verfassungsmäßigkeit dieser Regelungen vgl BSG SozR 3-2500 § 61 Nr 3). Hilfsmittel hat er von der allgemeinen Härteklausel ausgenommen; das Fehlen ist aber keine unbeabsichtigte Regelungslücke. Für Hilfsmittel, insbesondere Brillen, hat der Gesetzgeber vielmehr eine eigenständige, abschließende Regelung vorgesehen. Zur erneuten Versorgung mit einer Sehhilfe hat der Gesetzgeber bewußt angeordnet, daß der Versicherte mit erforderlichen und unverschuldeten Kosten für ein Hilfsmittel belastet wird, ohne eine Überforderungsklausel vorzusehen. Das gilt für die mit der Zuschußregelung verbundenen Belastungen entsprechend.

Hieraus folgt zugleich, daß der Einwand des LSG nicht trägt, die Begrenzung der Leistungspflicht der KKn auf den Zuschuß beziehe sich deshalb nur auf „normale” Brillengestelle, weil nur sie auf dem Markt zu Preisen angeboten würden, die mit dem Zuschuß zu bezahlen seien. Den Gesetzesmaterialien läßt sich nicht entnehmen, daß vor der Festsetzung des Zuschusses geprüft worden ist, ob eine Versorgung der Versicherten mit Brillengestellen zu Preisen in Höhe des Zuschusses gewährleistet ist. Das LSG hat nur auf die tatsächliche Entwicklung des Marktes nach Einführung der Zuschußregelung abgestellt. Hieraus kann aber kein Rückschluß auf die Vorstellungen des Gesetzgebers bei der Einführung der Regelung gezogen werden.

Diese Regelung ist auch nicht verfassungswidrig. Ein verfassungsrechtlich gesicherter Anspruch gegen die KK auf alle als notwendig angesehenen Leistungen besteht nicht (vgl BVerfG SozR 2200 § 179 Nr 6). Durch die Beschränkung der Kostenerstattung auf höchstens 20,00 DM für Brillengestelle wird auch nicht die Eigentumsgarantie des Art 14 Grundgesetz (GG) verletzt. Es kann offenbleiben, inwieweit der KV-Schutz überhaupt unter die Eigentumsgarantie fällt. Die Leistungseinschränkung in einem bestimmten Bereich berührt den KV-Schutz nicht im Kern, sondern lediglich in seiner konkreten Ausgestaltung in einem Randbereich. Es handelt sich deshalb jedenfalls um eine nach Art 14 Abs 1 Satz 2 GG zulässige Bestimmung von Inhalt und Grenzen des Eigentums (vgl zum Ausschluß von Hörgerätebatterien Urteile des Senats vom 8. Juni 1994 – 3/1 RK 59/93 –, zur Veröffentlichung bestimmt und 3/1 RK 35/93 und hierzu BVerfG vom 25. Oktober 1994 – 1 BvR 1859/94 –).

Eine finanzielle Belastung von 60,00 DM wie hier mag als nicht geringfügig gewertet werden, zumal die Beigeladene sozialhilfebedürftig ist. Aus Art 14 GG kann aber auch im Zusammenhang mit dem Rechtsstaatsprinzip und dem Sozialstaatsprinzip nicht hergeleitet werden, daß der Gesetzgeber jede hart oder unbillig erscheinende Einzelauswirkung berücksichtigen müßte (vgl BVerfGE 26, 44, 61 f; 34, 118, 136 = SozR Nr 95 zu Art 3 GG; BVerfGE 36, 73, 84 = SozR Nr 96 zu Art 3 GG). Das Sozialstaatsprinzip ist jedenfalls dann gewahrt, wenn die im Einzelfall zur Führung eines menschenwürdigen Lebens erforderliche Leistung zur Verfügung gestellt wird, notfalls im Wege der Sozialhilfe.

Der allgemeine Gleichheitssatz des Art 3 Abs 1 GG ist nicht verletzt. Insbesondere ist die Schlußfolgerung verfehlt, der Gesetzgeber habe ohnehin nach dem Gleichheitssatz ärztlich verordnete Sonderanfertigungen von der allgemeinen Zuschußregelung ausnehmen müssen, und diese Ausnahme sei dann auf ärztlich verordnete Spezialbrillen auszudehnen.

Es lassen sich allerdings sachliche Gründe dafür anführen, Spezialbrillen und Sonderanfertigungen gleichzubehandeln. Die Unterscheidung, ob eine Brille, die nach ärztlicher Verordnung bestimmte von der Normalbrille abweichende Merkmale aufweisen muß, nach der Art ihrer Fertigung eine serienmäßig gefertigte Spezialbrille ist, oder eine im Einzelfall erfolgte Sonderanfertigung, besagt noch nichts über den im Hinblick auf die Zuschußregelung maßgebenden Beschaffungspreis. Der Begriff der Sonderanfertigung umfaßt sowohl den Tatbestand, daß das Brillengestell vollständig als Einzelstück gefertigt wird, als auch den, daß das Brillengestell durch eine mehr oder weniger umfangreiche Bearbeitung eines serienmäßigen Gestelles einer Normalbrille oder Spezialbrille hergestellt wird. Ein Erfahrungssatz, daß die Sonderanfertigung auf der Grundlage einer Normalbrille in der Mehrzahl der Fälle teurer ist als eine serienmäßige Spezialbrille, ist nicht gesichert. Damit ist eine Ungleichbehandlung von Sonderanfertigung und Spezialbrille in Ansehung des Gleichheitssatzes sogar bedenklich.

Das Gesetz hat sich dafür entschieden, die im Hinblick auf den angemessenen Preis für ein Normalbrillengestell entwickelte Zuschußregelung auf Sonderanfertigungen anzuwenden. Das ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden. Der Senat kann zugunsten der Revision unterstellen, daß sich die Zuschußregelung bei Sonderanfertigungen, zumal wenn sie wegen einer weiteren Behinderung notwendig sind, weitaus härter als bei Normalbrillen auswirkt, und daß auf der anderen Seite die mit der Zuschußregelung beabsichtigten Einsparungen nicht ernsthaft gefährdet werden, wenn nur bestimmte Sonderanfertigungen ausgenommen werden. Bei der Ordnung von massenhaft auftretenden Leistungsfällen der KV darf der Gesetzgeber zur Wahrung der Praktikabilität pauschalieren. Dies gilt gleichermaßen für Sonderanfertigungen und Spezialbrillen. Der Gesetzgeber durfte davon ausgehen, daß eine Herausnahme aller zwingend benötigten Spezialbrillen in Ansehung des Schulsports und der hierzu erforderlichen Sportbrille das Anliegen einer Kostenbegrenzung für den ganzen Bereich der Kinderbrillen in Frage stellen würde, zumal die Schulsportbrille auch für den Alltagsgebrauch tauglich ist.

Der Gesetzgeber war auch nicht gehalten, danach zu unterscheiden, ob die Spezialbrille (oder Sonderanfertigung) wegen einer weiteren Behinderung oder aus sonstigen Gründen zwingend notwendig ist. Insoweit kann unterstellt werden, daß die Erforderlichkeit aufgrund einer zweiten Behinderung selten ist und regelmäßig „sonstige Gründe” vorliegen, so daß eine Ausnahme nur für Fälle einer weiteren Behinderung den Einsparungserfolg nicht in Frage stellt. In beiden Vergleichsgruppen fällt die Brillenversorgung gleichermaßen in den Verantwortungsbereich der KV, und für den Versicherten ist die besondere Form der Ausstattung gleichermaßen unabweisbar. Dies ist ein hinreichender sachlicher Grund für die Gleichbehandlung.

Die Kostenentscheidung folgt für Kläger und Beklagte aus § 193 Abs 4 Sozialgerichtsgesetz (SGG), für die Beigeladene aus § 193 Abs 1 SGG. Die Kosten der Beigeladenen waren nicht zu erstatten, da deren Anspruch auf das Brillengestell als Sachleistung verneint wurde.

 

Fundstellen

Dokument-Index HI1173618

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